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Auf die Mitwissenden kommt es an!

Gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht das Werk einiger weniger in einem einzigen Moment. Der #MeToo-Bewegung gingen Generationen von Frauen voraus, die auf ihrer eigenen Erzählung bestanden. Eine war die famose Barock­malerin Artemisia Gentileschi.

Von Kia Vahland, 18.10.2022

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Einmal berichtete ein älterer deutscher Politiker der Liberalen, wie er einer Kollegin ein attraktives Jobangebot unter­breitet habe und sie natürlich, was denn sonst, in ebendieser Situation «angebaggert» habe. Leider sei nach einer Weile ihr gut gebauter Mann erschienen. Die Politikerin sagte nun, sie habe ihren Mann extra gebeten zu kommen, weil sie schon geahnt habe, was geschehen würde. Das habe sie damals lebens­klug gefunden, heute erschrecke sie, mit welcher Selbst­verständlichkeit sie sich abgesichert habe.

Das ganze Zwanghafte, auch Lustlose der alten Geschlechter­verhältnisse ist in dieser Episode enthalten. Die Frau darf nur aufsteigen, wenn sie zugleich auf ihren Platz verwiesen wird als potenzielle Trophäe. Sie manövriert sich dabei in eine aussichts­lose Lage, wenn sie nicht permanent auf der Hut ist, muss den Mann in höherer Position abweisen, ohne ihn vorzuführen. Die beiden hätten stattdessen auch einfach eine entspannte Zeit haben und gemeinsam Pläne schmieden können.

Der Politiker wundert sich nun, dass er mit der alten Geschichte heute für Aufregung sorgt. Was zeigt, wie viel sich geändert hat zwischen den Geschlechtern in den vergangenen fünf bis zehn Jahren. Ein Stück unbeschwerter, selbst­verständlicher, freundlicher sind die Dinge geworden. Einfacher. Für diejenigen jedenfalls, Frauen wie Männer, die die alten Spiele des Macht­missbrauchs nie mochten.

Im Oktober 2017 entstand der Hashtag #MeToo auf dem Kurz­nachrichten­dienst Twitter. Anlass waren die Verbrechen des amerikanischen Film­produzenten Harvey Weinstein gegenüber Frauen. Unter dem Hashtag berichteten zahlreiche Frauen und einige Männer von ihren unangenehmen bis traumatischen Erlebnissen und zeigten damit, wie selbst­verständlich auch in demokratischen Gesellschaften sexualisierte Gewalt und Misogynie lange waren: Der strukturelle Charakter dieser Grenz­überschreitungen wurde plötzlich deutlich.

Wie zuvor im deutsch­sprachigen Raum schon der Hashtag #aufschrei, so half nun die internationale #MeToo-Bewegung den vielen Betroffenen, weil sie nicht mehr allein waren und so ihre Scham und Schuld­gefühle verstehen und besten­falls ablegen konnten. Damit kollabierte der gesellschaftliche Konsens, wonach sexualisierte Übergriffe, solange es nicht zur beweisbaren Vergewaltigung kommt, ein Problem der Opfer, nicht aber der Täter seien. Und es kollabierte der uralte Glaube, wer viel Macht habe, dem gebühre auch viel Sex, ob einvernehmlich oder nicht.

Auch die Arbeits­kultur in westlichen Gesellschaften änderte sich mit #MeToo grundlegend, weil eine Erzählung, die nur eine Seite kannte, an ihr Ende gekommen war. Wer seither beim Jobinterview oder anderweitig gegenüber Abhängigen Druck ausübt und sexuelle Bedingungen andeutet, weiss, dass dies auffliegen kann und dann nicht mehr zu recht­fertigen ist. Und wer davon betroffen ist, kann sich nun inzwischen zwar nicht immer und überall, aber eher und immer öfter für den eigenen Stolz entscheiden statt für den Täter­schutz.

Dass dieser humanistische Erfolg – allen Wider­ständen zum Trotz – erst denkbar, dann möglich wurde, hat viel mit den Personen zu tun, die in einem Missbrauch gar nicht beteiligt sind: Zeugen, Kolleginnen und andere Aussen­stehende. Denn sie sind es, mit deren Wegschauen lange alle rechneten. Sie haben eine Kultur, in der Frauen herab­gewürdigt werden, erst möglich gemacht.

Eine sehr alte Geschichte erzählt davon, wie viel couragiertes Verhalten gegenüber angeblichen Autoritäten ausrichten kann. Die alttestamentarische «Susanna im Bade» zieht sich aus, um im Park ihres Mannes ein Bad zu nehmen. Zwei alte Richter haben sich eingeschlichen und bedrängen sie. Sie verweigert sich ihnen, daraufhin beschuldigen die beiden Alten sie aus Rache fälschlich des Ehebruchs mit einem Jüngling. Susanna wird zum Tode verurteilt, aber nach etwas himmlischer Nachhilfe schreitet ein Zuschauer, der junge Daniel, ein und besteht darauf, die Richter getrennt voneinander zu befragen, was sich angesichts von deren sozialem Status bis dahin niemand getraut hat. Sie verheddern sich in Wider­sprüche, ihre Lüge fliegt auf. Bestraft werden die Belästiger, nicht ihr Opfer.

Artemisia Gentileschi: «Susanna e i vecchioni» (Susanna und die alten Männer), 1610.

Die Malerei zeigt lieber die badende Susanna als den helfenden Daniel, auch deshalb, weil sich hier der Voyeurismus an sich verhandeln lässt: Sind nur die Richter Gaffer, oder sind es auch die Betrachter des Kunst­werks? Das ist eine interessante Frage. Es ist aber keine, die sich Susanna in diesem Moment stellen wird.

Die Künstlerin, die sich als erste wirklich mit den Gefühlen der Nackten beschäftigte, war die römische Barock­malerin Artemisia Gentileschi. Als sie die Szene im Jahr 1610 in famoser stilistischer Entschiedenheit malte, war sie 17 Jahre alt und arbeitete bei ihrem Vater Orazio, der sie ausgebildet hatte. Ihr mannshohes Gemälde (heute im Schloss Weissenstein im bayerischen Pommers­felden) verzichtet auf alles Drum­herum, den Teich, den Park. Susanna sitzt vor einer Brüstung. Obwohl der Himmel gewittrig ist, erscheint ihr blosser Körper hell erleuchtet, wie von einem Blitz. Sie muss sich winden, um den zwei Männern auszuweichen, die sich von oben über die Brüstung beugen und mit ihren breiten Ober­körpern ein gutes Drittel des Gemäldes einnehmen. Nebenbei gelingt es ihr so, auch eine Brust zu verbergen vor den Betrachtenden des Bildes.

Ekel steht Susanna ins Gesicht geschrieben. Die beiden Eindringlinge tuscheln miteinander, vielleicht spinnen sie schon ihre Intrige. Der eine bedeutet der Frau, zu schweigen, wohl fürchtet er, sie könne um Hilfe schreien. Im Verhältnis zu den Richtern ist Susannas Körper klein. Es ist eine physisch und sozial Unterlegene, die hier um ihren Selbst­erhalt ringt. Das Einverständnis, das die Täter ihr abpressen wollen, verweigert sie.

So verdichtet hat noch niemand den Schrecken gezeigt, der in dieser Nötigung liegt, und auch den inneren Wider­stand gegen diese. Mit der Brüstung markiert Gentileschi die Grenze, an der die Alten rütteln. Noch ist Susanna ihnen nicht vollends ausgeliefert, dies geschieht erst im Nach­hinein, als ihr Umfeld den Richtern glaubt und nicht ihr. Es braucht einen Aussen­stehenden, Daniel, der für Gerechtigkeit sorgt.

In der Bildlogik sind das wir. Die Betrachterinnen sind ja nicht nur Schaulustige, sie bezeugen auch ein Unrecht. Sie befinden sich bereits auf der richtigen Seite der Mauer, nun müssen sie nur noch handeln.

Als Gentileschi das Gemälde malte, arbeitete in der Werkstatt ihres Vaters ein mässig begabter Maler namens Agostino Tassi. Vielleicht wurde er ihr damals schon lästig. Wenig später, im März 1611, vergewaltigte er sie. Ihr Schweigen über die Tat erpresste er mit einem Heirats­versprechen. Daran mochte ihr womöglich wenig gelegen sein, doch sie hatte im Verständnis der Zeit als Vergewaltigte kaum noch andere Chancen auf dem Heirats­markt.

Tassi aber konnte gar nicht heiraten, er war schon verheiratet. Deshalb zog Orazio Gentileschi für seine Tochter vor Gericht. Der Prozess war demütigend, Artemisia wurde mit Daumen­schrauben gefoltert, um ihre Aussagen auf die Probe zu stellen, auch gynäkologischen Unter­suchungen musste sie zustimmen. Tassi wurde verurteilt und aus Rom verbannt, Artemisia fand bald doch einen besseren Ehemann.

Sie hatte Erfahrungen gemacht, die all ihren männlichen Kollegen fremd waren. Es gelang ihr, diese immer wieder machtvoll in Malerei zu übersetzen und gleichzeitig ihre Kunst davon nie erdrücken zu lassen. Das war im 17. Jahrhundert. Frauen vieler Generationen und Jahrhunderte haben ihre Stimmen erhoben, zum Pinsel oder zur Feder gegriffen, Zeugnis abgelegt. Gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht das Werk einiger weniger in einem einzigen Moment, er ist eine lange vorbereitete Gemeinschafts­leistung.

Illustration: Alex Solman

Zur Literatur

Jesse M. Locker: «Artemisia Gentileschi. The Language of Painting». Yale University Press, New Haven 2021. 248 Seiten, ca. 41 Franken.

Kia Vahland: «Schatten­künstler. Von Caravaggio bis Velázquez». Insel, Berlin 2021. 115 Seiten, ca. 18 Franken.

Carolin Emcke: «Ja heisst ja und …». S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019. 112 Seiten, ca. 19 Franken.

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