Die Fahnen wehen, die Flamme Mussolinis lodert – die Fratelli d’Italia sind die stärkste Partei im Land.

«Die italienische Politik ist geprägt von eigen­nützigen Narzissten»

Hundert Jahre nachdem die Faschisten die Macht übernahmen, wählt Italien die Erben des Faschismus in die Regierung. Der historische Bruch sei ein Warnzeichen für andere Demokratien, sagt Populismus­forscher Gregor Fitzi.

Ein Interview von Priscilla Imboden (Text), Jean-Marc Caimi und Valentina Piccinni (Bild), 30.09.2022

Synthetische Stimme
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Eine Siegerin und viele Verlierer – das ist das Resultat der Wahlen in Italien. Die post­faschistische Partei Fratelli d’Italia mit Giorgia Meloni an der Spitze profitiert davon, dass sie die letzten Jahre in der Opposition verbracht hat, und holt ein Viertel der Wähler­stimmen.

Verlierer sind Melonis Verbündete Silvio Berlusconi (ja, immer noch er!) mit seiner Partei Forza Italia und Matteo Salvini mit der Lega. Vor allem aber haben die Parteien in der Mitte und links verloren. Und schliesslich steht auch die Siegerin der letzten Wahlen diesmal auf der Verlierer­seite: Die 5-Sterne-Bewegung, die den Sturz der Regierung eingeleitet hatte, holte gerade noch halb so viele Stimmen wie vor vier Jahren.

Was bedeutet dieses Ergebnis für Italien, den Feminismus, Europa? Ein Anruf bei Populismus­forscher Gregor Fitzi.

Zur Person

Gregor Fitzi ist Soziologe an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Er forscht zu Populismus und zur Krise der normativen Integration komplexer Gesellschaften. Der Schweizer lebt in Florenz und befasst sich intensiv mit der Politik Italiens. Fitzi ist Mit­herausgeber einer Publikations­reihe über den Populismus und die Krise der Demokratien.

Herr Fitzi, die post­faschistischen Fratelli d’Italia holten vor vier Jahren nur 4 Prozent der Stimmen und jetzt plötzlich 26 Prozent. Wer hat diese Partei gewählt?
Dazu wird man in den nächsten Wochen eine vertiefte Analyse der Wahl­bewegung machen müssen. Was man aber jetzt schon sieht, ist Folgendes: Ein bedeutender Teil der Mittel­schicht in Italien ist stark verunsichert. Branchen, die in Italien traditionell verankert sind, wie etwa die Textil­industrie, sind durch die Globalisierung in eine grosse Krise geraten. Diese Gesellschafts­schichten haben von Parteien wie der Lega erwartet, dass sie sie schützt. Sie wurden enttäuscht. Diese Wählerschaft, die politisch eher konservativ ist, hat sich der Partei von Giorgia Meloni zugewandt. Denn die stand als einzige in der Opposition zur Regierung von Minister­präsident Mario Draghi und signalisierte: «Wir bieten einen Schutzwall für eure Interessen und kämpfen gegen ausländische Firmen und das Diktat aus Brüssel.»

Giorgia Meloni hat sich im Wahl­kampf vom faschistischen Erbe ihrer Partei distanziert. Sie hat sich zur Demokratie bekannt und die Verbrechen des italienischen Faschismus verurteilt. Wie glaubwürdig ist das?
Sie hat sich distanziert, aber gleichzeitig nicht restlos losgesagt von der faschistischen Vergangenheit ihrer Partei, indem sie etwa den Sarg Mussolinis mit der faschistischen Trikolore im Parteilogo behielt. Die Frage ist, inwieweit es eine Taktik war, um für moderatere Schichten wählbar zu werden, und inwiefern es umgekehrt auch Taktik war, um mit diesen Symbolen andere Wähler­gruppen, die nostalgisch an Mussolini zurück­denken, im Boot zu halten. Nun wird sich weisen, wo sie wirklich steht.

Wie stabil wird die Meloni-Regierung sein? Werden ihre beiden Koalitions­partner Matteo Salvini und Silvio Berlusconi in die zweite Reihe zurück­treten und sie regieren lassen?
Natürlich nicht. Das ist das grosse Problem von Giorgia Meloni. Die Wahlen brachten mehrere Verlierer hervor. Zu den Verlierern gehört Matteo Salvini. Er übernahm in der Lega Nord das Zepter, als die Partei sich im Tief befand. Er wollte aus der sezessionistischen Lega Nord eine Partei für ganz Italien machen.

Damit ist er gescheitert.
Ja, er ist gescheitert. Deswegen gibt es momentan einen riesigen Konflikt innerhalb der Lega, das strahlt natürlich auch auf die zukünftige Regierung Meloni aus. Jetzt wird es einen riesigen Kampf darum geben, wer welche Posten bekommt. Auch Berlusconis Forza Italia wird Ansprüche anmelden. Die nächsten Monate werden ausserdem nicht einfach, weil Krieg herrscht, Inflation, die Energie­kosten steigen und es bahnt sich eine Rezession an. Das alles wird unweigerlich zu grossen Konflikten innerhalb der Regierung führen, nicht zuletzt auch bezüglich der Sanktionen gegenüber Russland.

Giorgia Meloni pflegt im Gegensatz zu den meisten anderen rechts­populistischen Parteien West­europas keine Freundschaft oder Affinitäten zu Wladimir Putin. Sie hat den russischen Angriffs­krieg verurteilt und begrüsst Waffen­lieferungen an die Ukraine. Wird sie diesen Kurs halten können?
So wie es aussieht, ja. Sie hat sich dezidiert als Atlantikerin positioniert und darauf beharrt, dass ihre Regierung diesen Kurs weiter­verfolgen wird. Ich glaube, auch aus strategischen Gründen. Denn viele Wählerinnen in Italien mögen es nicht, wenn man Russland unterstützt. Zudem sandte Meloni damit auch ein Signal an die Nato und die USA: Ich bin glaubwürdig als zukünftige Staats­chefin. Ihre Positionierung steht aber in diametralem Gegensatz zu allem, was Salvini und Berlusconi zu diesem Thema gesagt haben, auch in den letzten Tagen vor der Wahl. Das könnte ein möglicher Grund sein, warum diese Regierung auf Dauer nicht zusammen­halten wird.

So wie es aussieht, wird Giorgia Meloni die erste Frau an der Spitze der italienischen Regierung sein. Feministinnen sind aber nicht sehr begeistert, denn die Fratelli weisen den Frauen eine traditionelle Rolle im Haushalt zu. Was bedeutet diese Wahl für die Gleich­stellung von Mann und Frau in Italien?
Elly Schlein, eine weit links stehende Politikerin des sozial­demokratischen Partito Democratico, hat gesagt: «Eine Frau, die regiert, ist nicht das gleiche wie eine feministische Regierung.» Es sollte zu denken geben, dass die post­faschistische Partei die einzige Partei in Italien ist, die eine Vorsitzende hat – die anderen haben das nie geschafft. Im Partito Democratico musste Partei­chef Enrico Letta sogar per Dekret durchsetzen, dass jeweils mindestens zwei Frauen in der Partei­spitze vertreten sind. Das ist ein grosses Problem in der italienischen Politik.

Wieso eigentlich? Italien hatte ja bereits in den 1970er-Jahren eine sehr aktive, erfolgreiche feministische Bewegung.
Diese Bewegungen, mit ihren Werten und äusserst fortschrittlichen Vorstellungen, haben sich in Italien nicht auf Dauer halten können. Die Mainstream­kultur, die sich durchgesetzt hat, auch befördert durch die Fernseh­stationen Silvio Berlusconis, ist eine, die den Frauen bestimmte Rollen zuspricht. Nicht nur in der Küche, auch als reine Dekoration der männlichen Macht. Es gibt extrem traditionelle Strukturen in der italienischen Politik, und das gilt sowohl in rechten als auch in linken Kreisen. Man muss sich an männliche Macht­figuren stark andienen, um überhaupt weiter­zukommen. Das macht es für Frauen schwierig, an die Spitze zu kommen. Nun kommt eine Frau an die Macht, die es geschafft hat, sich durchzusetzen in ihrer Partei. Diese Partei propagiert aber ein Gesellschafts­bild, das alles andere als feministisch ist.

Meloni sagte im Wahlkampf, sie sei keine Feministin, ihre Partei stelle aber das Gesetz, das die Abtreibung legalisiert, nicht infrage. Ist das glaubwürdig?
Sie hat das gesagt, aber sie hat hinzugefügt: Ich will vor allem das Recht der Frauen, nicht abzutreiben, schützen. Und damit meint sie Massnahmen, wie sie jetzt in Ungarn eingeführt werden: alle möglichen Beratungen, um Frauen zu überzeugen, dass sie doch nicht abtreiben sollen. Das beinhaltet Unterstützung, wenn kein Vater da ist. Frauen werden aber auch psychisch unter Druck gesetzt, zum Beispiel dadurch, dass sie dem Herzschlag des Fötus zuhören müssen. In der Region Marken, die von Melonis Partei regiert wird, ist das schon längst umgesetzt. Die Prozedur wird zudem häufig systematisch verlangsamt, die nötigen Dokumente verzögert, bis die Zeit­spanne der 90 Tage verstrichen ist, in der Abtreibungen legal sind. Solche Dinge passieren laufend dort, wo die Partei Fratelli d’Italia regiert. Meloni ist schlau genug, um nicht zu sagen, dass sie Abtreibungen abschaffen will. Damit hätte sie der Linken ein Argument geliefert, um sie anzugreifen. Was Meloni aber wirklich meint, wird man erst in den kommenden Monaten sehen.

Ebenso zweideutig waren ihre Aussagen zu den Rechten von gleich­geschlechtlichen Paaren. Zwar geisselt ihre Partei die sogenannte «LGBTQIA+-Lobby». Doch Meloni sagte im Wahl­kampf, sie werde das italienische Gesetz, das gleich­geschlechtliche Partnerschaften anerkennt, nicht rückgängig machen …
Diese Aussage kann man als Taktik werten. Meloni ist im Laufe der gesamten Kampagne sehr klug allen möglichen Fallen aus dem Weg gegangen. Wahrscheinlich wird sie das aber tatsächlich nicht tun, weil letztlich ihr zentrales Interesse ist, ihre Macht zu konsolidieren. Und dann werden da natürlich auch Prioritäten gesetzt. Diese ideologischen Positionen, die sie eingenommen hat, um das Rechts­bündnis zusammen­zuhalten, werden wahrscheinlich in den Hinter­grund treten. Aber nichts von dem, was sie bis jetzt gesagt hat, ist eine Garantie dafür, dass sie tatsächlich nicht gegen gleich­geschlechtliche Partnerschaften vorgehen wird.

In Brüssel schaut man mit Besorgnis nach Rom. Giorgia Meloni ist seit 2020 Vorsitzende der Partei «Europäische Konservative und Reformer», in der die Schweden­demokraten, die polnische Regierungs­partei PIS und die spanische Vox vertreten sind. Das deutet darauf hin, dass Meloni Ambitionen hat, die über Italien hinaus­reichen. Wie will sie die EU reformieren?
Das ist die entscheidende Frage. Einerseits sagt Meloni, es brauche ein Europa der Nationen, der Völker, die in erster Linie an sich denken. Sie propagiert also ähnlich wie Marine Le Pen eine Art Re-Nationalisierung. Doch da sind andererseits die Milliarden Euro aus dem europäischen Aufbau­plan, die für Italien vorgesehen sind. Giorgia Meloni weiss genau: Dieses Geld könnte es ihrer Regierung ermöglichen, wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, die das Land bitter nötig hat.

Ein klassischer Zwiespalt. Was wird sie also tun?
Ich denke, dass Giorgia Meloni europa­politisch eine zweigleisige Strategie fahren wird. Einerseits wird sie den Schulter­schluss mit der ungarischen Regierung von Viktor Orbán suchen, um Massnahmen zu bekämpfen, mit denen die EU bestimmte Länder unter Druck setzt, die demokratische Grundsätze missachten. Gleichzeitig aber wird sie mit der EU verhandeln, damit die Gelder aus dem Aufbauplan fliessen – so weit wie möglich ohne die Reformen, die Brüssel verlangt. Davon hängt der Erfolg ihrer Regierung ab. Ohne diese Gelder gerät Italien wirtschaftlich in eine extreme Schieflage. Das würde das Ende der Regierung bedeuten.

Die Linke hat die Wahlen verloren und dies auch selbst verschuldet: Das italienische Wahl­system belohnt Parteien, die Koalitionen bilden. Im Gegensatz zu den rechten Parteien haben sich die Linken und die Mitte­parteien nicht zusammen­raufen können. Weshalb gelang ihnen das nicht?
Sie waren zerstritten und zu stark auf ihre jeweiligen Partikular­interessen konzentriert. Der Mitte­politiker Carlo Calenda ging zuerst einen Pakt mit dem Partito Democratico ein. Diesen liess er wenige Tage darauf platzen in der Hoffnung, dass er so mehr Stimmen von Lega-Wählenden holen könnte. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Der Partito Democratico hat es verpasst, mit der 5-Sterne-Bewegung eine Koalition einzugehen. Einerseits, weil sich diese eine Zeit lang wie ein Irren­haus aufführte, aber auch in der Hoffnung, dass sie sich nach einem Alleingang quasi in Luft auflösen würde. Das ist nicht geschehen.

Also haben sie strategische Fehler begangen. Der Partito Democratico ist trotzdem als zweit­grösste Partei aus den Wahlen hervor­gegangen, wird aber jetzt in der Opposition stehen. Könnte das die linken Parteien und die Mitte einen?
Dafür müsste im Partito Democratico ein neuer Enthusiasmus entstehen, eine neue Energie, die ich im Moment nicht sehe.

Sie klingen nicht sehr hoffnungsvoll …
Für den Partito Democratico wird es extrem schwierig sein, aus seiner Blockade heraus­zukommen. Dafür bräuchte es eine Persönlichkeit, die versteht, was hinter dem Erfolg der 5-Sterne-Bewegung steckt, und die es schafft, dies in ein Programm für eine vereinigte Linke zu transferieren. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist eher klein. Schon jetzt brechen wieder Flügel­kämpfe aus. Die italienische Politik ist geprägt von eigen­nützigen Narzissten.

Die italienische Bevölkerung verarmt: Die Kaufkraft ist in den letzten 20 Jahren gesunken. Viele Menschen arbeiten für sehr kleine Löhne. Die Arbeits­losigkeit ist gerade bei jungen Menschen sehr hoch. Wie wirkt sich das auf die politische Stabilität aus?
Äusserst negativ. Einerseits hat es zur Folge, dass bedeutende Teile der Wählerschaft gar nicht mehr zur Wahl gehen, weil sie das Gefühl haben, dass sich sowieso niemand um ihre Probleme kümmert. Andererseits werden die Menschen dadurch empfänglich für populistische Botschaften. Sobald jemand so tut, als ob sie oder er ihnen zuhört und ihrer Not irgendwie Aufmerksamkeit schenkt, folgen sie dieser Person.

Italien wurde auch schon als das Land der vielen Populismen bezeichnet. Silvio Berlusconi kam zum Beispiel lange vor Donald Trump, gleichzeitig gibt es deutliche Parallelen zwischen dem Aufstieg dieser beiden Politiker. Inwiefern sehen Sie Italien als Vorreiterin einer generellen Entwicklung in den westlichen Demokratien?
In Italien kann man das Phänomen einer zunehmenden Politik­verdrossenheit beobachten, genährt durch den Eindruck, dass die politischen Eliten sich nur selbst bedienen und dann Politik betreiben für die sozialen Schichten, die bereits schon privilegiert sind. Und das sind in Italien leider Gottes die Wähler des Partito Democratico: Leute, die eine feste Stelle haben, auf Dauer mit einem unbefristeten Vertrag. Lehrerinnen, Staatsbeamte. Im Vergleich zu der Schweiz verdienen diese zwar wahnsinnig wenig – eine Lehrerin bezieht einen Lohn von 1600 Euro im Monat. Aber sie geniessen trotzdem Sicherheit. Und der ganze Rest des Landes lebt in einer totalen Unsicherheit. Dies hat fatale Folgen für die politische Legitimation.

Inwiefern?
Der vertikale Bruch in der Gesellschaft ist in Italien sehr weit fortgeschritten. Zudem verhalten sich rund 15 Prozent der Wählerschaft extrem volatil. Ein politisches Verhalten, das sich nur an einfachen Botschaften orientiert und sich immer auf die Person ausrichtet, die gerade neu auf der Bildfläche erscheint und eine starke Botschaft hat.

Was meinen Sie mit dem «vertikalen Bruch»?
Damit meine ich, dass die politische Klasse sehr stark mit sich selbst beschäftigt ist. Sie vertritt Vorstellungen, die innerhalb der politischen Klasse Sinn ergeben. Wenn sie sagt: Wir müssen uns für Minderheiten­rechte einsetzen, hat sie durchaus recht. Wenn sie aber gleichzeitig den einfachen Leuten nicht zusichert, dass ihre Bedürfnisse auch berücksichtigt werden, dann entsteht eine falsche, konträre Position zwischen Minderheiten­rechten einerseits und den Bedürfnissen der einfachen Leute andererseits. Wenn die Wählerschaft die komplexen Diskurse der politischen Klasse nicht entziffern kann und das Gefühl entsteht, sie sei abgehängt, dann kommt es zu diesem vertikalen Bruch. Diese Problematik ist keine Erfindung der Populisten, das ist eine soziale Lage, die es in den Gesellschaften gibt, auch weil die Politik versagt hat. Diese problematische Mischung kann auch in anderen Ländern auftauchen.

Es fällt auf, dass Italien einen ganz anderen Umgang mit dem Erbe des Faschismus pflegt als etwa Deutschland. So kommt es vor, dass es Bilder von Mussolini gibt, die in Restaurants hängen, und seine Anhänger stehen öffentlich zu ihrer Bewunderung für den Duce. Wie ist das zu erklären?
Das hat vor allem historische Gründe. Etwas zugespitzt war Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges gänzlich auf der Seite der Schuld. In Italien fiel die Bilanz gemischter aus. Der italienische Faschismus währte lange, hat aber dann in den Bürgerkrieg geführt, und es gab eine Widerstands­bewegung. So kann man sagen, dass ein Teil des Landes sich gegen den Faschismus, die Nazi­herrschaft und den Holocaust gestellt hat. Das hat sozusagen die italienische Seele reingewaschen. In gewisser Weise war das auch verdient, weil ein Teil der Bevölkerung sich tatsächlich gegen den Faschismus gewehrt hat, auch wenn es nur eine Minderheit war. Italien hat dann eine Demokratie aufgebaut mit einer der fortschrittlichsten Verfassungen Europas. Zudem kann man die fehlende Aufarbeitung des Faschismus auch religions­soziologisch erklären: Die Art, wie ein protestantisches Land mit der Schuld umgeht, ist natürlich anders als in einem katholischen Land.

Postfaschistische Strömungen blieben lange eine Rand­erscheinung. Wo waren denn die Italiener, die positiv zum Faschismus standen?
Die schweigende Mehrheit, die den Faschismus eigentlich geduldet und unterstützt hatte, ist nach dem Krieg zu der christlich­sozialen Partei Democrazia Cristiana gegangen. Diese Partei schaffte es, 50 Jahre lang diese Kreise aufzunehmen und als konservativer Pol einer grossen Volks­partei unter Kontrolle zu behalten. Aus diesen vielen Gründen hat man nie wirklich mit dieser Vergangenheit abgerechnet. Als Anfang der Neunzigerjahre die Democrazia Cristiana in einem Korruptions­skandal unterging, kam es deshalb zu einer Welle des historischen Revisionismus. Plötzlich sagte etwa der renommierte Faschismus­forscher und Historiker Renzo De Felice: «Mussolini ist der grösste Politiker des 20. Jahrhunderts.» Niemand hat dem etwas entgegnet.

Weshalb nicht?
Der damalige Zeitgeist entsprach der Haltung: Das ist alles so weit weg in der Vergangenheit. Der Kommunismus existiert nicht mehr, man braucht nicht mehr mit diesen sogenannten Ideologien des 20. Jahrhunderts abzurechnen. Natürlich rächt sich das jetzt, weil diese unbewältigte Vergangenheit, die es in Italien tatsächlich gibt, dazu führt, dass bestimmte Behauptungen von Giorgia Meloni möglich sind.

Welche Aussagen meinen Sie?
Zum Beispiel die Antwort auf die Frage, weshalb sie die trikolore Flamme über dem Mussolini-Grab, die aus dem Faschismus stammt, nicht aus dem Symbol ihrer Partei entfernt. Sie entgegnete nicht: Wir sind jetzt eine andere Partei, wir sind jenseits des Faschismus. Sie hat nur gesagt: Das sind alte historische Polemiken, der Faschismus ist für uns Geschichte. Gleichzeitig bleibt dieses Symbol, weil man damit natürlich bestimmte Leute ansprechen kann.

Was hat dazu geführt, dass dieser lockere Umgang mit Symbolen der faschistischen Gewalt­herrschaft von grossen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird?
Dies geschah im Laufe der Neunziger­jahre, in denen die Politik durch massive Korruptions­fälle in eine tiefe Legitimations­krise schlitterte. Parallel dazu fiel die Berliner Mauer, sodass sich die beiden leitenden Ideologien auflösten, die Italien zusammen­gehalten und sich ständig bekämpft hatten: einerseits die europa-kommunistische Idee, also der italienische Weg einer sehr linken Sozial­demokratie, und andererseits die katholische Ideologie, konservativ, aber doch auch sehr sozial und engagiert. Diese Ideologien wurden in den Neunziger­jahren abgeschafft. Es hiess: Wir sind im postideologischen Zeitalter. In dieser Konfusion hat die Seite, die 50 Jahre lang zu Recht hatte schweigen müssen, weil sie faschistisch war, die Gunst der Stunde genutzt, um wieder an die Öffentlichkeit zu treten. Und danach hat alles Mögliche funktioniert. Das ist ja das Kultur­programm von Silvio Berlusconi: Konsum, Maskulinismus und Unterhaltung.

Hat dem niemand etwas entgegen­gesetzt?
Leider nein. In der aktuellen Wahl hat der Vorsitzende der sozial­demokratischen Partei, Enrico Letta, seine ganze Kampagne fokussiert auf die Werte der Demokratie, des Zusammen­lebens, der Toleranz. Die Menschen sind nicht mehr ansprechbar auf dieser Basis. Die Intellektuellen sind in meinen Augen am stärksten verantwortlich für diese Entwicklung. Statt dass sie in den 1990er-Jahren gesagt hätten: «Wir haben demokratische Werte jenseits der kommunistischen Ideologie und jenseits der übergreifenden Korruption der Christ­demokraten. Diese sind in der Verfassung festgehalten, man muss sie einfach als Programm verstehen», haben die Intellektuellen gesagt: «Hier ist alles nur noch post­ideologisch und regelt sich selbst.» Dadurch hat Italien seine Grundlage für die Orientierung völlig verloren. Jetzt erhalten wir die Quittung dafür.

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