Happening

Am besten einfach anhören und schweigen

Am Zürcher Theater Spektakel kann man den sexuellen Erfahrungen fremder Menschen lauschen. Muss nicht sein. Aber verpasst man etwas, wenn man es lässt?

Von Theresa Hein, 24.08.2022

Teilen3 Beiträge3
Synthetische Stimme
0:00 / 5:09

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Ein Sommerabend in Zürich am See, neun Uhr. Man kann sich Lustigeres vorstellen, als anderen Leuten bei ihren Sex­erzählungen zuzuhören. Auf einem leicht schwankenden Schiff auch noch. Erschwert wird das Ganze für mich dadurch, dass ich zwar der Generation «Man kann über alles reden» angehöre und eine grosse Anhängerin dieser Behauptung bin. Noch ein grösserer Fan bin ich aber von wissendem Schweigen. Man muss nicht über alles reden. Schon gar nicht über sexuelle Details, und nicht mit jedem. Entsprechend gross ist meine Skepsis gegenüber diesem Abend.

Der Künstler Mats Staub und die Regisseurin Anna Papst setzen alles daran, mir und den anderen Besuchern diese Skepsis zu nehmen. Sie machen ihren Job ab dem Moment, in dem man das kleine Schiff des Gemeinschafts­zentrums Wollishofen betritt, wahnsinnig gut. Auf dem Schiff haben sie eine kleine Vinothek eingerichtet, mit leise sprechenden, enorm freundlichen Kellnerinnen, weissen Tisch­decken, simplen Holzstühlen, einer mattgrünen Menükarte. Zauberhaft. Aber wenn sie denken, sie könnten mich mit Blumen und Klavier­geklimper kaufen, haben sie sich geschnitten.

Die Menükarte gibt schon mal einen Pluspunkt, der Einfall ist raffiniert. Neben einer Wein­auswahl findet sich dort eine kurze Einleitung des Projekts. Das Duo hat über zwei Jahre mit verschiedenen Menschen aller Alters­gruppen über ihre sexuellen Erfahrungen gesprochen.

Die Idee: Fast alle haben Sex. Aber keiner hat den gleichen.

Könnte es nicht bereichernd sein, sich darüber auszutauschen? Wer die Weinkarte umblättert, findet dann – der erste Coup – das Geschichten­menü, zusammen­gesetzt aus den Erzählungen der Menschen, mit denen das Duo gesprochen hat, die Namen sind anonymisiert. Man kann zum Beispiel «Annemarie, 70» wählen, oder «Michael, 27». Die längste Geschichte dauert knapp zwanzig Minuten, die kürzeste etwa zehn. Eingelesen wurden die Protokolle, zu denen das Künstlerinnen­duo nichts hinzu­gedichtet hat, von professionellen Sprechern und Schau­spielerinnen. Das ist der zweite Coup. Ich wähle für den ersten Gang «Annemarie, 70» und «Daniela, 37» und bekomme statt etwas zu essen einen alten iPod serviert, auf den die Geschichten­kombination gespielt wurde. Der Kellner, vermutlich, weil er die Falten auf meiner Stirn sieht, überreicht mir den Teller mit den bestärkenden Worten: «Gute Wahl.»

Das Schiff schaukelt, neben mir wird schon der zweite Roséwein eingeschenkt. Kerzenlicht. Ich reisse mich zusammen. Kann ja immer noch sein, dass die Verpackung raffiniert ist und der Inhalt banal. Ich setze die Kopfhörer auf und drücke auf dem alten iPod auf «Play». Knapp 45 Minuten Dauer zeigt der iPod an, 45 Minuten Sextalk also, und ein bisschen Klavier­geklimper dazwischen. Und das ist nur der erste Gang. Was tut man nicht alles für die Arbeit.

Ich schliesse die Augen und bin auf alles gefasst.

Oder eben doch nicht auf alles. Nicht darauf, wie sehr mich die Stimme von Suly Röthlisberger, die das Protokoll der siebzig­jährigen «Annemarie» liest, berühren wird. Wo es um Sex geht, geht es um Leben, und umgekehrt, dämmert es mir. Das ist kein Trash. Jetzt haben sie mich.

«Annemarie» erzählt von ihrer Ehe, in der sie Sex nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Mit fast 50 trennte sie sich von ihrem Mann, verliebte sich in eine Freundin, wurde verschmäht, suchte eine Anstellung, fand Arbeit, die andere verachten. Sie fand über SMS-Chat einen Mann, mit dem sie bis zu dessen Tod zusammen war, den sie liebte und mit dem sie auch das Lieben neu lernte. «Vor dem Einschlafen hat er immer seine Hörgeräte abgelegt und gesagt: Gib mir deine Hand.»

Ich muss auf Pause drücken, Annemaries Geschichte muss ich erst mal verdauen. Ich schaue mich um. Hinter mir lacht jemand, da muss jemand ein lustigeres Menü bestellt haben als ich. Auch das ist eine weitere brillante Idee: Man kann sich hinterher über das Gehörte austauschen. Dass zwei Menschen allerdings den gleichen Erzählungen lauschen, kommt kaum vor. Es sei denn, man spricht sich ab.

Nach zwei weiteren Geschichten verlasse ich das Schiff. Man könnte hier noch mehr verraten, aber das würde der Idee viel von ihrem Zauber nehmen, und das will ich um keinen Preis.

Lieber selbst anhören und wissend schweigen.

Zürcher Theater Spektakel

Intime Revolution / Intimate Revolution: Anna Papst / Mats Staub (Konzept). Noch bis 30. August ausser Samstag, jeweils 21 Uhr. GZ Wollis­hofen, Schiff. Dauer ca. 2 Stunden. Restkarten an der Abendkasse.

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!