«In der Zürcher Kunstgesellschaft braucht es einen Kulturwechsel»

Bis anhin hiess es offiziell, nur ein Kandidat bewerbe sich um das Präsidium der Kunst­gesellschaft. Das erweist sich jetzt als unwahr. Cristina Bechtler, Verlegerin, Kuratorin und Sammlerin, erklärt ihre Kandidatur.

Ein Interview von Daniel Binswanger, 05.05.2022

Synthetische Stimme
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Bestens vernetzt in der Kunstszene: Cristina Bechtler, Kandidatin für das Präsidium der Kunstgesellschaft. Maurice Haas

Frau Bechtler, wir führen dieses Interview, weil Sie für das Präsidium der Zürcher Kunst­gesellschaft kandidieren. Diese Ankündigung kommt unerwartet für die Öffentlichkeit. Bisher galt als ausgemacht, dass es nur eine Person gibt, die für das Präsidium der Kunst­gesellschaft kandidiert: Philipp Hildebrand.
In der Tat, ich werde mich vor der General­versammlung der Kunst­gesellschaft am 30. Mai um das Präsidentinnen-Amt bewerben.

Ist das Einreichen einer Kandidatur zum heutigen Zeitpunkt überhaupt noch möglich? In der NZZ war zu lesen, die Anmeldefrist sei am 11. April abgelaufen.
Gemäss den Statuten der Kunstgesellschaft kann eine Kandidatur bis 10 Tage vor der General­versammlung deponiert werden. Meine Kandidatur respektiert selbst­verständlich alle Fristen.

Wie kommt es, dass Sie sich erst so spät zu einer Bewerbung entschliessen? Das vermittelt nicht den Eindruck einer wohlüberlegten Aktion.
Das kann ich nachvollziehen, aber dieser Eindruck ist falsch. Ich habe seit langen Jahren eine sehr enge Bindung ans Kunsthaus, ich stand und stehe der Zürcher Kunst­gesellschaft immer loyal gegenüber, ich habe mich für dieses Haus, das mir sehr viel bedeutet, stets nach Kräften engagiert. Deshalb trage ich mich schon lange mit dem Gedanken, im Rahmen meiner Möglichkeiten die Arbeit der vorzeitig verstorbenen Kunst­gesellschafts­präsidentin Anne Keller fortzuführen und mich für dieses Amt zu bewerben. Ich glaube zudem, dass es nichts schaden würde, wenn nach 234 Jahren reiner Männer­herrschaft über die Kunst­gesellschaft auch nach Anne Kellers tragischerweise nur ein paar Monate dauerndem Mandat eine Frau zum Zug käme. Meine Kandidatur habe ich bereits im Februar beim Vorstand der Kunst­gesellschaft deponiert.

Im Februar? Weshalb wurde die Öffentlichkeit im Glauben gelassen, es gebe nur den Kandidaten Hildebrand?
Es wurde wohl etwas unglücklich kommuniziert. Der vierköpfige Berufungs­ausschuss – Conrad Ulrich, Franz Albers, Ben Weinberg und Walter Kielholz – hat dem Vorstand seine präferierte Persönlichkeit vorgeschlagen, und diese wurde zum offiziellen Kandidaten gekürt. Dieses Vorgehen ist absolut legitim. Ich habe ein gutes Verhältnis zu den Mitgliedern des Ausschusses und des Vorstandes, und als mir mitgeteilt wurde, dass man sich nicht für mich entschieden habe, schien es mir zunächst angezeigt, diese Entscheidung zu akzeptieren und mich zurück­zuziehen.

Jetzt haben Sie sich umentschieden. Weshalb?
Es gibt eine Reihe von Gründen. Zum einen fand ich es irritierend, dass der Eindruck entstand, neben Philipp Hildebrand seien gar keine Kandidatinnen für das Präsidium zur Verfügung gestanden. Zum anderen ist offensichtlich, dass ein Wahl­verfahren mit mindestens zwei Kandidatinnen, das den Mitgliedern der Kunst­gesellschaft eine Entscheidungs­möglichkeit gibt, in jeder Hinsicht besser ist: besser für die öffentliche Debatte, für die sachliche Auseinander­setzung, für die Glaubwürdigkeit der Kunst­gesellschaft. Philipp Hildebrand hat es in seiner Vorstellungs­rede als Präsidiums­kandidat hervorragend auf den Begriff gebracht: Als ehemaliger Sportler, so sagt er, hätte er sich gewünscht, dass es andere Kandidatinnen in dem Rennen gäbe, denn Wettbewerb sei immer gut. Dem stimme ich zu. Ich finde es sehr beherzigenswert, dass Hildebrand sich ein sportliches, offenes Wahl­verfahren wünscht.

Dennoch wollten Sie sich kurzzeitig aus dem Rennen nehmen.
Als mir mitgeteilt wurde, dass sich der Vorstand der Kunst­gesellschaft nicht für mich entschieden hat, wusste ich nicht, auf wen die Wahl gefallen ist. Den Namen Hildebrand las ich erst in der Zeitung. Es war eine grosse Überraschung. Hildebrand ist bis anhin nicht als kulturaffine Persönlichkeit aufgefallen, und von vielen Kultur­schaffenden wird seine Kandidatur infrage gestellt. Umso wichtiger erscheint es mir, dass auch eine alternative Kandidatin zur Wahl steht.

Gründen die Vorbehalte gegenüber Hildebrand auch darin, dass er sich sofort nach Bekannt­werden seiner Kandidatur äusserst kritisch über die Sanktionen äusserte, welche die Schweiz aufgrund des Überfalls auf die Ukraine gegen Russland verhängt hat? Applaus hat Hildebrand für diese Äusserungen hauptsächlich von Roger Köppel und der «Weltwoche» bekommen.
Ich will nicht spekulieren, aber das wäre vorstellbar.

Zur Person

Cristina Bechtler ist eine prägende Persönlichkeit der Schweizer Kunstszene. Die Verlegerin und Kuratorin gehört nicht nur einer alteingesessenen Familie von Sammlern und Mäzenen an, sondern hat sich durch ihre Tätigkeiten im Feld der zeitgenössischen Kunst einen Namen gemacht. In Kollaboration mit verschiedenen Verlagen hat sie Kunstbuch­reihen heraus­gegeben und mit ihren Ink Tree Editions zahlreiche Editionen von zeitgenössischen Künstlerinnen heraus­gebracht. Sie ist zudem die Gründerin der Engadin Art Talks, eines inter­disziplinären Forums, das sie heute gemeinsam mit Hans Ulrich Obrist, Philip Ursprung, Daniel Baumann und Bice Curiger kuratiert.

Sie selber sind in der Kunstszene gut vernetzt. Unter anderem haben Sie zahlreiche künstlerische Editions­projekte betreut und Buchreihen heraus­gegeben, kürzlich etwa drei Interview­bände, die dem Thema «the Museum of the Future» gewidmet sind und ein beeindruckendes Parkett von inter­nationalen Museums­expertinnen versammeln. Was ist Ihre Vision vom «Kunsthaus of the Future»?
Es geht um die Wiederherstellung einer Willkommens­kultur sowohl für Kunst­schaffende und Sammler als auch für Kunst­interessierte und das Publikum in einem weiten Sinn. Das Museum der Zukunft ist inklusiv und offen. Das Kunsthaus muss eine Plattform für ein sehr vielfältiges, hoch­stehendes, überraschendes, teilweise aber auch nieder­schwelliges Angebot sein. Da möchte ich meine jahrzehnte­lange Erfahrung als inter­disziplinäre Vermittlerin einbringen. Das Kunsthaus muss ein Ort sein, wo man sich willkommen fühlt, eine unerwartete Entdeckung macht, eine Anregung findet, auf ein neues Thema stösst. Oder sich auch einfach mit Freunden treffen, ein interessantes Buch kaufen und «abhängen» kann. Um es mit den Worten des Kunst­historikers Jean-François Chevrier zu sagen: «Es ist für alle, die es wollen, nicht nur für die, die es sich leisten können.»

Wie würden Sie vorgehen?
Natürlich braucht es ein gutes, dichtes Veranstaltungs­programm – nicht nur Cüpli-Events, sondern vor allem spannende inhaltliche Angebote. Im Weiteren wäre eine solche Plattform auch darauf angewiesen, dass die Zusammen­arbeit mit anderen Institutionen, den Hochschulen, den Medien, dem Theater, viel intensiver betrieben würde als bisher. Und um zu erblühen und seine Energie zu entfalten, muss das Kunsthaus auch wieder viel näher an die heute aktiven Künstler rücken, sowohl national als auch international. Es muss ein Nährboden sein für die Kunst­szene. Es muss am Puls der kreativen Energien der Gegenwart sein, um zu einem Laboratorium für die Zukunft zu werden.

Dies klingt so weit einleuchtend. Aber ist die Umsetzung dieser Idee nicht primär die Aufgabe der Kunsthaus­direktorin Ann Demeester?
Doch, natürlich. Ich habe vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten und den Gestaltungs­willen von Ann Demeester. Aber das ist eine sehr grosse Aufgabe, und die Direktorin braucht Unterstützung, eine Sparrings­partnerin, mit der sie einen inhaltlichen Austausch pflegt und die ihr auch Kontakte und ein Netzwerk zur Verfügung stellen kann. Eine grosse Vision ist auch Teamarbeit. Sie muss im gemeinsamen Austausch getragen, verteidigt und weiter­entwickelt werden. Ich wehre mich gegen die Vorstellung, das Präsidium der Kunst­gesellschaft sei im Wesentlichen nur für das Einsammeln von Geldern zuständig. Das ist ein wichtiger Teil der Aufgabe. Aber es braucht auch inhaltliches Engagement.

Der Begriff des Netzwerks scheint für Sie zentral zu sein.
Ja, und damit ist insbesondere auch internationale Vernetzung gemeint. Wir müssen aufhören mit der ewigen Nabelschau. Manchmal hat man den Eindruck, es werde alles immer enger und kleiner im heutigen Betrieb. Wir müssen rausschauen, über den Teller­rand hinaus. Wir haben in Zürich nun eine grossartige Agora der Kunst mit vier architektonisch verschiedenen Häusern. Das ist eine Plattform, die eines der grössten europäischen Museen bildet und die in die Welt hinaus­strahlen kann. Dazu müssen wir aber auch die Welt in Zürich willkommen heissen.

Eine zentrale Herausforderung für die künftige Präsidentin wird der Umgang mit den im Kunsthaus­erweiterungsbau unter­gebrachten Bildern der Bührle-Stiftung sein. Die umstrittenen Provenienzen von Werken der Bührle-Stiftung sind zu einer ernsthaften Bedrohung für die Reputation des Kunst­hauses geworden.
Am wichtigsten ist, dass man eine klare Haltung einnimmt und aus der Defensive heraus­kommt. Das bedeutet zunächst natürlich, dass der Dokumentations­raum gemäss den neuesten wissenschaftlichen Standards gestaltet werden muss. Auch die Möglichkeit zu einer flexibleren Präsentation und Hängung der Bilder der Bührle-Stiftung, welche die von Conrad Ulrich geschickt ausgehandelten neuen Leihverträge eröffnen, sollte konsequent ausgeschöpft werden. Im Übrigen sollte man tun, was Bern mit den belasteten Bildern des Gurlitt-Legats gemacht hat: Man trennt sich von den Bildern, die eine kompromittierte Provenienz haben, indem man sie an die Erben zurückgibt. Denkbar wäre auch, wenn Erben nicht mehr vorhanden sind, dass belastete Werke verkauft und das Geld an jüdische Organisationen ausbezahlt wird.

Bern ist ein Vorbild?
Auf alle Fälle. In Bern hat man das ausgezeichnet gemacht mit dem Gurlitt-Legat.

Philipp Hildebrand hat in seiner Vorstellungs­rede als Kandidat betont, dass er die erneute Über­prüfung der Provenienzen der Bührle-Stiftungs-Bilder zu einer absoluten Priorität machen würde.
Dem kann ich mich vollumfänglich anschliessen. Da haben wir keine Differenz.

Hildebrand hat sogar gesagt, dass er die laufende Provenienz­diskussion «in absehbarer Zeit professionell und vollumfänglich abschliessen» will.
Diese Haltung erstaunt mich, das sehe ich ganz anders. Wie gesagt: Es geht um eine breite und fortgesetzte Auseinander­setzung mit der Geschichte, auch mit der Schweizer Geschichte während des Zweiten Weltkriegs. Ich weiss beim besten Willen nicht, was das überhaupt bedeuten soll: die Provenienz­forschung abschliessen. Gerade die jüngsten Entwicklungen haben uns doch überdeutlich gezeigt, dass die Auseinander­setzung mit den Provenienzen der Werke und mit allfälligen Restitutions­ansprüchen an eine Sammlung gar nicht abschliessbar ist. Dass wir immer wieder bereit sein müssen, die Werke und ihre Geschichte neu zu beurteilen. Ich glaube, das rührt an sehr grundsätzliche Aspekte der Frage, was ein Museum überhaupt für eine Funktion hat.

Weshalb?
Ein Museum in einem zukunfts­fähigen Sinn muss etwas anderes sein als eine mehr oder weniger grosse Ansammlung von Kunst­schätzen im höchsten Preissegment. Ein Museum muss sein Publikum zu einer fortgesetzten Auseinander­setzung mit seinen Beständen befähigen, sei es eine ästhetische, künstlerische, historische, gesellschafts­politische oder eine ethische Auseinander­setzung. Das Museum ist ein privilegierter Ort, an dem die Gesellschaft sich mit ihren eigenen Werten auseinander­setzen kann. Deshalb ist die Vorstellung, man könne eine Provenienz­diskussion ein für alle Mal «professionell abschliessen», schon im Grundsatz verfehlt. Dieser Prozess muss offen bleiben. Und man sollte ihn nicht abschliessen wollen, sondern sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass er auf produktive Weise fortgesetzt wird.

Aber steht hinter dem Wunsch, die Provenienz­diskussion «abzuschliessen», nicht das nach­vollziehbare Bedürfnis, den Bührle-Skandal beizulegen?
Sicherlich, aber es scheint mir, das ist dazu der falsche Ansatz. Aus meiner Sicht muss hier ein fundamentaler Kultur­wandel stattfinden. Das einzige Mittel, um mit der Bührle-Debatte umzugehen, ist, dass man sich allen offenen Fragen stellt. Dass die Auseinander­setzung weitergeht.

Gegen Ihre Kandidatur, Frau Bechtler, könnte ein sehr simples Argument gemacht werden. Ihr Mann Thomas Bechtler war von 1987 bis 2002 Präsident der Kunst­gesellschaft. Könnte man es nicht als seltsam empfinden, wenn Sie Ihrem Gatten in diesem Amt nachfolgten?
Ich sehe nicht richtig, wo das Problem liegen soll. Ich fände es offen gesagt etwas sexistisch, wenn man Bedenken gegen mich hätte nicht aufgrund meines Leistungs­ausweises, sondern aufgrund meines Ehemannes. Es ist in der Tat so, dass die Leidenschaft für Kunst etwas ist, was mich und meinen Mann verbindet, aber wir sind unabhängig voneinander aktiv. Ich realisiere zum Beispiel meine Editions­projekte völlig selbst­ständig, mische mich aber auch nicht ein in die Belange der Walter-A.-Bechtler-Stiftung, um die Thomas sich kümmert. Es kommt hinzu, dass es gut zwanzig Jahre her ist, dass mein Mann das Präsidium der Kunst­gesellschaft innehatte. Man kann wirklich nicht davon reden, dass wir uns gegenseitig den Staffelstab übergeben. Sehr im Gegenteil: Mein Präsidium wäre ein Aufbruch und ein Neustart. Ich bin der Überzeugung, dass die Kunst­gesellschaft heute einen Kultur­wechsel und einen Neustart braucht. Dazu möchte ich beitragen.

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