Marin Alsop vor dem ORF-Funkhaus in Wien: Als Dirigentin will sie die Botschafterin des Komponisten sein.

«Die Welt der klassischen Musik ist eine wütende Welt»

Die amerikanische Dirigentin Marin Alsop ist eine Pionierin. Als erste Frau hat sie eines der grossen Sinfonieorchester der USA geleitet – und als erste Frau steht sie dem ORF Radio-Symphonie­orchester als Chefdirigentin vor. Alsop fördert junge Dirigentinnen und will mit Musik die Welt verbessern. Dazu mischt sie schon mal Beethovens Neunte Symphonie mit Rap.

Ein Interview von Nicoletta Cimmino (Text) und Paul Kranzler (Bilder), 18.06.2022

Synthetische Stimme
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Wer anderen den Weg ebnet, ist einsam unterwegs. Die 65-jährige Marin Alsop war oft einsam – als erste Frau an der Spitze wichtiger Sinfonie­orchester weltweit. Andere sollen es einfacher haben, das hat sie sich zum Ziel gesetzt. Als Mentorin begleitet sie Dirigentinnen in ihrer Karriere. Ihr eigener Mentor war der legendäre Dirigent und Komponist Leonard Bernstein. Alsops Leben steht im Mittel­punkt des Dokumentarfilms «The Conductor», der letzten Herbst am Tribeca-Filmfestival in New York Premiere feierte. Die Republik hat Marin Alsop im ORF-Funkhaus in Wien getroffen.

Marin Alsop, warum braucht ein Berufs­orchester eine Dirigentin?
Aus praktischen Gründen. Jemand muss den Takt vorgeben und das Ganze zusammen­halten. Aber noch wichtiger ist: Als Dirigentin ist es meine Aufgabe, die Botschafterin des Komponisten zu sein. Ich muss seine musikalische Vision übermitteln. Die hundert hervorragenden Musikerinnen und Musiker eines Sinfonie­orchesters haben ihre eigenen Vorstellungen. Ich muss da führen.

Führt eine Frau ein Orchester anders als ein Mann?
Es gibt keine «weibliche» oder «männliche» Art des Dirigierens. Das Geschlecht tut nichts zur Sache. Alle, die dirigieren, haben einen eigenen Stil. Die Gesellschaft aber bewertet die Dinge anders, wenn eine Frau sie tut.

Wie haben Sie Ihren Stil gefunden?
Den findet man nicht, wie man verschiedene Kleider anprobiert und dann schaut, welches am besten passt. Im eigenen Stil zu dirigieren, braucht jahrelange Erfahrung. Es ist wie beim Erlernen einer Sprache. Zuerst gilt es, sich ein Vokabular anzueignen. Erst dann lassen sich komplexe und tiefsinnige Sätze bilden. Als Dirigentin werde ich, was ich immer schon war.

Braucht es Mut, vor ein Orchester zu stehen und die Führung zu übernehmen?
Es kann, vor allem für junge Menschen, einschüchternd sein. Erinnern Sie sich noch an Ihre eigene Jugend? Wollten Sie anders sein, sogar herausstechen? Die meisten wollen das nicht, sie wollen einer Gruppe angehören. Mein Sohn ist jetzt 18 Jahre alt, er will ja nicht auffallen. Aber genau das braucht es, wenn man dirigieren will. Man muss aus dem Schatten in den Mittelpunkt treten.

Als Sie ein neunjähriges Mädchen waren, nahm Ihr Vater Sie mit an ein Konzert, das Leonard Bernstein dirigierte. Noch während des Konzertes beschlossen Sie, Dirigentin zu werden. Was war so anziehend am Dirigieren?
Meine Eltern waren beide Berufsmusiker, und seit ich sieben Jahre alt war, besuchte ich Musik­unterricht für Kinder an der Juilliard-Universität. Ich spielte Geige. Der Unterricht war sehr streng, es war alles sehr …

… ernst?
Ja, sehr ernst. Es tönte immer gleich: «Hör auf zu lachen. Hör auf, dich zu bewegen. Stopp, nein!» Es gab so viele Regeln und so wenig Freude, wir wurden zurecht­gewiesen und angeschnauzt. Und dann kam dieses Konzert, und alles war anders.

War es befreiend, Bernstein zuzuschauen?
Es war eine Offenbarung. Da vorne stand dieser erwachsene Mann, der normale Kleider trug, nicht den traditionellen Frack. Er lachte, hüpfte, bewegte sich und sprach mit dem Publikum. Er amüsierte sich. Mir wurde klar: Entweder ich sitze im Orchester und werde angeschrien. Oder ich stehe vor einem Orchester, werde Dirigentin und habe Spass. Bernsteins Begeisterung war auf mich übergesprungen.

Zur Person

Marin Alsop wurde am 16. Oktober 1956 in New York geboren. Sie studierte an der Yale University und wechselte später an die Juilliard School, welche sie 1978 mit dem «Master of Music» in Geige abschloss. 1989 war sie Schülerin Leonard Bernsteins, der ihr Förderer und Mentor wurde. Marin Alsop übernahm 2007 das Baltimore Symphony Orchestra, sie leitete das São Paulo State Symphony Orchestra und seit 2019 das ORF Symphonieorchester in Wien. Sie dirigiert in allen grossen Konzert­häusern der Welt und hat eine ausgeprägte Vorliebe für die Werke zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten. Alsop ist mit der Hornistin Kristin Jurkscheit verheiratet, die beiden haben einen Sohn.

Als Sie Ihrer Geigen­lehrerin erzählten, dass Sie Dirigentin werden wollen, sagte sie: «Mädchen dürfen das nicht.»
Sie sagte zwei Sachen. Zuerst sagte sie: «Du bist zu jung.» Worauf ich antwortete, dass sich das ja bald ändern würde. Dann sagte sie, Mädchen dürften das nicht. So etwas hatte ich noch nie gehört – dass Mädchen etwas nicht dürften oder könnten, nur weil sie keine Knaben sind. Ich war zuerst schockiert und dann am Boden zerstört. Als ich es meinen Eltern erzählte, wurden sie wütend. Meine Mutter sagte, sie werde die Lehrerin verklagen. Die Wut meiner Eltern zeigte mir, dass meine Gefühle berechtigt waren. Mein Vater schenkte mir zum Trost Partituren und eine Schachtel voller Taktstöcke, damit ich das Dirigieren üben konnte.

Aber Sie waren eingeschüchtert?
Ja, und ich vermied es fortan, mit anderen Leuten über meinen Traum zu sprechen. Ich wollte kein weiteres Nein hören.

Und trotzdem erfüllte sich Ihr Traum. Sie wurden Dirigentin.
Jahrelang übte ich für mich allein, sehr intensiv. An der Yale-Universität, wo ich meinen Bachelor machte, hatte ich einen guten Freundes­kreis. Dort konnte ich über meine Träume reden. Manchmal hörten wir Mozart, und ich dirigierte dazu. Meine Freundinnen ermutigten mich, Dirigentin zu werden. Als ich in New York weiterstudierte, gründete ich eine Swingband. Damit verdiente ich genug Geld, um ein richtiges Orchester zu gründen. Ich wurde Dirigentin meines eigenen Orchesters.

Sie studierten später bei Leonard Bernstein. Gibt es etwas, das nur er Ihnen beibringen konnte?
Er machte mir ein grosses Geschenk, indem er mich darin bestärkte, mich selbst zu sein. Er vertraute mir, schätzte meine Musikalität, mein Talent. Ich verbrachte viel Zeit mit ihm, er nahm mich mit auf Reisen und lud mich zu sich nach Hause ein. Ich freundete mich mit seinen Kindern an. Und ich schaute von ihm ab, was es heisst, ein Weltbürger zu sein. Bernstein war dort, wo Geschichte passierte. In Berlin nach dem Fall der Mauer. In Polen während der Solidarnosc-Bewegung. Er war in Israel. Er zeigte mir, dass man als bekannter Dirigent eine Bühne in der Öffentlichkeit hat und dass man diese Bühne nutzen sollte, um die Welt zu verbessern. Er begriff die Musik als Vehikel für sozialen Wandel. Das habe ich bewundert.

«Gequälte Künstler sind gut für die Kunst. Sie kennen den Preis des kreativen Prozesses.»

War es für Bernstein jemals ein Thema, dass Sie eine Dirigentin und kein Dirigent sind?
Es war üblich, dass Bernstein nach Proben zu mir aufs Podest kam, mich umarmte und neckte, er war sehr zärtlich. Einmal aber kam er nicht, sondern blieb hinten im Saal in seine Gedanken versunken sitzen. Da befürchtete ich, versagt zu haben. Ich ging zu ihm und fragte ihn, ob ich etwas falsch gemacht hätte. Er schüttelte den Kopf, sehr nachdenklich, und meinte: «Wenn ich die Augen schliesse und dir zuhöre, merke ich nicht, dass eine Frau dirigiert. Es gibt keinen Unterschied.»

Dann war es ein Thema für ihn?
Er war ein Mann seiner Generation. Und damals gab es fast keine Dirigentinnen. Er förderte Frauen schon früh in seiner Karriere. Trotzdem beschäftigte es ihn.

Sie beschreiben ihn als zärtlich. Im Dokumentarfilm «The Conductor» über Ihre Arbeit gibt es diese Szene …
… ah ja, diese Szene …

… während einer Probe. Er erklärt Ihnen etwas, umarmt Sie, hält Sie an den Schultern. Sie stecken die Köpfe zusammen. Es ist schön, diese Wärme und Herzlichkeit zu sehen. Gleichzeitig fragte ich mich als Zuschauerin, ob eine solche körperliche Nähe zwischen einem Lehrer und seiner Studentin angemessen ist.
Heute wäre es bestimmt nicht mehr angemessen. Er war oft distanzlos. Kürzlich sprachen seine Tochter Jamie und ich darüber. Wir waren uns einig, dass die #MeToo-Bewegung und die Pandemie für ihn ein Desaster gewesen wären. Heute muss man Distanz halten. Seine Kinder sagen oft: «Gott sei Dank, zum Glück ist Daddy nicht mehr hier.»

War er unangemessen im Umgang?
Manchmal vielleicht? Aber es war keine böse Absicht bei ihm. Seine Zärtlichkeit war immer unschuldig, er war mit allen liebevoll.

Bekannt ist seine gequälte Seite. Er galt als cholerisch und unberechenbar.
Gequälte Künstler sind gut für die Kunst. Sie kennen den Preis des kreativen Prozesses. Bernstein war sowohl Dirigent wie Komponist. Ihm war bewusst, wie schwierig es sein kann, ein kreativer Geist zu sein.

Und wie erklären Sie seine Wutausbrüche?
Vieles hat mit seiner Bekanntheit zu tun. Die Prominenz machte ihn teilweise unberechenbar. Alles war bestens, und eine Minute später war es schlecht, und er wurde wütend. Ich hatte das Talent, diese Gefühls­schwankungen zu lesen. Die Luft veränderte sich, ich ging dem nahenden Sturm aus dem Weg.

Die Welt der klassischen Musik war damals männlich geprägt. Konnten Sie als Dirigentin auf ein weibliches Netzwerk zurückgreifen?
Überhaupt nicht. Es waren immer die gleichen drei oder vier Frauen, die in den Zeitungs­artikeln herumgereicht wurden. Darunter die Schweizerin Sylvia Caduff, die Australierin Simone Young oder meine Landsfrau JoAnn Falletta. Wir sahen uns nie. Dirigierte ich, gab es keine zweite Frau in meiner Nähe. Das war eine einsame Sache.

Sie wollten die Einsamkeit brechen und gründeten ein Förder­programm für Dirigentinnen, das Taki Alsop Conducting Fellowship.
Dass sich Dirigentinnen nicht mehr so einsam fühlen, ist eine willkommene Neben­erscheinung. Kürzlich war ich in Polen, wo zwei Dirigentinnen, die ich unterstütze, herkommen. Wir sassen beieinander, als eine von ihnen zu mir sagte: «Marin, es ist das erste Mal überhaupt, dass ich mich nicht so allein fühle.» Mir war klar, was sie meinte.

Warum haben Sie das Fellowship gestartet?
Eine Pionierin steht unter Druck. Ich war in vielerlei Hinsicht die erste meiner Art. Die erste Frau als Chefin eines grossen Sinfonie­orchesters, in Baltimore. Die erste Frau hier, die erste Frau da. Als erste Frau durfte ich nicht scheitern – für alle Frauen, die nach mir kamen. Jetzt will ich anderen talentierten Frauen helfen, ohne diesen Erfolgsdruck zu dirigieren. Sie sollen Gelegenheiten erhalten, sich zu exponieren, ohne dass gleich die Karriere vorbei ist, wenn etwas schiefgeht. Ich nehme sie mit an meine Konzerte, lasse sie während der Proben dirigieren oder die Ouvertüre eines Konzertes. Ich nehme sie unter meine Fittiche und beschütze sie.

Brauchen Frauen einen besonderen Schutz?
Die Frauen im Förderprogramm würden kaum sagen, dass ich sie beschütze. Aber ich tue es. Alle Dirigentinnen und Dirigenten brauchen zu Beginn Schutz, die Anfänge sind hart.

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, Sie hätten sich als Frau nie diskriminiert gefühlt in den Orchestern.
Ich war immer eine Frau, nie ein Mann, und kann nicht vergleichen. Es gibt schon Situationen, wo Leute mir etwas sagen und ich mich frage, ob man in diesem Ton mit einem Mann sprechen würde. Als ich 2007 zur Leiterin des Baltimore Symphony Orchestra gewählt wurde, gab es enormen Widerstand im Orchester. Man wollte mich dort nicht. Zwar betonten alle, dass es nichts mit meinem Geschlecht zu tun hatte, dass es nicht war, weil ich die erste Frau sein würde. Aber natürlich war das der Grund.

Also wurden Sie diskriminiert.
Wenn man die Diskriminierung verinnerlicht, begründet man jede Niederlage mit seinem Geschlecht. Das will ich nicht. Ich will nicht immer davon ausgehen, dass ich einen Job nicht bekommen habe, weil ich eine Frau bin. Nach einer Niederlage will ich für mich herausfinden: Wie kann ich noch besser werden?

Müssen junge Dirigentinnen ähnliche Hindernisse überwinden wie Sie damals?
Das Milieu der klassischen Musik ist diesbezüglich komplett anders heute. Die Branche will Dirigentinnen. Halt. «Wollen» ist das falsche Wort. Die Klassik steht unter Druck, sie muss Dirigentinnen fördern.

Müssen und wollen sind verschiedene Dinge.
Richtig. Jetzt müssen sie wollen. Das ist schon mal besser als früher, wo man Dirigentinnen einfach aussen vor gelassen hat. Darauf müssen wir nun bauen. Dirigentinnen sollen bald keine Seltenheit mehr sein.

Mädchen dürften nicht Dirigentin werden, wurde Marin Alsop gesagt, als sie ein Kind war. Ihr Vater schenkte ihr daraufhin Partituren und eine Schachtel voll mit Taktstöcken.

Es gibt wenige Frauen am Dirigentenpult. Noch seltener sind Schwarze, Latinos und Asiaten. Gibt es eine Welt, die weniger vielfältig ist als die klassische Musik?
Vermutlich nicht. Selbst beim Ballett bemüht man sich, das zu ändern, mit Regeln und Diversity-Indexen. Mich macht es fast krank, dass es viele talentierte, klassische schwarze Musikerinnen und Musiker gibt und immer schon gab und man sie in Orchestern so selten sieht.

Warum ist das so?
Weil es auf allen Seiten Widerstand gibt, befeuert von einem unbewussten Rassismus. Leute denken tatsächlich, die Qualität sinke mit einem Schwarzen auf der Bühne. Was komplett lächerlich ist. Manche sind sich dieser unterschwelligen Vorurteile nicht einmal bewusst.

Sie leben in einer homosexuellen Beziehung, mit ihrer Ehefrau haben Sie einen Sohn. Spüren Sie gegenüber anderen homo­sexuellen Menschen in der klassischen Welt eine besondere Verantwortung?
Ein wahrhaftiges Leben zu führen, ist das Einzige, was ich kann. Falls das andere Menschen ermutigt, ebenso wahrhaftig zu leben, ist das grossartig. Hetero? Queer? Spielt das eine Rolle? Ich weiss nicht, ob Sie heterosexuell oder lesbisch sind, aber falls Sie heterosexuell sind, erwartet ja niemand von Ihnen, dass Sie die anderen Heterosexuellen repräsentieren.

Während 25 Jahren leiteten Sie das Cabrillo-Festival für neue Musik in Kalifornien. Sie führen regelmässig zeitgenössische Werke auf. Was mögen Sie an zeitgenössischer Musik?
Ich kann mir die Musik anders erarbeiten, wenn der Komponist oder die Komponistin noch lebt und ich mit ihr oder ihm über das Werk sprechen kann. Die kreative Kraft von Komponisten verblüfft mich. Nicht alle sind angenehme Zeitgenossen, aber die Auseinander­setzung mit ihnen und ihrem Werk ist faszinierend. Bei toten Komponisten kann ich nicht nachfragen, ich muss mir alles vorstellen. Mit Beethoven führe ich ab und zu imaginäre Gespräche.

Und was sagt er Ihnen?
«Oh, Covid. Ich weiss, wie sich Isolation anfühlt.» Beethoven lebte in wachsender Isolation, je weniger er hören konnte.

Sie haben kürzlich für Aufsehen gesorgt, weil Sie in Baltimore Beethovens Neunte Sinfonie gespielt haben, ohne die Ode «An die Freude» von Friedrich Schiller, welche zur Sinfonie gehört. Sie haben das berühmte «Freude, schöner Götterfunken» ersetzt durch einen Text des Rappers Wordsmith aus Baltimore. Eigentlich ein Tabu!
Schillers Ode «An die Freude» ist phänomenal. 1785, als er das Gedicht schrieb, war es ein radikaler Akt, über Freiheit und Individualität zu sprechen. Aber dieses Gedicht und Schillers «Freude» haben heute eine andere Bedeutung. Ich wollte Beethovens Neunte Sinfonie und seine Botschaft an die Menschheit in die Gegenwart tragen. Die Musik versprüht den Gedanken von Einheit der Völker und von Toleranz. Nicht aber der Text. Ich wollte die Musik und den Text für das 21. Jahrhundert verbinden.

Damit haben Sie viele Leute wütend gemacht.
Als ich das hörte, war mir klar: Ich hatte alles richtig gemacht. Warum sind die Menschen wütend, statt neugierig zu sein? Die Welt der klassischen Musik ist eine wütende Welt. Viele wehren sich gegen Veränderungen, weil sie Teil eines elitären Systems sind. Kreative Kräfte werden nur geduldet, wenn sie in den Rahmen passen.

Und diesen Rahmen wollen Sie sprengen?
Wir tragen ja nicht mehr die gleiche Kleidung wie vor 200 Jahren. Musik entwickelt sich. Wordsmith schrieb seinen Text für die Menschen in Baltimore, für eine Stadt mit sozialen Ungerechtigkeiten und vielen Problemen. Wer in West-Baltimore versteht Schillers Text? Vermutlich nicht viele. Identifizieren sie sich mit Wordsmiths Worten? Bestimmt.

Warum haben Sie nicht versucht, Schillers alte Worte in den heutigen Kontext zu übersetzen, statt sie zu streichen?
Wie soll das gehen?

Indem man sich inhaltlich damit auseinander­setzt und mit dem Publikum darüber spricht.
Wenn ich zuerst eine Rede halten muss, damit das Publikum den Text versteht, ist der Text wohl nicht mehr passend.

Nach dem Mauerfall von 1989 dirigierte Leonard Bernstein in Berlin Beethovens Neunte. Dabei ersetzte er das Wort «Freude» durch «Freiheit» und sorgte damit für Aufsehen.
Ich mache dort weiter, wo er aufgehört hat. Leonard Bernstein hätte bestimmt Freude daran gehabt. Aber noch wichtiger: Beethoven hätte es gefallen. Dessen bin ich mir sicher.

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