Die geplante Unabhängigkeit der einzelnen Republiken der damaligen Sowjetunion gefiel nicht allen. Der Putsch im August 1991 gegen die Neuregelung scheiterte, bei einer Demonstration danach wird in Moskau eine Sowjetfahne verbrannt. Dimitri Korotayev/AFP/Getty Images

Alles nur Revanche?

Es heisst, Russland sei vom Westen provoziert, ja gedemütigt worden. Auch der Aggressions­krieg von Hitler­deutschland wurde auf genau diese Weise gerechtfertigt.

Eine Analyse von Thomas Hüetlin, 15.07.2022

Synthetische Stimme
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«Jeder, den wir treffen, ist so lange ein hinterhältiger Schurke, bis er uns das Gegenteil beweist», sagte Andrei, mein Übersetzer. Wir standen auf der alten Seidenstrasse im hintersten Teil Kirgistans – unweit der chinesischen Grenze – und sollten beschreiben, wie tonnenweise Opium auf diesem Weg Richtung Europa befördert wurde.

Die korrupte Polizei arbeitete mit den Schmugglern zusammen. Im Gegensatz zum Staat, von dem die Ordnungs­hüter monatelang kein Gehalt mehr bekommen hatten, zahlten die Gangster pünktlich und in bar.

Es war eine surreale Szenerie hier in der kleinen Stadt Osch: Auf dem Basar verkauften mongolisch aussehende Menschen Pferde­milch und Poster des deutschen Barden Heino, dazwischen Polizisten in ihren teuren Privat­limousinen, vorzugs­weise von Mercedes und BMW. Es waren die letzten Jahre der Jelzin-Regierung. Kirgistan hatte seine Unabhängigkeit von der Sowjet­union bereits 1991 erklärt, aber zum Besseren gewendet hatte sich nicht viel.

Zum Schlechteren dafür einiges. Zum Beispiel die alte Seidenstrasse, die jetzt Opium Highway hiess.

Andrei, der Übersetzer, hasste die neuen Zeiten nicht direkt. Nur anfangen konnte er mit ihnen fast nichts. In seinem früheren Leben hatte er als Elite­soldat der Sowjet­union gedient. Ausgebildet in einer Kadetten­schule, hatte er in Angola und Afghanistan gekämpft. Die meisten seiner Mitschüler hatten diese Einsätze nicht überlebt. Andrei hatte alles ziemlich unversehrt überstanden, aber dem chaotischen Frieden der Jelzin-Jahre konnte er nichts abgewinnen. Der Alltag in Moskau mache ihn depressiv, sagte er. Auch in der russischen Hauptstadt gelte seine Lebensregel: «Jeder ist ein hinterhältiger Schurke, bis er das Gegenteil beweist.»

Das «gedemütigte» Imperium

Dieses tiefe Misstrauen gegenüber der Welt hatte Andrei in der Sowjetunion gelernt und bewahrt – und in der Freiheit der post­sowjetischen Zeit war es nicht kleiner geworden, eher grösser. Das Wort der «Demütigung» durch den Westen fiel noch nicht, aber alles, worauf Andrei stolz war während der Sowjet­zeiten, zählte nun nichts mehr.

Demütigung – dieses grosse Wort fällt nun immer wieder, wenn darüber gerätselt wird, warum Putin am 24. Februar diesen Krieg begonnen hat und ihn mit einer Brutalität und Verachtung führt, die uns in Europa schockiert und Sorgen bereitet.

Diese Demütigung hat weniger mit der Ost­erweiterung der Nato zu tun. Tatsächlich steht nicht eine Atom­rakete der Nato auf den Gebieten des ehemaligen Ostblocks, und auch Putin hat noch 2004 erklärt, dass ihn die Ost­erweiterung der Nato «nicht übermässig» sorge. Viel dramatischer bewegt hat den russischen Despoten der Zerfall der Sowjetunion in den 90er-Jahren – ein Vorgang, den er schliesslich als die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts beschrieben hat.

Boris Jelzin sprach sich als Präsident der Russischen Föderation in seiner Rede am 19. August 1991 vor dem russischen Parlament in Moskau explizit für die Unabhängigkeit der Republiken aus. Stringer/Reuters

Die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts war für ihn nicht der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs – mit den 27 Millionen Toten, die dieser Vernichtungs­krieg, von den Nazis euphemistisch «Unternehmen Barbarossa» getauft, auf der sowjetischen Seite forderte. Die grösste Katastrophe ist für Putin ein Vorgang, der nicht mit dem Verlust von Menschen­leben verbunden war, sondern bestenfalls mit dem Verlust von Gebieten, die sich das Sowjet­imperium einverleibt hatte.

Es geht Putin um Macht. Geschwundene Macht, die er nun wieder auszuweiten versucht durch einen imperialen Krieg.

Der deutsche Präzedenzfall

Demütigung kann ein sehr starkes Gefühl sein. Es war weitverbreitet in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem aufgezwungenen Friedens­vertrag von Versailles. Der Journalist Paul Becker schrieb damals über Versailles und die Folgen: «Worte reichen nicht aus, um der Empörung und dem Schmerz Ausdruck zu geben. Das ist Verrat am deutschen Volk selber, das die Folgen durch die Jahrhunderte des Niedergangs und des Elends zu tragen haben wird.» Jahrhunderte des Niedergangs und des Elends, so düster blickten Becker und viele Deutsche in die Zukunft. Lieber sofort einen neuen Krieg beginnen als sich diesem Frieden fügen.

Und in der Tat: Der Vertrag von Versailles war eine Zumutung. Selbst der französische General Ferdinand Foch, der Oberbefehls­haber der Alliierten an der Westfront, gab zu: «Dies ist kein Friedens­vertrag, das ist bestenfalls ein Waffen­stillstand auf 20 Jahre.»

Foch sollte mit seiner Einschätzung recht behalten. Fürchterlich recht behalten. Der Versailler Vertrag bedeutete für das Deutsche Reich Gebiets­verluste im Osten und Westen, ein Heer zurückgestutzt auf 100’000 Mann und die grotesk hohe Summe von 20 Milliarden Goldmark an Kriegs­schulden. Der Vertrag war darauf angelegt, Deutschland so schnell nicht wieder gefährlich werden zu lassen. Ein tiefes Misstrauen, das der spätere britische Premier Winston Churchill so beschrieb: «Du hast den Hunnen immer entweder an der Gurgel oder zu deinen Füssen.»

Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, Leiter der kriegs­verlängernden Reichs­rohstoff­abteilung im Ersten Weltkrieg, sah den Vertrag von Versailles ebenso als Demütigung, aber seine Antwort auf diese Demütigung hiess «Erfüllungs­politik».

Rathenau war eine schillernde, bisweilen widersprüchliche Figur. Humanistisch-jüdisch gebildet, sprach er fünf Sprachen fliessend, hatte Natur­wissenschaften studiert und trotzdem seine künstlerischen Neigungen mit Dutzenden von Büchern und über 70’000 Briefen nie verleugnet.

Im Preussen Wilhelms II. hatte Rathenau lange versucht, im Militär oder in der Politik eine hohe Stellung zu erlangen, was nicht gelang, da zu dieser Zeit Aufstiegs­chancen deutschen Juden in beiden Bereichen verwehrt waren. Im Ersten Weltkrieg hatte Rathenau bis zum bitteren Ende für einen deutschen Sieg-Frieden gekämpft, aber als mit der Weimarer Republik endlich die Demokratie Einzug gehalten hatte in Deutschland, zählte er zu jenen Bürgerlichen, die die Möglichkeiten der neuen Zeit erkannten und begrüssten. Auch deshalb «Erfüllungs­politik».

Also durch die friedliche Erfüllung des Vertrags allmählich wieder das Vertrauen der siegreichen Nachbarn erwerben. Wieder auf Augenhöhe kommen. An die Verhandlungs­tische. Und schliesslich wie bei einem Straf­gefangenen, der sich gut führt, eine allmähliche Reduzierung der Deutschland auferlegten Kriegs­schulden erwirken.

Das war Rathenaus Plan, den er umzusetzen versuchte, zuerst als Wiederaufbau­minister, schliesslich als Aussen­minister. Wandel durch Handel heisst das heute. Frieden, Aussöhnung und wirtschaftliche Zusammen­arbeit, am besten eingebunden in eine kooperierende Staaten­gemeinschaft. Rathenau schwebte etwas vor, was man als Vorstufe der EU bezeichnen könnte.

Die meisten gedemütigten Deutschen, die den Ersten Weltkrieg als Chance gesehen hatten, Deutschland als mächtigste Kraft Europas zu etablieren, wollten aber von Kooperation und wirtschaftlicher Zusammen­arbeit nichts wissen. Sie wollten herrschen. Bei der gross­flächigen Ausplünderung Afrikas war man zu spät gekommen. Folglich müsse Deutschland seine Kolonien im Osten Europas errichten. Rathenaus Plan von einer West­bindung wurde an den Stamm­tischen, aber auch von vielen Universitäts­professoren als Verrat gegeisselt.

Die Antwort des Terrors

«Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau», hiess bald eine Parole, die zum Gassen­hauer wurde – auch in besseren Kreisen. Die Wut hatte begonnen, zum guten Ton zu gehören. Die Organisation Consul, ein rechter Geheim­bund, der mit Geldern des Adels, der Industrie, aber auch der Reichs­wehr betrieben wurde, wollte den Umsturz. Ihre Mitglieder begingen politische Morde, organisiert in kleinen Zellen, mit Lust und Überzeugung.

«Möge er treiben, was die Schwätzer Erfüllungs­politik nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge fechten», feuerte Erwin Kern, Anführer der Attentäter, die Rathenau 1922 ermordeten, seine Mit­verschwörer an. «Wir fechten nicht, damit das deutsche Volk glücklich werde. Wir fechten, um es in seine Schicksals­linie zu zwingen.»

Die Schicksalslinie, das vermeintlich Höhere, Bessere, Tiefere, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht, sie wird immer wieder gern bemüht, wenn angeblich Gedemütigte zu den Waffen greifen oder zu den Waffen greifen lassen.

Vor 100 Jahren waren es die sich um ein privilegiertes Leben betrogen fühlenden Söhne vieler Deutscher – die Attentäter von Rathenau entstammten durchweg sogenannten «guten» Familien. Heute sind es auf internationaler Ebene Putin und seine Günstlinge, die ihre Privilegien verteidigen und andere manipulieren. Wenn man den Weihrauch und den Pulver­dampf, mit denen die Gedemütigten ihre Mission gerne verklären, herausnimmt, bleibt von der höheren Schicksals­linie nur jene ultra­nationalistische Unterwerfungs­mechanik, mit der bereits der Staats­rechtler Carl Schmitt Hitlers Nazi­deutschland unterfüttert hat.

Wichtigste Aufgabe des Staates ist es nach Schmitt, den Feind zu definieren. Der Feind, das sind der Fremde und alle anderen, die es darauf abgesehen haben, die angeblich reine Identität des Volkes zu besudeln und zu zerstören. Rathenau eignete sich als Feind bestens. Er war Jude, gehörte der Elite an, und er kämpfte für Internationalismus und Frieden.

«Wenn es eine Macht gibt, die wir mit allen Mitteln zu vernichten die Aufgabe haben, dann ist es der Westen und die deutsche Schicht, die sich von ihm überfremden liess», schwor Kern die jungen Attentäter auf den Anschlag ein. Rathenau, so stilisierte ihn Kern, sei die «reifste Frucht» von allem Hassens­werten und müsse deshalb vernichtet werden.

Putins Forderung, vermeintliche drogenabhängige Nazis in der Ukraine zu vernichten, ist die oligarchen­russische Version dieser faschistischen Matrix, so sieht es der US-Historiker Timothy Snyder.

Mit Hass die Misere überspielen

Übersteigerter, gewalttätiger Nationalismus ist eine ideologische Droge, die die Wunden der Gedemütigten zwar nicht heilt, aber betäubt. Russland ist eines der sozial ungleichsten Länder der Welt, die meisten Menschen leben in Armut. Wie genügsam, aber auch resigniert viele Russen ihr Leben verbringen, kann man oft in entlegenen Gebieten an Land­strassen betrachten, wo auch bei zweistelligen Minusgraden russische Frauen mit einer Handvoll Kartoffeln stehen, die sie zu verkaufen versuchen, während eisiger Schnee auf sie rieselt.

«Hauptsache überleben, irgendwie» – diese jahrhundertealte Haltung vieler Russinnen ist auch in Putins 21. Jahrhundert für die meisten seiner Landsleute traurige Realität.

Putin und seine Oligarchen­kaste pressen die Menschen und das Land aus. Die Exzesse ihres ungeheuren und vulgären Reichtums werden offen zur Schau gestellt, ja zelebriert. Von den Jachten mit ihren gepanzerten und kugelsicheren Schlaf­zimmern und eigenen Raketen­abwehr­systemen bis zu den Pétrus-Weinen, in die auch schon mal Cola geschüttet wird, damit sie süsser schmecken. Weil eine Yacht trotz der Unterhalts­kosten von 64 Millionen Euro pro Jahr anscheinend zum Protzen nicht ausreicht, besitzt zum Beispiel der Milliardär Roman Abramowitsch fünf dieser absurden Angeberschiffe.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen in China ist es Putin nicht einmal gelungen, eine nennenswerte moderne Industrie aufzubauen – jenseits jener Rohstoffe, die in einer klima­neutraleren Welt kaum noch Platz haben werden. Diese Unfähigkeit, für seine Bevölkerung eine lebenswerte Zukunft herbeizuführen, tarnen Putin und seine Günstlinge mit immer neuen Kriegen und verbalen Eskalationen. Der Westen als «nuklearer Aschehaufen» ist eine ihrer Lieblings­metaphern im Dauer­bombardement der russischen Staatsmedien.

Die unausgesprochene Losung lautet: Du magst arm sein und krank und abgehängt von den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, aber du bist immer noch viel mehr wert als jene dekadenten, homosexuellen, frauen­freundlichen, verweichlichten Kreaturen des Westens.

«Europa ist ein Abschaum, der gelernt hat, hinterhältige und widerliche Dinge schön zu nennen», zitiert Historiker Snyder den russischen Schrift­steller Alexander Prochanow. Er ist zusammen mit dem Philosophen Alexander Dugin einer der wesentlichen Ideologen, auf die Putin vertraut. Und Prochanow fährt fort: «Die weisse Rasse siecht dahin: Homo-Ehen und Päderasten beherrschen die Städte, Frauen finden keine Männer mehr.» Das sind wahnhafte Gedanken­gebilde, aber es sind solche, die die Gedemütigten – damals wie heute – teilen.

Wie das Attentat Kerns und seiner Verschwörer am 24. Juni 1922 ein Mini-Kreuzzug gegen die Demokratie und die Werte des Westens waren, ist Putins Krieg der Beginn einer erneuten Zerstörungs­orgie, von der alte und neue Rechts­radikale schwärmen. Nicht umsonst fordert der Darth Vader der AfD, Björn Höcke, ein sofortiges Ende der Sanktionen gegen Russland. Kern und seine Verschwörer waren eine Art Avantgarde des Faschismus, der Deutschland später in den Abgrund stürzen sollte, Putin ist der späte Nachfahre solchen Denkens.

Bereits im Jahr 2010 formulierte Putin seine Vision eines Europa unter russischer Führung. Es sollte, so skizzierte er damals, «von Lissabon bis Wladiwostok» gehen. Kaum jemand von den verantwortlichen Politikerinnen der EU nahm ihn ernst oder wollte ihn ernst nehmen. Die billigen Rohstoffe waren wichtiger. Wenn Sicherheits­experten etwas beizutragen hatten, zum Beispiel über die besorgnis­erregende Aufrüstung, die Putin seit Mitte der Nullerjahre betrieb, wurden sie gern behandelt wie nervige Bedenken­träger, Rüstungs­nerds, die in einem Meeting ins Nichts monologisieren, während die anderen schon in ihre Handys tippen, um den nächsten lohnenden Deal klarzumachen.

Kriege, so die Haltung vieler westlicher Politiker, seien etwas aus dem letzten Jahrhundert – ignorierend, dass Putin seit seinem Macht­antritt bereits vier Kriege geführt hatte.

Wann und wie sein fünfter Krieg endet, weiss kein Mensch. Derzeit scheint ein eingefrorener Konflikt, der immer wieder aufflammt, die wahr­scheinlichste Prognose. Wobei Putin es nicht besonders eilig hat. Der Grosse Nordische Krieg seines Vorbilds Peter des Grossen dauerte 21 Jahre. Was immer auch kommt – der Westen sollte in Putin nicht noch einmal die Illusion nähren, dass es sich lohnen könnte, seine faschistischen Vorstellungen von der Zukunft herbeizubomben.

Auch dies ist eine historische Lehre aus den Mordtaten der rechten Terror­zellen vor 100 Jahren. Wäre man damals konsequenter gegen die Feinde der Demokratie vorgegangen, hätte die deutsche Geschichte einen anderen Verlauf genommen.

Zum Autor

Der Journalist Thomas Hüetlin wurde bekannt als Reporter, Korrespondent und Kultur­redaktor beim «Spiegel». Heute ist er freier Publizist. Zuletzt ist von ihm das Buch «Berlin, 24. Juni 1922» erschienen, eine packende Geschichts­reportage, die von der Ermordung Walther Rathenaus, dem Beginn des rechten Terrors in Deutschland und dem Abgleiten der Weimarer Republik in das Naziregime handelt. Das Buch wurde vom deutschen Feuilleton sehr gelobt, besonders weil es so erhellend für die heutige Zeit ist.

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