Binswanger

Das Ende der Evidenz

Die im Winter drohende Energiekrise ist eine Katastrophe mit Ansage. Dass sie nun konkret wird, hat auch sein Gutes.

Von Daniel Binswanger, 03.09.2022

Synthetische Stimme
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Man muss ja nicht zwingend ein Fan sein von Emmanuel Macron. Er bleibt ein Symbol für fundamentale Blockaden. Als Staatschef steht er dafür, wie explosiv der Widerspruch werden kann zwischen der Dringlichkeit von Klima­politik und den Ansprüchen des sozialen Ausgleichs. Die Protest­bewegung der Gelbwesten brachte seine erste Amtszeit schwer ins Schlingern. Dennoch hat er nun die zweite angetreten, nicht zuletzt aufgrund des Mangels an einer glaubwürdigen Alternative.

Aber ein reflektierter Kopf ist Macron immer gewesen. Kürzlich brachte er die Weltlage sehr treffend auf den Begriff:

Wir erleben das Ende des Überflusses, des Überflusses der Geldliquidität, die nichts kostet. (…) Des Überflusses und der Zugänglichkeit sämtlicher Produkte und Technologien (…) Wir erleben den Bruch der Lieferketten, die Wiederkehr der Knappheit von Rohstoffen und Technologien. (…) Die Knappheit des Wassers. Und es ist das Ende einer als selbst­verständlich betrachteten Evidenz: Wenn wir Frankreich, Europa und die globale Weltordnung anschauen, müssen alle, die glaubten, dass Demokratie und Menschen­rechte das natürliche Ziel der Geschichte darstellen, sich eines Besseren belehren lassen. (…) Es ist das Ende einer gewissen Unbeschwertheit. Die Realität des Krieges ist zurück­gekehrt nach Europa.

Emmanuel Macron.

Das Ende der Evidenz, das Ende der Unbeschwertheit: Das ist selbst für die Konventionen gravitätischer französischer Präsidenten­reden schweres Geschütz. Aber Macron hat recht. Wer würde bestreiten, dass wir an einen historischen Wende­punkt gelangt sind? Hinzufügen sollte man allerdings: Der spektakuläre Verlust der Evidenz, der sich in nicht einmal einem Jahr vollzogen hat, ist zwar in aller­höchstem Mass bedrohlich. Aber er stellt auch eine Chance dar.

Ganz ähnlich wie Macron, aber sehr viel nüchterner und technischer, klangen letzte Woche die Ansagen, die aus Jackson Hole, vom Gipfel­treffen der Zentral­banker, an die Welt gerichtet wurden.

Schon die Finanzkrise hat gezeigt, dass das globale Finanz­system von existenz­bedrohenden Krisen heimgesucht werden kann, aber selbst angesichts dieser extremen Turbulenzen war die Preis­stabilität über die letzten Jahrzehnte nie im grossen Massstab bedroht. Man nennt die geldpolitische Ära seit der Jahrtausend­wende nicht umsonst die Zeit der «grossen Moderation», eine Phase, in der die Noten­banken zwar zu sehr unkonventionellen Mitteln griffen, aber extreme Zins­schwankungen stets verhindern konnten.

Diese Phase ist vorbei: Die Welt wechselt von der «grossen Moderation», wie es Isabel Schnabel vom Direktorium der Europäischen Zentral­bank sagt, zur «grossen Volatilität». Und das bedeutet: Niemand weiss, was kommt. Es könnte sein, dass die Welt auf eine Stagflation und eine schwerwiegende wirtschaftliche Krise zusteuert. Es könnte aber auch sein, dass der Inflations­druck hauptsächlich durch die Lieferketten­probleme und die temporäre Knappheit von Gütern wie Energie hervor­gerufen wird und relativ rasch wieder nachlässt.

Der Schweizer Nationalbank­präsident Thomas Jordan sagte in Jackson Hole: «Wir müssen unsere Entscheidungen auf der Grundlage sehr hoher Unsicherheit treffen. Die aktuellen Daten zu interpretieren, ist schwierig.» Auch geld- und wirtschafts­politisch ist das Ende der Evidenzen erreicht.

In der Schweiz werden die epochalen Unsicherheiten momentan vorrangig auf dem Feld der Energie­politik verhandelt. Mit gutem Grund: Es könnte diesen Winter bekanntlich zu einer Strommangel­lage kommen, mit einschneidenden Konsequenzen für das Alltags- und das Wirtschafts­leben. Schon 2015 hat das Bundesamt für Bevölkerungs­schutz eine schwere Strommangel­lage als die gravierendste Gefährdung für die Eidgenossenschaft ausgewiesen – gravierender als etwa eine Pandemie. Dennoch wurden die nötigen energie­politischen Massnahmen nicht ergriffen, um sich gegen eine solche Notsituation zu wappnen.

Wie ist dieses Versagen möglich? Der Bundesrat hat gleichzeitig am geplanten Atom­ausstieg und an den in der Energiestrategie 2050 festgeschriebenen Dekarbonisierungs­zielen festgehalten. Alles andere wäre angesichts der weiterhin ungelösten Probleme der nuklearen Energie­produktion und angesichts der dramatischen Dringlichkeit einer Reduktion des CO2-Ausstosses auch nicht zu verantworten gewesen. Das Problem bei der Sache: Für die Kosten, die der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energie und der Speichersee­kapazitäten verursacht hätte, gab es bisher keine Mehrheiten.

Die SVP und Teile der FDP haben zur Schweizer Energie­politik nie viel mehr beigetragen als flächen­deckende Obstruktion und die Forderungen nach neuen AKW. Auch die Gegenseite hat nicht immer durch Pragmatismus geglänzt: Aufgrund landschafts- und tierschützerischer Motive wurden durch Umwelt­verbände Windparks und Stausee­projekte verhindert. Anstatt die offizielle Energie­strategie umzusetzen, behalf die Schweiz sich lieber mit der billigsten Lösung: Die in den Winter­monaten entstehende Strom­versorgungs­lücke wurde mit Importen ausgeglichen.

Heute rächen sich diese Versäumnisse. Obwohl es nie an warnenden Stimmen fehlte, die darauf hinwiesen, dass die Schweiz in einer internationalen Energie­krise in eine prekäre Situation kommen könnte. Obwohl klar war, dass auch andere europäische Länder aufgrund des Atom­ausstiegs und der Dekarbonisierung von Strom­exporteuren in den nächsten Jahren zu Strom­importeuren werden dürften. Obwohl schon lange vor dem Krieg in der Ukraine von vielen Seiten gewarnt wurde, dass die Versorgungs­sicherheit immer zweifelhafter werde. Jetzt, verstärkt durch Putins Feldzug, könnte das seit Jahren bekannte Problem tatsächlich eine fatale Wendung nehmen.

Selbstverständlich ist nun das grosse partei­politische Schuld­zuweisungs­spiel losgegangen, mit abenteuerlichen Anklagen. Die SVP will alle Verfehlungen Simonetta Sommaruga anlasten, obwohl die Volks­partei selber keinen anderen Beitrag geleistet hat, als lautstark Versorgungs­autarkie zu fordern. Letztlich lässt sich die Verfehlung der Schweizer Energie­strategie sehr einfach beschreiben: Sie wurde nie umgesetzt. Stattdessen hat man lieber Strom importiert.

Heute ist die Grenze erreicht, schneller als erwartet. Und das ist auch der Grund, weshalb die aktuelle Krise eine Chance darstellt. Erstens bleibt trotz allem die Möglichkeit bestehen, dass wir einiger­massen glimpflich über den Winter kommen, je nachdem, ob Putin tatsächlich den Gashahn zudreht, ob der Winter kalt wird, ob die Ausfälle bei den französischen Atom­kraftwerken weiterhin so hoch bleiben. Zweitens werden in der Schweizer Energie­politik nun endlich viele Dinge geschehen, die man schon vor Jahren hätte angehen sollen, die aber erst angesichts der heutigen Zwangs­lage auf hinreichende Akzeptanz stossen.

Es würde überraschen, wenn die Investitionen in Solar- und Windenergie in den nächsten Monaten nicht einen massiven Schub bekämen. Nur schon der Anstieg der Elektrizitäts­preise wird einen starken Anreiz bilden. Die Forderung, Elektrizitäts­gesellschaften auf eine strategische Nutzung ihrer Speichersee­kapazitäten zu verpflichten, wird in der Herbst­session im Parlament erörtert werden. Es ist ein grotesker Witz, dass die Strom­konzerne ihre Pumpspeicher­kapazitäten mindestens teilweise immer noch dazu einsetzen, Strom in den Sommer­monaten möglichst teuer zu verkaufen, anstatt maximale Reserven zu bilden für die Winter­monate. Das muss sich sofort ändern, auch wenn es Geld kostet.

Dank Putin wird die Schweiz in den nächsten Monaten und Jahren einen stark beschleunigten Ausbau von erneuerbaren Energien und von Speicher­kapazitäten erleben, selbst dann, wenn der Strom­mangel kurzzeitig mit Ölkraftwerken ausgeglichen werden muss. In der Energie­politik kann das Ende der Evidenzen letztlich nur ein Segen sein.

Schon während der Pandemie gab es die Hoffnung, dass der Stillstand des öffentlichen Lebens und die temporäre Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivitäten zu einem neuen ökologischen Bewusstsein und einer neuen Umwelt­politik führen könnten. Es wurden sehr kluge Bücher zu dem Thema geschrieben, doch konkret passiert ist wenig.

Im Fall der aktuellen Energie­krise wird das anders sein. Wir werden nun ganz einfach gezwungen, zu sparen und autarker zu werden. Bei allen schlimmen Wendungen, die dieser Winter noch nehmen kann: Das ist eine Chance!

Illustration: Alex Solman

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