Binswanger

Denn wir wissen, was sie tun

Eine Zeugin belastet Donald Trump in den Untersuchungen zum Kapitol-Sturm schwer. Ihre Aussagen zeigen, wie heillos beschädigt die amerikanische Demokratie inzwischen ist.

Von Daniel Binswanger, 02.07.2022

Synthetische Stimme
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Es war mal wieder einer dieser Das-kann-nicht-wahr-sein-Momente. Wo man daran zweifelt, dass das, was man gerade sieht, tatsächlich stattfindet. Wo man sich von der Realität, so wie sie sich offenbart, am liebsten angewidert abwenden möchte. Und dann doch der Faszination für das absurde Spektakel erliegt.

Cassidy Hutchinson, die Assistentin von Präsident Trumps letztem Stabschef Mark Meadows, hatte aus allernächster Nähe mitbekommen, was am 6. Januar 2021 – dem Tag, als ein entfesselter Mob zum Teil bewaffneter Trump-Anhänger das amerikanische Parlament stürmte – im Weissen Haus vor sich gegangen war. Am letzten Dienstag hatte sie vor der Untersuchungs­kommission des Repräsentanten­hauses einen atemberaubenden Auftritt.

Die von der Zeugin geschilderten Vorgänge an diesem Schicksals­tag der amerikanischen Demokratie belasten den ehemaligen Präsidenten aufs Schwerste. Sollte sich Hutchinsons Version der Ereignisse bestätigen lassen, sind keine Zweifel möglich, dass Trump den Versuch einer gewaltsamen Verhinderung der Amts­einsetzung seines Nachfolgers nicht nur passiv geschehen liess, sondern absichtlich herbei­führte. Und Cassidy Hutchinson wirkte absolut glaubwürdig.

Es hätte ein erhebender Moment sein müssen. Eine bewunderungs­würdige junge Frau findet den Mut, öffentlich und unter Eid ein Zeugnis abzulegen, das für Trump zu einer unmittelbaren Bedrohung werden kann. Sofort setzte eine Verleumdungs­kampagne durch den Ex-Präsidenten und den TV-Sender Fox News ein. Hutchinson soll inzwischen unter Polizei­schutz stehen.

Aber so beeindruckend die Zivil­courage der ehemaligen Mitarbeiterin im Trump White House auch ist: Der eigentlich hoffnungs­volle Wirbel um ihre Aussagen hat auch einen beelendenden Effekt. Er konfrontiert uns mit den immer wilderen kognitiven Dissonanzen, die wir zu bewältigen haben, obwohl sie einen nahezu den Verstand kosten könnten. Und damit, wie heillos beschädigt die amerikanische Demokratie inzwischen ist.

Denn Hutchinsons sogenannte bombshell-Enthüllungen bekräftigen eigentlich nur, was wir schon lange wissen. Ihre Aussagen sind absolut spektakulär – bestätigen aber lediglich, was völlig evident gewesen ist. Hat nicht Trump selber in seiner Rede vom 6. Januar seine Anhänger aufgepeitscht mit den Worten: «Wenn ihr nicht kämpft wie in der Hölle, werdet ihr kein Land mehr haben!» Der Aufruf zum Kapitol-Sturm war keine Hinter­zimmer-Verschwörung, sondern eine offene Kommunikations­strategie.

Hat Trump damals nicht vor den TV-Kameras der ganzen Welt in die Menge gebrüllt: «Wir werden nie aufgeben! Wir werden die Niederlage nie akzeptieren! Das wird nicht geschehen!» Hat er seine Unter­stützerinnen nicht angewiesen: «Wir werden jetzt zum Kapitol gehen!» So redet man nicht am Tag der formellen Bestätigung des Amts­nachfolgers, wenn man es auf eine friedliche Macht­übergabe angelegt hat.

Trump forderte bekanntlich bereits im Wahlkampf während eines TV-Duells mit Joe Biden die rechts­extremen Milizen der «Proud Boys», die bei der Kapitol-Erstürmung eine zentrale Rolle spielten, dazu auf, «in Bereitschaft» zu bleiben. Er und seine Anwälte versuchten mit absolut allen erdenklichen Mitteln – massiven Druck­versuchen, gezielten Falsch­anschuldigungen, permanenten Lügen –, frei erfundene Geschichten von Wahl­manipulation zu verbreiten und die Verantwortungs­träger in den einzelnen Bundes­staaten dazu zu bringen, ihm selber mit Betrugs­manövern oder durch ein verfassungs­widriges, eigen­mächtiges Bestimmen der Wahl­männer ihres Staates doch noch den Sieg zuzuschanzen.

Das alles wissen wir schon lange. Wer so kriminell und ruchlos handelt, wer so offensichtlich zu allem bereit ist, um das Resultat einer demokratischen Wahl in sein Gegenteil zu verkehren, der wird auch mit der gewaltsamen Erstürmung des Parlaments kein Problem haben. Und auch nicht mit der Aussage, der eigene Vize­präsident, der von ihm zum Verräter erklärt wurde, verdiene es, ermordet zu werden, weil er sich an seine Amtspflicht hielt.

Trump machte am 6. Januar einen Putsch­versuch, auf den er mit allen juristischen, propagandistischen und gewaltsamen Mitteln, die er irgendwie mobilisieren konnte, konsequent hingearbeitet hatte. Das wissen wir seit dem Tag, an dem es geschah. In welches Irrenhaus hat sich Amerika verwandelt, dass es anderthalb Jahre später immer noch «enthüllt» werden muss?

Natürlich ändert sich die Lage nun rein formal­juristisch. Bisher konnte Trump behaupten, sein Aufruf zum Kampf auf dem Kapitol sei nur metaphorisch gemeint gewesen, und es habe lediglich eine friedliche Demonstration stattfinden sollen. Er sei nun einmal der Überzeugung gewesen – und sei es heute noch –, dass man ihn durch Wahl­betrug um seinen Sieg gebracht habe. Zwar sind diese Aussagen ganz offensichtlich absurd, aber vor einem Gericht könnte er damit durch­kommen. Wer kann schon beweisen, was im Kopf des Ex-Präsidenten vorgeht.

Erst jetzt, nach Hutchinsons Aussage, dürfte die Möglichkeit bestehen, Trump «kriminelle Absichten» in einem juristisch qualifizierten Sinn nachzuweisen. Unter anderem gab sie zu Protokoll, Trump sei explizit darauf hingewiesen worden, dass ein grosser Teil der Anhänger, die am 6. Januar seiner Rede gelauscht haben, bewaffnet gewesen sei. Dennoch hat er sie dazu aufgefordert, direkt von der Veranstaltung auf das Kapitol zu marschieren, und kündigte sogar an, sich an ihre Spitze zu setzen. Kann Trump gezielt bewaffnete Horden losschicken – und gleichzeitig behaupten, er habe lediglich eine «friedliche» Demonstration gewollt?

Die Antwort ist eindeutig – aber es ist im Grunde die falsche Frage. Mit solchen juristischen Spitzfindigkeiten sollte die «Führungs­macht der freien Welt» sich nicht herum­schlagen müssen. Donald Trump ist eine Gefahr für die Demokratie. Ein überwältigender Teil der amerikanischen Öffentlichkeit hätte spätestens am Abend des 6. Januars zu dieser Einsicht kommen und sich von Trump abwenden müssen.

Die Republikanische Partei müsste schon lange mit dem Ex-Präsidenten brechen und sich um eine neue Führungs­figur scharen. Aber all dies ist nicht geschehen. Die politischen Sanktions­mechanismen versagen vollständig. Trump ist weiterhin der aussichts­reichste republikanische Präsidentschafts­kandidat für die nächsten Wahlen. Wie lange kann eine Demokratie unter diesen Bedingungen fort­existieren, bevor sie in den Autoritarismus kippt?

Dass inzwischen alles möglich ist, zeigt auch das Gebaren des Supreme Court, der dank der aggressiven Besetzungs­politik von Donald Trump und Mitch McConnell nun über eine konservative Sechs-zu-drei-Mehrheit verfügt. Den Bundes­staaten soll es jetzt gemäss einem Urteil von letzter Woche wieder erlaubt sein, Abtreibungen zu verbieten – und dies, obwohl damit eine fast fünfzigjährige Jurisprudenz umgestossen wird und rund 80 Prozent der Amerikanerinnen sich im Grundsatz zum Recht auf Abtreibung bekennen. Es gibt keine Rücksichten, keine Hemmungen mehr: Die Verachtung für Frauen­rechte und Mehrheits­verhältnisse ist spektakulär.

Auch im Bereich der Waffen­gesetze und der Umwelt­politik wird vom heutigen obersten Gericht nun plötzlich eine extreme politische Agenda durchgesetzt. Niemand kann voraus­sagen, wo diese Reise enden wird. Aber weite Teile des republikanischen Establishments haben sich von den Grund­prinzipien demokratischer Politik verabschiedet. Und weder die Abwahl noch der Putsch­versuch von Donald Trump konnte daran etwas ändern.

Daraus ergeben sich ziemlich düstere Perspektiven – nicht nur für Amerika, sondern für die ganze westliche Welt. Angesichts des eskalierenden Konflikts mit Russland sollten die liberalen Demokratien ihre Werte­basis affirmieren. Stattdessen werden sie von Putin-Anhängern und Bewunderinnen des Autoritarismus in immer ernstere Gefahr gebracht. Die Waffen­lieferungen an die Ukraine und die Aufstockung der Nato-Bereitschafts­truppen werden zu diesem Problem keine Lösung bringen.

Unerfreulich sind die Perspektiven aber auch deshalb, weil die USA – bei allen sehr erheblichen Unterschieden zwischen den Gesellschaften und den politischen Systemen – die Entwicklungen in Europa häufig vorwegnehmen. Ein ganz wesentlicher Faktor für die US-amerikanische Demokratie­krise ist die ungebrochene Kommunikations­macht des Trump-Populismus. Krudester verschwörungs­theoretischer Irrsinn wie beispiels­weise die Wahl­betrugs­story verfügt über massive Propaganda­kanäle. So können weite Teile der Bevölkerung indoktriniert und – solange sie überhaupt noch in rechtmässiger Form stattfinden – auch immer wieder Wahlen gewonnen werden. Vorboten einer solchen Entwicklung lassen sich auch andernorts immer deutlicher feststellen. Zum Beispiel in der Schweiz.

Eine ausgedehnte Republik-Recherche vom letzten Wochenende hat gezeigt, dass es zwischen konservativen Kampf­blättern wie «Weltwoche», «Nebel­spalter» oder «Schweizer Monat» und den aller­extremistischsten Verschwörungs­theoretikerinnen kaum mehr personelle oder inhaltliche Grenzen gibt. Bei der Lektüre dieses Textes spielt ein ähnlicher Effekt wie beim Cassidy-Hutchinson-Hearing: Es ist absolut haarsträubend, in welchem Mass die Stricker-, Köppel- und Rechts­extremen-Kanäle inzwischen austauschbar geworden sind. Es ist sehr beeindruckend, das en détail nachzulesen. Aber eigentlich verstörend ist die Frage, weshalb man es weiterhin «enthüllen» muss.

Wissen wir es nicht schon längst?

Illustration: Alex Solman

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