Grosse Dringlichkeit
Ein Besuch von «Unlimited», der kuratierten Sonderausstellung der Art Basel, lohnt sich immer. Dieses Jahr besonders.
Von Daniel Binswanger, 16.06.2022
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Halleluja, es ist Sommer – zwar mit hohen Temperaturausschlägen, aber vorderhand können wir die Hitze geniessen. Zwar mit sich bereits wieder konkretisierenden Pandemie-Drohungen, aber jetzt noch wird gefeiert, gereist, an Kulturveranstaltungen gegangen. Und diese Veranstaltungen – sei es unser Nachholbedarf, die angestaute Energie, ihre von äusseren Umständen ganz unabhängige, intrinsische Qualität – haben es in sich. Man sollte sie nicht verpassen (und wenn Sie intelligent sind, drinnen eine Maske tragen).
Die Art Basel 2022 ist eine sehr gelungene Ausgabe, deren Besuch sich lohnt.
Kunstmessen sind ja eigentlich so eine Sache. Die den Gesetzen des Verkaufsbetriebes gehorchende Anhäufung riesiger Mengen zeitgenössischer Werke führt bei manchen Besucherinnen – von denen die überwiegende Anzahl zum Schauen und nicht zum Einkaufen kommt – eher zu Migräne als zu ästhetischen Erfahrungen. Das mag auch dann geschehen, wenn wie in Basel die grössten Galerien für klassische Moderne teilnehmen und manche Picassos, Bacons, Calders (und auffällig viele Willem de Koonings) absolut atemberaubend sind.
Oder wenn sich im Labyrinth der etwas kleineren Galerien mit zeitgenössischem Programm immer wieder grossartige Trouvaillen finden lassen, zum Beispiel beeindruckende afrikanische Malerei bei der Mariane Ibrahim Gallery oder Künstlerinnen, von denen man mit Sicherheit noch nie gehört hat in der Statement-Sektion, die «Up and coming»-Talente vorstellt.
Doch was den Besuch der Art Basel garantiert lehrreich und euphorisierend macht, ist die «Unlimited», die kuratierte Sonderschau für monumentale Werke, die in der riesigen Halle 1 der Messe Basel stattfindet. Die 70 sehr viel Platz beanspruchenden Exponate – hauptsächlich Installationen und Grossskulpturen, aber auch sehr grosse Gemälde und Bildserien –, die Kurator Giovanni Carmine dieses Jahr aus den Fonds der an der Art Basel teilnehmenden Galerien versammelt hat, sind mit einer ausgedehnten Besichtigung bewältigbar und werfen ein Schlaglicht auf aktuelle Fragestellungen, Tendenzen und Energien in der zeitgenössischen Kunst.
Dieses Jahr dominieren Werke mit unmittelbar politischen Bezügen – nicht ganz überraschenderweise. So zum Beispiel Jenny Holzers Werk «Happening with Russia». Es besteht aus 40 Kupferplatten, in die Auszüge aus der Untersuchung von Sonderermittler Robert Mueller über die Beziehungen der Trump-Administration zu Russland eingraviert sind. Die bedrohliche Kompromittierung der amerikanischen Politik durch russische Einflussnahme wird derart für alle Zeiten festgeschrieben.
Gleich neben Holzers patinierten Kupferplatten evoziert eine andere Bildserie eines zeitgenössischen Klassikers das Gewaltpotenzial der grossen Politik: Gerhard Richters «Zeichnungen für SDI». Es handelt sich um 26 Entwurfszeichnungen, mit denen Richter die Vorlage für sein Gemälde «SDI» schuf, das er 1986 vollendete und nach der «Strategic Defense Initiative» von Ronald Reagan benannte. Es ist ästhetisch sehr reizvoll, wie die Entwurfsserie vor Augen führt, mit welcher Methodik Richter seine Bildsprache entwickelt. Er sagte, es sei ihm darum gegangen, als Antwort auf Reagans «Starwars» einen «grossen Science-Fiction-Himmel» zu entwerfen. Allerdings merkt Richter auch an, dass das Werk «die fundamentale Machtlosigkeit von Malerei» in der Konfrontation mit solchen Realitäten vor Augen führe.
Auf seine Weise bestätigt diese Machtlosigkeit auch Francis Alÿs mit seinen «Border Barriers Typologie: Cases #1 to #23», ein Raum mit 23 kleinformatigen Ölgemälden, auf denen Grenzzäune rund um den Globus – zwischen Nord- und Südkorea, zwischen Mexiko und den USA, zwischen Israel und den besetzten Gebieten – dargestellt werden. Ein zugleich nüchternes und beelendendes Inventar globaler Ausgrenzung.
Dies alles sind eindringliche, aber zurückhaltende Werke. In anderen werden Krieg und Konflikt sehr laut und schrill behandelt. Beispielsweise «Number 341» von Leonardo Drew, eine gewaltige Assemblage von zersplitterten, scheinbar angekohlten Holzstücken, die den Eindruck vermitteln, es sei diesen Augenblick zu einer gigantischen Explosion gekommen. Oder «The shooting …1st of July» eine Installation von übergrossen, grotesken Styropor-Figuren des Niederländers Folkert de Jong, die sich gegenseitig mit Gewehren bedrohen und deren Aggressivität es unentscheidbar macht, auf welcher Seite hier Gut und Böse sind.
Die Spannungen zwischen den USA und China finden einen pointierten Ausdruck in der Installation von Huang Yong Ping «American Kitchen and Chinese Cockroaches», eine drastische Allegorie des sino-amerikanischen Konflikts. Diese künstlerischen Gesten sind heftig – und vermitteln etwas vom Gefühl der Dringlichkeit, das alles dominiert.
Doch es gibt auch zahlreiche starke Arbeiten, die nicht unmittelbar politisch sind. Zu den Highlights gehört sicherlich «Dimensions» von Liu Wei, dem Pekinger Kunststar, der mit grossen geometrischen Aluminiumplastiken eine neue Kosmologie zu entwerfen scheint. Ebenfalls dazu gehört «Tête-à-tête» der Zürcher Newcomerin Louisa Gagliardi, die mit einem enormen digitalen Gemälde (3,7 mal 11 Meter) vertreten ist, das ausgedruckt und dann mit Lackierungen noch einmal bearbeitet wurde. Gagliardis suggestive Bildsprache oszilliert zwischen Realismus und onirischer Abgründigkeit, zwischen glamouröser Eleganz und kaputter Dekadenz.
Ein Höhepunkt ist auch die Installation von Raphaela Vogel, die in Venedig mit einem riesigen Styropor-Penis, der von einem Gespann von zehn fragilen, schattenhaften Giraffen gezogen wird, für eines der am dankbarsten geteilten Foto-Sujets gesorgt hat und deren Arbeiten momentan auch in der Galerie Gregor Staiger in Zürich zu bewundern sind. In der «Unlimited» zeigt sie «The (Missed) Education of Miss Vogel», eine Installation, in der Tierhäute an runden Gerüststangen zeltartig Räume abgrenzen wie für ein totemistisches Ritual. Allerdings wurden die Tierhäute vollgekrizelt mit historischen Schemata zur Geschichte des Jazz, der Bundesrepublik oder der deutschen Literatur, mit Lexikoneinträgen, mit lyrischen Versuchen. Hier sind reiche Spuren der Bildungsanstrengungen von Miss Vogel eingeschrieben, jede Tierhaut steht für eine Schicht in einer angestrengten Persönlichkeitskonstruktion. Die etwas absurden Protokolle bildungsbürgerlicher Beflissenheit wirken surreal und archaisch. Wer sind wir jenseits unserer kulturellen Referenzen?
Nicht unerwähnt bleiben darf angesichts aller Dramatik «Porte Uffizi», eine Installation von Michelangelo Pistoletto aus dem Jahr 2003. Der Altmeister der Arte povera schuf mit einer Holzkonstruktion offene Räume, die mit Durchgängen miteinander verbunden sind und Titel wie «Kunst», «Ökonomie», «Medien», «Ökologie», «Wissenschaft» tragen. In jedem Raum ist ein Pappmaché- oder Kartonobjekt zu sehen, welches das entsprechende Thema symbolisiert. Da hat sich einer eine scheinbar naive Primärsoziologie zusammengebastelt – und es wirkt humorvoll, befreiend und visionär. Am Donnerstagnachmittag von 15 bis 16 Uhr wird der 88-jährige Pistoletto ein öffentliches Künstlergespräch bestreiten.
Wer sind wir jenseits unserer kulturellen Referenzen – und angesichts der Dringlichkeiten unserer Zeit? «Unlimited» ist ein guter Ort, sich diese Fragen zu stellen. Und nicht zu verzweifeln.
«Unlimited» läuft bis und mit Sonntag, 19. Juni, in der Messe Basel, Messeplatz 10. Die Tickets können Sie hier erwerben.