Amin ist der Protagonist in Rasmussens Film «Flee». Darin erzählt er von seiner dramatischen Flucht von Afghanistan bis nach Dänemark. Filmcoopi Zürich

«Den echten Horror des Krieges zu zeigen, war mir besonders wichtig»

Jonas Poher Rasmussen drehte mit «Flee» einen Dokumentar­film über die Flucht­geschichte seines besten Freundes. Ein Gespräch über traumatische Erinnerungen, die Vorzüge des Doku-Animationsfilms und eine spezielle Interview­methode.

Von Quentin Lichtblau, 21.07.2022

Synthetische Stimme
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Wie genau sein bester Freund Anfang der Neunziger aus Afghanistan in das kleine dänische Dorf gekommen war, wusste der Filme­macher Jonas Poher Rasmussen jahrzehntelang nicht. Als Rasmussen ein Teenager war, fiel ihm der Junge – im Film heisst er schlicht Amin – erst mal wegen seiner coolen hohen Buffalo-Schuhe auf. Und obwohl es im Dorf Gerüchte gab, dass Amins gesamte Familie getötet worden und er den ganzen Weg von Kabul zu Fuss gelaufen war, fragte Rasmussen all die Jahre nicht genauer nach.

Erst als beide gefestigt im Leben standen – Amin als Post­doktorand und Rasmussen als Radio- und Filme­macher –, begann Amin sich zu öffnen: In einem therapie­artig anmutenden Interview-Setting zeichnete Rasmussen jahrelang Interviews mit ihm auf, in denen sein Freund detailliert die Jugend in Kabul, die Flucht ins Moskau der Neunziger­jahre und schliesslich den Weg nach Europa beschreibt.

Aus diesen Aufnahmen ist «Flee» entstanden, ein zu grossen Teilen animierter, von Amins Stimme begleiteter Film, der eindrücklich darlegt, wie sehr ein glückliches Leben oft allein vom Geburts­ort und von der historischen Gross­wetterlage abhängt.

«Flee» ist der vierte Film des Regisseurs Rasmussen und gewann über 60 internationale Filmpreise, bei den Oscars 2021 war er in drei Kategorien nominiert. Heute Donnerstag läuft der Film in den Deutsch­schweizer Kinos an.

Abgesehen von den mitunter abgrund­tiefen Ungerechtigkeiten, die Amins Familie auf der Flucht widerfahren, der Willkür von Schleppern und Grenz­polizisten zeigt «Flee» auch Erlebnisse Amins, die in Flucht­geschichten oft unerwähnt bleiben. Eine glückliche, liberale Kindheit in Kabul, einen Flirt im Schlepper­van, sein heutiges Leben als Akademiker; hin- und hergerissen zwischen der grossen Karriere und den Nestbau­tendenzen seines Partners Kasper.

Herr Rasmussen, ist es als Dokumentar­filmer nicht schwierig, einen biografischen Film über seinen besten Freund zu machen?
Es ist zumindest nicht leicht. Mir war es wichtig, dass der Entstehungs­prozess immer eine Art Dialog zwischen uns bleibt. Ich wollte zu hundert Prozent sichergehen, dass Amin genau weiss, was ich vorhabe. Es gibt da etwa diese Szene, in der Amin als junger Mann seine Betreuerin in Dänemark fragt, wo er eine Medizin gegen sein Schwul­sein findet. Amin fand diese Szene natürlich ein wenig peinlich, er wollte sie nicht verwenden. Mir aber war sie sehr wichtig, weil man an ihr ablesen konnte, aus welcher Perspektive er bis dahin auf seine Homo­sexualität geblickt hatte. Die Szene wiederum, in der Amin sich nach einem gescheiterten Flucht­versuch in einem estnischen Gefängnis wieder­findet, wollte ich eigentlich aus dem Film nehmen. Er enthielt bereits viele wirklich heftige Szenen. Aber darauf sagte Amin: «Wenn dieser Teil fehlt, ist das nicht meine Geschichte, das war einer der schlimmsten Momente meines Lebens.» Natürlich blieb die Szene dann im Film.

Sie verwenden einen sehr speziellen Interview­stil: Amin beantwortet Ihre Fragen liegend, mit geschlossenen Augen. Sie versuchen, ihn in bestimmte, oft auch verstörende Momente seines Lebens zurück­zuversetzen, aus denen er dann im Präsens berichtet. Ein fast schon therapeutisches Setting. Hatten Sie manchmal Angst, dass Sie mit dieser Methodik zu weit gehen könnten?
Ich habe das selbst als gar nicht so therapeutisch wahrgenommen und hatte auch nie das Gefühl, dass nun besser ein Therapeut an meiner statt das Gespräch übernehmen sollte. Die Interview­technik kannte ich von meiner Arbeit für das Radio, in Dänemark nennen wir diese Technik Moment-Interview. Es geht dabei darum, in den Beschreibungen eine Gegenwärtigkeit zu erzeugen und die Interviewten dazu zu bringen, jedes optische Detail präzise zu beschreiben – was im Radio natürlich besonders wichtig ist. Anstatt einfach eine Geschichte zu erzählen, durchlebt sie der Interview­partner erneut.

Der dänisch-französische Filmregisseur und Drehbuchautor Jonas Poher Rasmussen (41) geht der Geschichte seines Freundes auf den Grund – und beschreibt zugleich reale Weltgeschichte. Mads Claus Rasmussen/Scanpix/Keystone

Wenn Amin etwa erstmals davon erzählt, wie er als Kind seinen Vater verloren hat, scheint das durchaus riskant.
Natürlich hat Amin bei unseren Interviews auch traumatische Ereignisse erneut durchlebt. Aber er hatte über diese Erlebnisse jahrzehntelang geschwiegen, niemand kannte seine Geschichte. Endlich fühlte er sich stark genug, sie zu erzählen. Wenn er noch nicht bereit war, ein bestimmtes Ereignis anzusprechen, haben wir es erst einmal übersprungen. Allein für die Interviews haben wir vier, fünf Jahre gebraucht. Ich habe ihm in den ersten Jahren natürlich auch immer die Option offen­gehalten, das ganze Projekt abzubrechen.

Gab es solche Momente, in denen das ganze Projekt auf der Kippe stand?
Ja, aber eher zu Beginn. Amin war sich noch unsicher, ob er tatsächlich seine ganze Geschichte offenlegen sollte. Vor den Asyl­behörden hatte er immer erzählt, dass alle seine Angehörigen tot seien, weil ihm das die Schleuser so eingebläut hatten. Er dachte, er könnte seine Staats­bürgerschaft verlieren, wenn herauskäme, dass er noch Verwandte in Schweden hat und eine falsche Geschichte erzählt hatte. Wir haben dann einen Asylrechts­experten seine Akte einsehen lassen, und der erkannte sofort: Das Asyl wurde nicht aufgrund von Amins Geschichte ausgesprochen, sondern einfach, weil er ein unbegleiteter Minder­jähriger aus einem Kriegs­gebiet war. Damit waren seine Ängste in dieser Hinsicht verschwunden. Er konnte sich öffnen.

Es gibt eine sehr beeindruckende Szene, in der Amin mit einem schrottreifen Boot versucht, von Estland nach Schweden einzureisen. Der Motor fällt aus, das Boot füllt sich mit Wasser – und plötzlich taucht ein vermeintlich rettendes Kreuzfahrt­schiff auf. Die Leute auf Amins Boot beginnen zu jubeln, aber Amin schämt sich vor den Kreuzfahrt­touristen, die auf das Boot hinunter­blicken und Fotos schiessen. Hat es auch mit Scham zu tun, dass er seine Geschichte so lange für sich behalten hat?
Auf jeden Fall. Amin mag diese Perspektive auf sich als hilfloser Mensch überhaupt nicht. Eines der ersten Dinge, die er mir sagte, bevor wir mit der Arbeit an dem Film begannen, war: «Ich will nicht als Opfer dastehen.» Da war es hilfreich, dass es sich bei «Flee» um einen Animations­film handelt und Amin anonym bleiben kann. Er entscheidet trotz des Films weiterhin selbst, wem er sich mit seiner Geschichte anvertraut. Ansonsten würde er wahrscheinlich permanent gefragt: «O mein Gott, wie hast du das nur überstanden? Das muss ja total schrecklich für dich gewesen sein!»

Abgesehen von diesem Anonymisierungs­effekt: Wie wichtig war es für den Film, dass er zu grossen Teilen gezeichnet ist?
Bei Dokumentationen ist es immer eine riesige Heraus­forderung, Dinge darzustellen, die in der Vergangenheit passiert sind. Das kann man natürlich mit Schauspielern nachstellen. Aber ich finde, dass einem das Zuschauer­hirn da immer noch zuraunt: Das ist ein Schauspieler, das ist nicht die Figur, von der da die Rede ist. Amins gezeichnete Erinnerungen, zum Beispiel an das Haus seiner Kindheit in Kabul, wirken durch die Animation viel präziser und näher, als wenn wir da eine Gruppe kostümierter Schauspieler hingestellt hätten. Emotionen lassen sich zeichnerisch anders darstellen, expressiver, das kommt noch dazu. Immer, wenn Amin traumatische Momente beschrieben hat, wie etwa die gescheiterte Flucht aus Estland, kam er ins Stocken, ihm gingen die Worte aus. Die Beschreibungen wurden vager, dafür traten seine Emotionen mehr in den Vorder­grund. Durch die Animation konnten wir auch diese Unschärfe darstellen, sein Suchen nach Worten und verdrängten Momenten, die Angst, die Trauer, die Wut.

Wie schwierig ist es in diesen vagen Szenen, als Dokumentar­filmer den Fakten treu zu bleiben?
Das ist natürlich generell ein Problem beim Dokumentarfilm. Man muss das richtige Mass zwischen den Fakten und ihrer Inszenierung finden. Wir haben dabei für uns feste Regeln aufgestellt, wie oft wir diese traumartigen, vagen Elemente einfliessen lassen: und zwar nur dann, wenn es für Amin auch wirklich heraus­fordernd war, die Szene zu beschreiben. Manchmal wussten wir tatsächlich nicht, wie eine Szene sich abgespielt haben könnte. Etwa, wenn Amin erzählt, wie seine Schwestern zu zweit versucht haben, in einem Schiffs­container nach Europa zu kommen. Er war damals nicht dabei, also mussten wir das auch in der Animation so schemenhaft darstellen, wie er es aus den Erzählungen seiner Schwestern mitbekommen hat.

In manchen Momenten haben Sie sich wiederum für echtes Archiv-Filmmaterial entschieden anstatt für animierte Bilder. Zum Beispiel, als selbst ernannte Gottes­krieger Kabul einnehmen. Man sieht rohe Gewalt, blutüberströmte Körper auf der Strasse.
Ich wollte den Menschen in diesen Momenten vor Augen führen, dass wir es hier nicht nur mit einem Einzel­schicksal, sondern realer Welt­geschichte zu tun haben, die Millionen von Menschen betrifft. Den echten Horror des Krieges zu zeigen, war mir besonders wichtig. Die Zuschauer sollen verstehen: Wäre Amin in Kabul geblieben, hätte er einer dieser toten Körper auf der Strasse sein können.

Animierte Szenen lassen Amin – und damit auch seine Homosexualität – anonym erscheinen. Sie zeigen nicht nur seine verstörende Vergangenheit, sondern auch sein heutiges akademisches Leben. Filmcoopi Zürich

Sie zeigen in Ihrem Film nicht nur Amins dramatische Flucht­geschichte, sondern auch sein heutiges Leben in Dänemark, die Höhen und Tiefen der Beziehung zu seinem Freund Kasper, seine akademische Karriere als Post­doktorand – in vielen Teilen eben auch ein völlig alltägliches Leben als Bürger in einem neuen Land. Erfährt man, wenn es um Flucht­geschichten geht, zu selten etwas über dieses Leben «danach»?
Es ist auf jeden Fall ein Problem, dass wir Menschen sehr schnell in Schubladen stecken, aus denen sie dann fast nicht mehr heraus­kommen. Wenn jemand ein Geflüchteter ist, dann ist das in der öffentlichen Wahrnehmung gewisser­massen alles, was er ist und tut. Er wird Teil einer weitestgehend anonymen Masse, er wird dehumanisiert. Aber mein Film hatte in dieser Hinsicht eine sehr ungewöhnliche Ausgangs­lage. Ich dachte ja nicht: «Ich würde gerne mal einen Film über Flucht machen und suche mir dafür einen Geflüchteten.» Mein Antrieb war eher: «Ich habe da diesen sehr guten Freund, und der hat ein Geheimnis, dem ich auf den Grund gehen möchte.» Die Grundlage des Films ist unsere Freundschaft. Und ich kenne Amin eben die meiste Zeit als diesen Typen, der Katzen liebt, ein brillanter Akademiker ist, der manchmal Beziehungs­probleme hat und dessen Freund Kasper heisst.

Seit Sie 2013 mit dem Film begonnen haben, ist in Europa in Sachen Migrations­politik viel passiert. Hat das die Arbeit am Film beeinflusst?
Ich habe eigentlich versucht, gar keinen so politischen Film zu machen. Aber natürlich hat sich meine Perspektive durch die Ereignisse während der sogenannten Flüchtlings­krise im Jahr 2015, die meiner Meinung nach eher eine humanitäre Krise war, verändert. Was zunächst nur als Film über einen Freund gedacht war, hatte nun die Chance, diesen Menschen ein Gesicht zu geben. Als der Film fertig war, bekam er mit dem Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan noch eine zusätzliche, sehr traurige Relevanz. Die Bilder der Taliban in Kabul vom vergangenen August waren sehr ähnlich zu den historischen Szenen, die ich im Film verarbeitet habe.

Obwohl Amins Flucht schon Anfang der Neunziger begann, sind für Millionen Geflüchtete die wesentlichen Elemente auf dem Weg nach Europa gleich geblieben: lebens­gefährliche Flucht­routen über das Meer, Schlepper, Pushbacks, Abschottung der Länder nach aussen. Dänemark ist in den letzten Jahren durch besonders rigide Massnahmen aufgefallen, etwa durch Zwangs­umsiedlungen und Abschiebungen nach Syrien. Wie blicken Sie auf den aktuellen Umgang Europas mit Geflüchteten?
Eigentlich neige ich eher dazu, optimistisch zu denken, aber natürlich fällt einem das momentan schwer. Was mich gerade sehr stört, ist die Art, wie hier in Dänemark, oder wahrscheinlich auch in ganz Europa, über Flucht diskutiert wird. Es geht im Prinzip immer darum, ob man für oder gegen Flüchtlinge ist, als ob irgend­jemand freiwillig zum Flüchtigen würde. Wir sehen ja gerade am Krieg in der Ukraine, wie schnell aus einem normalen Leben eine Flüchtlings­biografie werden kann, egal wo. Solange wir über das Thema nach dieser Dafür-oder-dagegen-Logik diskutieren, wird dieser verhärtete Diskurs auch zu härteren Gesetzen führen. Ich empfinde es als Filme­macher als meine Aufgabe, nuanciertere Perspektiven aufzuzeigen.

In den Feuilletons gab es zuletzt oft Debatten, wer berechtigt ist, wessen Schicksal künstlerisch zu verwerten. Ihr Film feiert riesige Erfolge, Sie reisen von Festival zu Festival, «Flee» war sogar für mehrere Oscars nominiert. War Amin nie versucht, aus dem Schatten der Anonymität zu treten und zu sagen: «Das bin ich, das ist meine Geschichte»?
Das wird nicht passieren. Er freut sich natürlich sehr über den Erfolg des Films. Er hat mir etwa gesagt, dass er lange kaum Filme oder Geschichten kannte, mit denen er sich identifizieren konnte, und dass sich durch den Film nun viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen repräsentiert fühlen können. Aber er will nicht auf irgend­welchen Podien sitzen und über sein Trauma sprechen. Er schaut sich das lieber von der Seiten­linie aus an.

Zum Autor

Quentin Lichtblau ist freier Kultur­journalist. Er schreibt unter anderem für «Süddeutsche Zeitung» und «Zeit».

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