Binswanger

Mind the gap

Elisabeth II. geht, Liz Truss kommt. Was bedeutet das für das Vereinigte Königreich?

Von Daniel Binswanger, 10.09.2022

Synthetische Stimme
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Nun hat sie also das Zeitliche gesegnet, R. I. P. Dabei war sie doch irgendwie zeitlos. Schon seit einer halben Ewigkeit die landes­mütterliche, einschüchternde, gravitätische – um es kurz zu machen: majestätische – alte Dame, die, jedenfalls soweit ich mich zurück­erinnern kann, während Jahrzehnten im Grunde gar nicht zu altern schien.

Natürlich ist das de facto eine verzerrte Wahrnehmung. Die zunehmend gebeugte Erscheinung und die abnehmende Mobilität verrieten, wie biblisch das Alter war, das Queen Elisabeth II. inzwischen erreicht hatte. Aber es spielte letztlich keine Rolle: Im Sturz­bach von Krisen, Kriegen und Epochen­wechseln wurde die Königin zum ewigen Felsen der Verlässlichkeit.

So kommt es, dass selbst für Menschen, die sich keine einzige Folge von «The Crown» je anschauen würden, die sich für Klatsch und Familien­dramen europäischer Königs­häuser nur sehr mässig interessieren; für Menschen, die das Fortleben des Royalismus in konstitutionellen Monarchien als bizarren Anachronismus betrachten; für Menschen wie mich beispiels­weise der Tod der Queen ein Schock ist. Sie war das Symbol von eiserner Disziplin, kühler Pflicht­erfüllung und scheinbar ewigem royalem Glanz. Damit soll jetzt einfach Schluss sein? Gehört der greise Dauer­prätendent nun ernsthaft auf den Thron?

Dennoch: Es ist tragischer Ernst. Vor den königlichen Palästen werden Trauer­bouquets abgelegt, aufgewühlte Menschen­massen versammeln sich auf den Strassen. Es erinnert ein bisschen an den Tod von Lady Di, ein natürlich ganz anders gelagerter Schicksals­schlag, der aber ebenfalls zu Blumen­meeren vor dem Buckingham-Palast und weltumspannender Verstörung führte.

Damals war die Queen allerdings nicht in der Rolle der Betrauerten, sondern versteckte sich auf Balmoral und wurde von den britischen Untertaninnen für ihre herzlose Kühle und ihr viel zu langes Schweigen gegeisselt. Damals stand Elisabeth nur bedingt für das unerschütterliche Fortleben der englischen Krone. Es wurde sogar offen darüber spekuliert, ob sich das Königs­haus von der Erschütterung durch Dianas dramatischen Tod je wieder würde erholen können. Das Ende der Monarchie schien potenziell vor der Tür zu stehen. Doch in den Folge­jahren wurde erneut die Queen zur Garantin der royalen Popularität.

Diana war vielleicht die «Prinzessin der Herzen». Aber Elisabeth konnte sie den Rang nicht ablaufen.

Allerdings hat das Standing der Royals, wenn man so sagen darf, ja selten ausschliesslich auf Eigen­leistungen beruht. Es hing immer ganz wesentlich an den weiteren Zeit­umständen. Der Tod von Diana fiel in eine beispiellose Phase des Aufbruchs. Tony Blair war soeben britischer Premier­minister geworden. Er beendete die 18-jährige Regierungs­zeit der Tories und versprach der Welt, die Sozial­demokratie gemäss den Rezepten des «dritten Weges» völlig neu zu erfinden. Das König­reich sollte in die Ära von cool Britannia geführt werden. Für solche Vorhaben schienen die Windsors nur noch begrenzt einsetzbar.

Schon lange hat sich diese Wahrnehmung der Dinge nun aber wieder ins Gegenteil verkehrt: Post-Brexit-Britannia ist leider nur sehr mässig cool. Nun muss vordringlich wieder das Königs­haus herhalten als Garant von obrigkeitlicher Verlässlichkeit. Was das aussagt über das heutige Gross­britannien, ist alles andere als erfreulich.

Die Nachrufe lassen nun Stationen des Lebens von Elisabeth Revue passieren, begleitet von den Fotografien, die diese Schlüssel­momente dokumentieren. Eines der eindrücklichsten Bilder aus jüngerer Zeit zeigt die Queen beim Begräbnis ihres Mannes Prinz Philip im Juni letzten Jahres. Aufgrund der damals in England geltenden Pandemie­massnahmen mussten strikte Social-Distancing-Regeln eingehalten werden, und die in allen Belangen disziplinierte Queen sass völlig isoliert, in weitem Abstand zu den wenigen anderen Gästen, im Gestühl der Saint George’s Chapel; eine beklemmende Ikone der einsamen Vorbildlichkeit. Als hätte die betagte Queen die Kraft haben müssen, ihren Prinz­gemahl alleine zu bestatten.

Das eigentlich Irritierende an dem Bild ist aber, dass viele von uns es schon Anfang dieser Woche in den Medien wieder gesehen haben, nämlich in den Rück­blicken auf die Amtszeit von Boris Johnson. Alles hängt halt an den Zeit­umständen: Die Beerdigung von Prinz Philip fand am Tag nach einer der infamen Downing-Street-10-Partynächte statt, Freitagabend-Besäufnisse am Regierungs­sitz, die frontal gegen die Covid-Massnahmen verstiessen, die ebenjene Regierung beschlossen hatte und auch für sehr viel weniger frivole Anlässe wie eben zum Beispiel Beerdigungen drakonisch durchsetzte.

Boris Johnson musste nun aufgrund von Liederlichkeiten wie diesen von seinem Amt zurücktreten – und aufgrund der Tatsache, dass er immer wieder seinen Kopf zu retten versuchte, indem er log und sein Fehlverhalten abstritt. Die steife Monarchin und der lügende Premier­minister (auch die Königin soll er nach dem Verdikt eines schottischen Gerichts belogen haben) repräsentierten zwei sehr unterschiedliche Ausprägungen der zutiefst von der Aristokratie geprägten britischen Elite. Dass sie nun gemeinsam, zumindest fast zeitgleich, abgetreten sind, entbehrt nicht der Ironie. Allerdings kennt diese Gemeinsamkeit auch eine entscheidende Grenze: Boris könnte wiederkehren.

Nur zwei Tage vor ihrem Tod hat Elisabeth noch die neue Premier­ministerin eingesetzt, ihre fünfzehnte Regierungs­chefin. Bei ihrer Thron­besteigung war Winston Churchill im Amt, nun hat sie – vermutlich als letzte Amtshandlung – Liz Truss die Macht übertragen. Von Churchill zu Johnson und jetzt zu Truss: Die Spannweite könnte gar nicht krasser deutlich machen, wie weit die Epochen auseinander­liegen, die die Regentschaft von Elisabeth umklammert.

Als die Königin ins Amt kam, war das Empire zwar in der Defensive, aber weiterhin eine globale Realität. Heute will sich Grossbritannien noch nicht einmal mehr an einem europäischen Gemeinschafts­projekt beteiligen, und es besteht gar die konkrete Drohung, dass das Vereinigte Königreich in seine vier Nationen zerfällt. Wird das zweite elisabethanische Zeitalter dereinst nicht nur als die längste Regentschaft in der britischen Geschichte, sondern als Periode des fast unbegrenzten Macht­verlusts betrachtet werden?

Die unerschütterliche Konstanz, die Elisabeth verkörperte, wird Gross­britannien im kommenden, für das Vereinigte Königreich wohl ganz besonders schwierigen Winter jedenfalls bitter fehlen. Bei Liz Truss liegen die Geschicke des Landes nun in den Händen der personifizierten Wendigkeit. Truss war eine engagierte Befür­worterin des Verbleibs Gross­britanniens in der EU, hat nach dem Brexit aber schnell die Seiten gewechselt. Sie war eine kompromisslose Unter­stützerin von Boris Johnson, hat sich jetzt aber geschickt positioniert, um ihn zu verdrängen. Ihre politische Karriere begonnen hat Truss gar nicht bei den Konservativen, sondern bei den Liberal­demokraten. Als Lib-Dem-Vertreterin plädierte sie mit aller Entschiedenheit für die Abschaffung der Monarchie. Nun ist Liz Truss von der sterbenden Monarchin mit der Regierungs­bildung beauftragt worden.

Der Übergang von Elisabeth II. zu Charles III. ist in den minutiösesten protokollarischen Details geregelt. God save the king. Doch auf eine Phase der Beständigkeit wird das Königreich nicht zugehen.

Illustration: Alex Solman

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