Binswanger

Krieg im Schatten der Abschreckung

Soll der Westen der Ukraine schwere Waffen liefern oder darauf verzichten, um nicht den Dritten Weltkrieg zu riskieren? Klar ist: Die Verhinderung des Atomkrieges beruhte bisher nie auf Appeasement.

Von Daniel Binswanger, 07.05.2022

Synthetische Stimme
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Man muss sich nicht wundern über die extreme Emotionalität, mit der die Frage der westlichen Militär­hilfe für die Ukraine debattiert wird. Angesichts der horrenden russischen Kriegs­verbrechen, des entsetzlichen Leids und des beeindruckenden Verteidigungs­willens der ukrainischen Bevölkerung wäre eine Debatte, die nicht von heftigen Affekten getragen wird, nicht denkbar. Schwere Waffen? Leichte Waffen? Schnelle Friedens­verhandlungen? Es sind die unerbittlichsten aller Werte­fragen.

Durch unversöhnliche Heftigkeit zeichnen sich nicht nur die vehementen Befürworte­rinnen einer möglichst raschen Aufrüstung der Ukraine mit Panzern und Kampf­flugzeugen aus, sondern auch die vermeintlich «besonneneren» Anmahnerinnen der Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Auch die atomare Apokalypse wird ja nicht mit distanzierter Nüchternheit beschworen. Bei Diskussionen um Krieg und Kriegs­beilegung geht es um existenzielle Einsätze. Man hat allerdings den Eindruck, dass wir zunehmend Schwierigkeiten haben, sie in einem rationalen Diskurs zu verhandeln.

Das wird insbesondere in Deutschland deutlich. Hier wurde der «Offene Brief an Kanzler Scholz» geschrieben, der von Alice Schwarzer lanciert und von 28 prominenten Erst­unterzeichnerinnen sowie mehr als 230’000 Bürgern unterschrieben wurde. Er strotzt nur so von absurden Verkürzungen und Einseitigkeiten. Der deutsche Kanzler wird dafür gelobt, dass er alle Risiken bedenke: das Risiko einer Ausbreitung des Krieges, einer Ausweitung auf ganz Europa, eines Dritten Weltkrieges. Was unerwähnt bleibt, ist das realpolitische Risiko eines russischen Sieges und einer fortgesetzten imperialistischen Expansion. Kein Wort findet sich bei Schwarzer und ihren Mitstreiterinnen darüber, dass das permanente Appeasement, das der Westen unter dem Titel «Wandel durch Handel» seit langen Jahren praktiziert, die Eskalation des Konflikts nicht verhindert, sondern befördert hat.

Auch die Behauptung, es dürften dem Aggressor für sein «gegebenenfalls verbrecherisches Handeln» keine «Motive» geliefert werden, macht einen hilflos. Als ob die russische Armee tatsächlich «Motive» gebraucht hätte, um schwerste Kriegs­verbrechen zu begehen. Die Forderung, den Atomkrieg zu vermeiden, wird weiss Gott niemand infrage stellen. Doch daraus für die Ukrainer eine Art Verpflichtung zur Kapitulation abzuleiten, ist argumentativ absurd und moralisch beschämend.

Irritierend an der deutschen Debatte ist jedoch auch, dass nun der «Offene Brief» häufig in einem Atemzug mit dem Positions­bezug von Jürgen Habermas genannt wird. Auch an Habermas’ Text «Krieg und Empörung», den er in der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlicht hat, kann man vieles kritisieren. Aber die Grund­prämisse seiner Analyse entgeht der Einseitigkeit des «Offenen Briefes». Habermas benennt das «Dilemma», mit dem der Westen umgehen muss, sehr adäquat. Wir bewegen uns «im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konfliktes zum dritten Weltkrieg». Die Ukraine, so Habermas, darf diesen Krieg auf keinen Fall verlieren – und dennoch muss eine unbegrenzte Eskalation vermieden werden.

Man kann unterschiedlich beurteilen, wie die europäischen Demokratien verfahren müssen, um beide Übel abzuwenden. Aber Habermas bezeichnet das fundamentale Problem, mit dem wir umgehen müssen.

Allerdings besteht der Eindruck, dass in der heutigen Diskussion die Heraus­forderung der Atom­kriegs­vermeidung auf eine seltsam einseitige Weise dargelegt wird – auch bei Jürgen Habermas. In seinem Artikel steht zu lesen, dass «ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinn gewonnen werden kann». Diese Behauptung ist schlicht nicht zutreffend: Die USA sind eine Atommacht, aber sie haben den Vietnam­krieg auf bitterste Weise verloren, und zwar ganz wesentlich deshalb, weil die Sowjetunion die nord­vietnamesischen Streitkräfte mit Waffen belieferte, auch mit schweren Waffen.

Die Sowjetunion ist eine Atommacht und hat den Afghanistan­krieg verloren, auch weil die USA die Mujahedin mit Stinger-Raketen ausrüsteten. Atommächte können Stellvertreter­kriege gegeneinander führen, und Atommächte können Kriege verlieren, ohne dass es zur atomaren Apokalypse kommt. Andernfalls hätte der Kalte Krieg kein glimpfliches Ende genommen.

Es trifft ohne Zweifel zu, dass es eine Grenze gibt, welche die Nato-Staaten nicht überschreiten dürfen bei ihrer Unter­stützung der Ukraine. Aber es ist nicht richtig, dass ein Atomkrieg nur vermieden werden kann, wenn Putin die Nato-Staaten weiterhin nicht als Kriegs­parteien betrachtet. Im Grunde sind die Nato-Staaten schon lange Kriegs­parteien, auch wenn die direkte Konfrontation vermieden werden muss. Was den Atomkrieg verhindert, ist weiterhin der Mechanismus, der ihn auch bisher verhindert hat: das Gleich­gewicht der Abschreckung.

Es ist erstaunlich, dass dieses in der Debatte aktuell fast gar keine Rolle spielt. Ein Amoklauf von Putin ist natürlich nie mit absoluter Sicherheit auszuschliessen, aber ob er am Ende eine suizidäre Wahnsinnstat begeht, dürfte von zwei Faktoren abhängig sein: ob er zur Überzeugung kommt, dass er selber oder die russische Nation dem Untergang geweiht ist. Und als wie glaubwürdig er die Drohung eines Gegen­schlags betrachtet.

Putin droht mit seiner Fähigkeit, die europäischen Haupt­städte anzugreifen. Aber würde er dafür Moskau opfern? Zu dieser Annahme gibt es nach wie vor keinen Grund – auch für den Fall, dass die russischen Truppen aus der Ukraine vertrieben würden. Nur wenn Russland selber massiv bedroht wäre, würde der Einsatz von Atomwaffen zu einer wahrscheinlichen Hypothese. Wenn also zum Beispiel die Nato die Ukraine so hochrüsten würde, dass die ukrainische Armee auf Moskau marschieren könnte, um einen regime change zu bewerkstelligen – was kein realistisches Szenario ist. Auch Atommächte können Kriege verlieren, solange ihr Überleben, beziehungs­weise das Überleben ihrer Entscheidungs­träger, nicht infrage gestellt ist und die Abschreckung funktioniert.

In den Medien wird jetzt ständig über die russische Propaganda berichtet, die immer konkretere Szenarien verbreitet, wie Russland Berlin, London oder Paris in Schutt und Asche legen kann. Schon Ende Februar wurde kommuniziert, dass die russischen Atom­streitkräfte in erhöhte Alarm­bereitschaft versetzt wurden, obwohl unklar ist, ob das eine Auswirkung auf ihre faktische Einsatz­fähigkeit hat. Die massivste und konkreteste Verstärkung der nuklearen Eskalations­drohung kommt jedoch gar nicht von Russland, sondern vom Nato-Partner Frankreich. Wir starren mit berechtigtem Entsetzen auf den irren Putin – und verdrängen in erstaunlichem Mass, dass auch die Sicherheit des Westens auf der atomaren Vernichtungs­drohung beruht.

Frankreich hat seine nukleare Einsatz­bereitschaft vor ein paar Wochen tatsächlich signifikant erhöht. Das Land verfügt über 4 strategische Atom-U-Boote, von denen jedes 16 Inter­kontinental­raketen mit je 6 Spreng­köpfen tragen kann. Normaler­weise hält sich die französische Marine an ein Rotations­system, bei dem sich immer ein U-Boot auf Tauchgang auf offener See, zwei Boote im Hafen am Quai und eines zur Überholung im Trocken­dock befindet. Die U-Boote im Hafen und im Dock würden bei einem atomaren Erstschlag potenziell ausgeschaltet, aber dasjenige auf Tauchgang könnte nicht lokalisiert werden und wäre damit quasi unverwundbar. Es ist die Garantie dafür, dass Frankreich immer über eine Zweit­schlags­kapazität verfügt.

Im März sind nun laut der Lokal­presse von Brest, wo die U-Boot-Basis liegt, gleichzeitig 3 der 4 Atom-U-Boote auf Tauchfahrt gegangen. Das ist noch nie vorgekommen, seit dieses Rotations­system existiert. Ohne darüber zu kommunizieren, hat Frankreich seine Zweitschlags­kapazität de facto verdreifacht. Das ist eine sehr viel massivere Drohgeste als die irrwitzige Atomschlags­rhetorik in russischen Fernsehs­hows.

Natürlich: Es ist alles andere als erfreulich, dass wir heute in einer Welt leben, in der die französische Regierung sich zu diesem Vorgehen entschliesst. Es zeigt, dass die Eskalations­risiken tatsächlich dramatisch zugenommen haben. Aber es sollte auch in Erinnerung rufen, dass die Verhinderung des Atomkrieges bisher nie auf Appeasement beruhte, sondern auf konsequenter Abschreckung.

Wir müssen wieder ein Bewusstsein entwickeln für die bittere Tatsache, dass die Garantie der gegenseitigen Vernichtung die Grundlage des strategischen Kräfte­gleich­gewichts bildet. In ihrem Schatten wird der Krieg geführt. Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, nicht nur aus moralischen, sondern auch aus realpolitischen Gründen.

Das heisst nicht, dass es in Zukunft nicht zu Friedens­verhandlungen kommen soll, und auch nicht, dass die Ukraine nicht vielleicht territoriale Zugeständnisse machen muss. Aber Verhandlungen werden erst zielführend sein, wenn auch für Russland die Kosten zu hoch werden. Deshalb sind Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine das dringende Gebot der Stunde. Alles andere ist zu riskant.

Illustration: Alex Solman

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