Die Hingabe

Maggie Rogers ist eine der aussergewöhnlichsten musikalischen Entdeckungen der vergangenen Jahre. Jetzt ist sie ein Popstar. Wie konnte das passieren? Und ist das schlimm?

Von Theresa Hein, 27.07.2022

Synthetische Stimme
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Maggie Rogers beschäftigt sich in ihren Songs mit dem Zustand der Welt ebenso wie mit dem Gefühl nach einer Trennung. Quil Lemons/Universal Music

Eine Frau, die sich zu Musik bewegt, zuerst noch unsicher, wohin mit den Händen, ans Mikrofon, so vielleicht? Oder einfach die Melodie mit den Fingern nachzeichnen, von oben nach unten. Das geht gut.

Dann reckt sie eine Faust nach oben. Mit dieser Bewegung wird im Kopf der Frau ein Schalter umgelegt. Aus dem, was Vorführung war, wird Privat­angelegenheit. Jemand schaut zu? Ihr doch egal.

Im Hintergrund spielen hervorragende Musiker, darunter einer der besten Schlagzeuger der Welt, Questlove, Mitglied der Hip-Hop-Band The Roots. Aber die, die in den Bann zieht, nicht nur, weil die Kamera auf sie hält, ist die Frau. Sie bewegt sich (nach dem halb choreografiert, halb nervös wirkenden Anfang) wie Menschen, die sehr musikalisch sind, sich zur Musik bewegen; die, die gar nicht anders können.

Man kennt das von Jazzkoryphäen, deren Mund oder Kiefer das nachahmt, was sie auf der Gitarre oder dem Bass spielen. Ausser Kontrolle. Impulse, die vom Instrument an den Kopf weitergegeben werden und umgekehrt, der Körper dazwischen ein einziger Klang.

So ist es bei der Frau auch. Sie heisst Maggie Rogers, steht in einem sie beinahe verschluckenden T-Shirt und einer unmöglichen Hose (ist es Latex? Ist es Leder? Sag mal, glitzert es?) auf der Bühne von Jimmy Fallons «Tonight Show» und liefert diesen Song ab: «Say It».

Dies ist ein Youtube-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Youtube Sie tracken.
Maggie Rogers - "Say It" (Live On The Tonight Show Starring Jimmy Fallon / 2019)

Ein Blick zur Band, ein Lachen. Mehr Ausdruck als Tanz. Das alles zu einer gesanglich extrem fordernden Komposition.

Wer das als Zuhörer und Zuschauerin im Jahr 2019 hörte und sah, sass da und sass nicht nur einfach da. Irgendwas Körperliches übertrug sich aus diesem Video, ob das nun ein lautes, ungläubiges Auflachen war oder Gänsehaut (nicht im Sinne eines überstrapazierten Bildes, sondern im Sinne von aufgestellten Härchen auf Armen). Jedenfalls fragte man sich, ob diese Musik noch Pop sei, und wenn nicht, was es dann sei?

Es war und ist eindeutig Pop. Aber von der Sorte, die man in dreissig Jahren noch hören kann, weil alles stimmt, Melodie, Rhythmus, nicht zu radiotauglich aufgeladen, nicht unterverkauft, nicht nach dreimal Hören ausgelutscht. Ausserdem war da eine Authentizität, wenn nicht wahrhaftig gegeben, dann zumindest dermassen überzeugend dargestellt, dass es auf den Unterschied auch nicht mehr ankam.

Das war Maggie Rogers im Jahr des Erscheinens ihres Durchbruch-Albums «Heard It in a Past Life». Maggie Rogers gab einem die Hoffnung wieder, dass amerikanischer Pop sich auch grandios und edgy anhören kann, wenn er nicht von Billie Eilish und ihrem Bruder Finneas stammt.

Drei Jahre später nun erscheint Maggie Rogers’ neues Album «Surrender». Zu Deutsch: Kapitulation. Der Titel, so viel vorab, ist treffend. «Die neue Platte war in vielerlei Hinsicht ein Rückzugsort für mich», sagt Rogers in einem kurzen Telefon­gespräch mit der Republik. Sie hat nicht viel Zeit, packt nebenbei eine Tasche, sie ist schon auf Tour, höflich ist sie trotzdem. Die Aufmerksamkeit und der Rummel nach der Veröffentlichung des Vorgänger­albums hätten sie ganz schön überwältigt.

Maggie Rogers wurde, wie viele andere, von einem Moment auf den anderen nicht nur bekannt. Sondern weltbekannt.

Von der Offenbarung zur Aufgabe?

Rogers wurde 1994 in Easton, Maryland, geboren, das ist an der Ostküste der USA. Rogers erzählt in Interviews wenig vom Leben vor ihrem musikalischen Durchbruch, was auch daran liegt, dass sich das «davor» auf ihre frühe Jugend beschränkt. Aus Podcasts mit ihr weiss man, dass sie ihre Mutter liebt und sich noch gut mit ihrem Ex-Freund von der Highschool versteht.

Als sie begann, Songs zu schreiben und Musik zu ihrer Karriere­entscheidung wurde, war sie 16. Da hatte sie gerade einen Sommerkurs am renommierten Berklee College of Music belegt und dort einen Songwriting-Wettbewerb gewonnen. Im Abschlussjahr der Highschool nahm sie ihr erstes Album auf («The Echo»), im selben Jahr, 2012, begann sie an der New York University zu studieren. Ein paar Jahre später belegte sie bei der Hip-Hop-Grösse Pharrell Williams einen Kurs. Die Besprechung ihres Songs «Alaska», den sie mitbrachte, wurde gefilmt und machte Rogers über Nacht berühmt, weil der Song Williams zu Tränen rührte.

Von da an war Maggie Rogers das «Pharrell-Girl», wie sie mal sagte.

Von da an tat sie auch alles dafür, denen entgegen­zutreten, die glauben könnten, sie würde nicht hart für diesen Ruhm arbeiten. Sie machte ihren Abschluss an der NYU in Music Engineering und Producing, veröffentlichte 2019 ihr erstes Studioalbum (das auf Platz 2 der Billboard-Charts einstieg) und begann ein Aufbau­studium in Harvard. Vor einigen Wochen schloss Rogers mit Auszeichnung ab. Genauso, wie nichts in ihren Songs «einfach so» passiert, auch wenn es den Anschein haben mag, ist nichts an ihrer Karriere ihr in den Schoss gefallen. Das ist ebenso Wahrheit wie Konzept.

Es ist kein neues Konzept, man kennt das zum Beispiel von Taylor Swift («Nobody works harder») und Billie Eilish («It’s really hard work»). Aber bei Rogers wirkt es extra ungewöhnlich durch ihre meist ungeschminkte Haferflocken-Attitüde und ihre etwas schleppende Art, in Interviews auf Fragen zu antworten. Wenn sie sich aufbrezelt, wie im Mai auf der Met Gala, kann man fast sicher sein, dass ein Satz wie dieser fällt: «Morgen muss ich wieder an die Uni für meine Abschluss­prüfungen.»

Ein geradezu protestantisches Arbeitsethos ist die Grundhaltung. Sie wird für jede Beurteilung des neuen Albums eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, auch bei dieser. Um Gewinn und Verlust von «Surrender» begreiflich zu machen, lohnt es sich jedoch, ihre früheren Songs genau anzuhören. Und zwar ganz genau.

Wer überrascht, ist klar im Vorteil

Was Maggie Rogers’ zunächst einfach wirkende Popsongs vor allem aus der breiigen Poplandschaft hervorhob, in die sich das neue Album leider einreiht, war einerseits das Moment der Überraschung; und andererseits ihre Gabe, repetitive Elemente so einzusetzen, dass sie nicht nach Wiederholung klangen, sondern wie eine behagliche Rückführung.

Diese Momente nahmen ihren Songs die Einfachheit und versahen sie mit Raffinesse.

Am deutschen Max-Planck-Institut hat ein Forscher­team kürzlich herausgefunden, dass es genau diese beiden Elemente sind – Überraschung einerseits und eine Art Beruhigung nach einem Moment der Ungewissheit für die Hörerinnen andererseits –, auf die es ankommt, damit uns ein Popsong gefällt. (Messen lässt sich das alles übrigens anhand des Sauerstoff­gehalts in den dafür zuständigen Gehirn­regionen.)

Bei Maggie Rogers’ Hit «Alaska» funktionierte die Überraschung zum Beispiel so, dass nach einer Minute Strophe, in der es kaum etwas gibt ausser einem Beat und Rogers’ entspanntem Gesang in der Bruststimme, auf einmal ein atmosphärischer Wechsel in eine gehauchte Kopfstimme stattfindet. Damit rechnet man beim ersten Hören überhaupt nicht. (In dem berühmten, oben bereits erwähnten Pharrell-Video sieht man, dass auch der Musiker überhaupt nicht damit gerechnet hat und nach etwa einer Minute irritiert, aber nicht unangenehm überrascht, die Augenbrauen zusammenzieht). Ein Klavier echot ganz zart den Gesang, der Refrain besteht dann gar nicht mehr aus Worten, sondern beinahe nur noch aus «Uh». Allerdings vermischen sich die Silben mit dem Klavier und dem Beat zu einem organischen Gefüge. Dann nimmt uns Rogers wieder auf in das gewohnte Muster der Strophe. Überraschung und Versicherungs­moment sind gekonnt kombiniert.

Man kann diese Beobachtung auf viele Songs der Alben «The Echo» und fast alle auf «Heard It in a Past Life» übertragen.

Die neuen Songs sind dagegen fast vollständig erwartbar durchgemixt. So erwartbar, dass man wohl den Co-Produzenten (Kid Harpoon) beschuldigen muss. Zumindest ist bezeichnend, dass er den langweiligsten Song des neuen Albums laut Maggie Rogers ziemlich grossartig fand («Ich blickte auf, um ihn zu fragen, was er denkt, und er sagte nur ‹Mach weiter›.»). Die ersten beiden Alben hat Rogers noch entweder grösstenteils alleine produziert oder sich dafür nicht nur auf einen Co-Produzenten beschränkt, sondern mit mehreren verschiedenen zusammengearbeitet.

Von vorne und von vorne und von vorne

Auf zur Kapitulation also, zu «Surrender». Das grösste Problem neben der gähnenden Erwartbarkeit vieler Songs sind wahrscheinlich die Lyrics, die man sich kaum anhören kann, ohne zu verkrampfen. Auch musikalisch ist das Album enttäuschend.

Die Single «That’s Where I Am» startet noch einigermassen interessant, Rogers singt vor ihrer eigenen geloopten Stimme, Klatschen gibt den Rhythmus vor. Dann geht die Misere auch schon los.

Eine übersteuerte Bassgitarre, scheppernde Drums. Das dann wieder von vorne. Und von vorne. Und von vorne. Mit jeder Strophe wird eine Schicht elektronischer Ummantelung mehr um den Song gelegt, bis vor der Bridge eine unverzerrte E-Gitarre das Gehör erlöst, aber nur kurz. Man hofft also auf den nächsten Song, die nächste Single-Auskopplung auf dem Album, und stellt fest, es geht nicht nur nahtlos weiter mit dem scheppernden Schlagzeug, sondern auch mit der Text-Misere, die sich durch «Surrender» zieht:

If you want, want, what you want, want, then you want it.

(Wenn du willst, willst, was du willst, willst, dann willst du es.)

Maggie Rogers: «That’s Where I Am».

Zugegeben, deutsche Übersetzungen von englischsprachigen Popsongs sind immer eine fiese Angelegenheit, aber hier ist nicht mal in der Original­sprache was schönzureden.

Dazu kommt, dass beinahe alle Songs auf dem neuen Album fussball­stadion­tauglich sind. Das mag für die Tour von Vorteil sein, charmant für die Hörer ist das nicht. Nur ein Song kommt ohne verzerrte Gitarre oder Bass aus. Das eigentlich beeindruckende Register von Rogers’ Stimme wird darauf reduziert, dass sie in ein paar Refrains eine Oktave höher singen darf. Für Artikulation ist in den Retorten-Stücken ohnehin kein Raum vorgesehen.

Und leider passiert es bei fast jedem Song auf «Surrender», dass der Text es dort versaut, wo die Musik doch berührt, zum Beispiel bei «Horses».

I see horses running wild
I wish
I could feel like that for just a minute
Would you come with me or would you resist?

(Ich sehe Pferde frei herumlaufen
Ich wünschte
Auch ich könnte mich so fühlen, nur für einen Moment
Wärst du dabei oder würdest du widerstehen?)

Maggie Rogers: «Horses».

Nun, wir widerstehen für den Moment. Wenn auch irritiert. Ist das Maggie Rogers? Die Frau, die davon schrieb, dass alles, was im Leben hell war, sich nur durch das eigene Zutun auf einmal in Dunkelheit verwandeln kann? Oder dass Veränderung sich anfühlen kann wie ein maskierter Schatten, der einem vorgaukelt, ein Freund zu sein? Die sich ins Zeug legte beim Verbalisieren ihrer Gefühle und sie dann mit genauso viel Mühe vertonte, meist mit minimaler Hintergrund­begleitung?

Ist der Erfolg schuld?

Na klar, ist es dieselbe.

Man ist versucht anzunehmen, dass hier eine ausnehmend gute Künstlerin verschluckt wurde vom Mainstream­pop, dass entweder ein grosses Label sie sich einverleibt hat oder ein berühmter Produzent oder beide: Bestimmt haben andere die junge Frau ihres künstlerischen Gespürs beraubt und ihre Entscheidungen für sie übernommen. Das wäre eine Erzählung, die hier gut passen würde.

Aber so einfach ist das Ganze nicht. Denn erstens macht ein mässiges Album noch keine gute Künstlerin zu einer schlechten. Und zweitens ist Kontrolle für Rogers, die die hart arbeitende Künstlerin nicht nur mimt, ein sehr wichtiges Moment ihrer Arbeit. (Wie sehr sie das letztlich angesichts wachsenden Drucks in der Hand hat, darüber kann man nur spekulieren.)

Obenauf: Vor drei Jahren gelang Maggie Rogers mit «Heard It in a Past Life» der weltweite Durchbruch, am Freitag kommt ihr neues Album heraus. Olivia Bee/Universal Music

Rogers lässt jedenfalls auch beim neuen Album keinen Zweifel daran aufkommen, dass selbst das, was man als Uninspiriertheit, als zu dramatisch aufgeladen, too much empfinden könnte, Absicht ist. «Einer der Gründe, warum sich das Album so anhört, wie es sich anhört, ist der, dass ich die Festivals und die grossen Bühnen vermisst habe», sagt sie zu mir am Telefon.

Wenn Rogers also für den Moment in der Verpopstarisierung verloren gegangen ist, so geschah das zumindest nicht gegen ihren Willen.

Vom Popstar zur feministischen Ikone

Warum dieses Album trotz seiner Mittelmässigkeit Rogers wahrscheinlich nicht schaden wird, liegt an ihrem Image als Frau mit Haltung, die selbst entscheidet, wann sie nachgibt und wann sie stur bleibt. «Surrender», sagt sie, sei nämlich gar nicht als Kapitulation im Sinne von Aufgabe zu verstehen, sondern im Sinne einer Hingabe, eines bewussten Nachgebens an das Gefühl.

Als Rogers vor ein paar Jahren auf der Bühne vor einem voll gefüllten Saal dazu aufgefordert wurde, sich auszuziehen («Catcalling» nennt man das), reagierte Rogers, obwohl sichtlich verunsichert, mit so viel spontaner Würde, dass ihr auf ewig ein Platz als feministische Popikone sicher ist.

Die paar Minuten gehen unter die Haut, nicht nur deswegen, weil Rogers nach einer schlagfertigen Antwort länger um Fassung ringt («Ich fühl mich jetzt grade ganz schön unwohl») und man sich für die grölenden Männer fremd­schämt. Neben der schieren Misogynie der Situation wird schmerzhaft deutlich, dass eine erfolgreiche Frau eigentlich so viel Image­pflege einer working woman betreiben und tatsächlich so hart arbeiten kann, wie sie will – am Ende kann irgendwo ein Mann in der Ecke stehen und sie aufs Frausein und den Körper reduzieren.

Auf Twitter schrieb Rogers später, wie sehr sie die Episode verletzt habe. «I step on stage every night and give every part of me», stand da. Ein ähnlich irritierender, wenn auch nicht ganz so offensichtlich unangenehmer Moment war der, als Pharrell Williams, ihr ehemaliger Mentor, während eines Gesprächs, in dem es um ihre Musik ging, sagte, er könne nicht aufhören, ihr «70er-Jahre-Gesicht» anzuschauen.

Das neue Album «Surrender» ist nach einer Zeit entstanden, in der sich Rogers vom Trubel von «Heard It in a Past Life» und von Geschehnissen wie diesen (und mutmasslich vielen anderen, die nicht auf Band oder im Internet festgehalten wurden) erholen musste. Wenn man das Album vor diesem Hintergrund noch mal anhört, versteht man es sehr viel besser.

«Surrender» kann man als ausgestreckten Mittelfinger an all die Catcaller und Gesicht­starrer da draussen lesen, auch wenn Rogers jeder zu aufgeladenen Lesart widerspricht. Sie sehe sich nicht dezidiert als politische Künstlerin, sagt sie auf meine Nachfrage, sie nehme lediglich Songs über die Dinge auf, die sie beschäftigen und berühren. Dazu zählen der Klimawandel ebenso wie ein Gefühl in einer Beziehung.

Das tönt nun wirklich unoriginell nach Popstarisierung, nach Untergang im Mainstream, nach Ununterscheidbarkeit.

Der Unterschied zwischen «work» und «hard work»

Rogers hat trotz alledem über Jahre überzeugend aufgezeigt, dass sie nicht für sich entscheiden lässt. «Alaska», der Song, der sie berühmt machte, kam, nachdem Pharrell ihn gehört hatte, nahezu unverändert auf ihr Album. Niemand hat mehr gross daran herumgedoktert.

Auf dem neuen Album manifestiert sich ausserdem, was der Unterschied zwischen work und hard work ist. Denn die zwei Songs, an die man sich nach dem Hören von «Surrender» gerne erinnert, sind die, an denen Rogers monatelang gearbeitet hat, wie sie im Gespräch mit der Republik erzählt. (Das fatale «Horses» dagegen sei einfach so aus ihr herausgesprudelt.) Songschreiben, zur Erleichterung für uns Normal­sterbliche, ist also kein gottgegebenes Talent.

An «Anywhere With You», einem Song über eine kurze Flucht aus der Alltags­angst, hat Rogers fast zwei Jahre gefeilt.

«Anywhere With You» ist eine klassische, sich steigernde Pophymne, die zunächst als harmlose Klavier­ballade startet. Der Text beweist, wie gut Rogers einerseits ein Endzwanziger­gefühl auf den Punkt bringen kann, nämlich das vom Beginn des restlichen Lebens («Du erzählst mir, was du eigentlich alles sein wolltest, die ganze Zeit. Ob das so falsch war?»). Er handelt andererseits von der Beziehung zu einer Freundin oder einem Freund, die vielleicht doch die grosse Liebe ist, weil diese Beziehung, im Vergleich zu Liebes­beziehungen, bestehen bleibt («Alles, was ich immer wollte, war nur, dass irgendwas hält»).

Die andere Ausnahme des Albums ist ein wunderbares Beispiel für Gewinn durch Minimalismus: «I’ve Got a Friend» ist der einzige unverstärkte Song des Albums, Bar-Atmosphäre mit Klavier­geklimper und klirrenden Gläsern, gezupfte Akustikgitarre. Für das Arrangement hat Rogers ein Jahr gebraucht.

Es hat sich gelohnt.

Warum sie nicht an allen Songs so lange gefeilt hat? Hier liegt dann doch die Vermutung nahe, dass der Erwartungs­druck an Rogers inzwischen höher ist als vor zehn Jahren und sie es sich schlicht nicht leisten kann, für elf Songs zwei Jahrzehnte zu brauchen.

Mangelnde Originalität und Eigen­verantwortung widersprechen sich nicht. Und mit dem Erwartungs­druck als Pull-Faktor musste Rogers als Geschäfts­frau irgendwie umgehen.

Auf Twitter schrieb sie vor einigen Tagen: Es gehe beim Kunstschaffen nicht um das Ergebnis. Sondern um den Prozess, und der habe einen Riesenspass gemacht.

Auch das klingt wieder ziemlich austauschbar. Aber könnte es nicht sein, dass dem einfach so ist? Das ist ja etwas, das von Kritikerinnen oft vergessen wird – vielleicht steckt eben einfach nicht mehr dahinter. Vielleicht ging es Maggie Rogers ernsthaft mehr um den Prozess, zeitweise zumindest; so lange, wie sie es für richtig hielt. Im Ergebnis ist das immer noch schade für die Hörerinnen, aber hey, good for her?

Wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt, wird das Album nicht musikalisch raffinierter oder überraschender. Aber man erkennt eine Musikerin als die selbstbestimmte Künstlerin an, die sie ist.

In einer früheren Version nannten wir «Heard it in a Past Life» das zweite Album von Maggie Rogers – richtigerweise ist es das erste Studioalbum. Wir haben die Stelle korrigiert und bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.

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