
Die Falken sind zurück
Der Krieg in der Ukraine hat in der Schweizer Sicherheitspolitik neue Realitäten geschaffen: Plötzlich will eine Mehrheit aufrüsten, und sowohl Linke als auch Bürgerliche rufen nach militärischen Kooperationen. Dabei vermeiden sie die grosse Frage: Wie soll das gehen mit der heutigen Neutralität?
Von Priscilla Imboden, 05.05.2022
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Werner Salzmann breitet eine Wunschliste vor sich aus. Das Morgenlicht fällt durch die Fenster der Galerie des Alpes im Bundeshaus und lässt den kleinen goldenen Bären glänzen, den sich der Berner SVP-Ständerat ans Revers gepinnt hat. Salzmann, Oberst, Präsident der sicherheitspolitischen Kommission, Ehrenpräsident des Berner Schiessverbands, sagt, der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine habe ihn erschüttert, aber nicht erstaunt. Er denkt noch gleich wie vorher: «Es braucht mehr Geld für die Armee.» Doch nun hätten endlich auch andere den Ernst der Lage erkannt: Links und in der Mitte seien Parlamentsmitglieder wachgerüttelt worden, vor allem Frauen schätzten die Lage nun anders ein.
Salzmann blickt auf die Papiere, die vor ihm liegen. Darauf sind Waffensysteme aufgelistet, die sofort beschafft werden könnten. Und die es brauche, um sogenannte Fähigkeitslücken zu füllen. Salzmann trägt vor:
«Objektschutz gegen Flugkörper/Drohnen – inexistent.»
«Panzerabwehrraketen – inexistent.»
«Operatives Feuer (Erdkampffähigkeit der Luftwaffe) – inexistent.»
Jahrelang habe die Armee rund ums Geld geplant, nun gelte es, den verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen. Sprich: die Verteidigung der Schweiz sicherzustellen. Kurzfristig liessen sich beispielsweise neue Radschützenpanzer des Typs Piranha IV und Mörser 16 beschaffen. Jeder Soldat, jede Soldatin solle mit einer Schutzweste ausgerüstet werden.
Für Sicherheitspolitiker Salzmann laufen die Dinge momentan sehr gut. Seine Forderungen sind plötzlich mehrheitsfähig. Und: Es wird in rasendem Tempo daran gearbeitet, sie voranzutreiben.
Es geht Schlag auf Schlag im Parlament
Nur wenige Tage nachdem die ersten russischen Raketen in der Ukraine einschlugen, ertönte in Bundesbern bereits der Ruf nach Aufrüstung.
Am Tag 4 nach dem russischen Angriff verlangten SVP und FDP, dass das Militärbudget um 2 Milliarden auf rund 7 Milliarden Franken sowie der Armeebestand um 20’000 Personen aufgestockt wird. Und dass die F-35-Kampfjets sofort beschafft werden sollten, gegen die SP, Grüne und Friedensorganisationen mit einer Initiative vorgehen wollen.
Am Tag 5 forderte Verteidigungsministerin Viola Amherd die Initiantinnen auf, die Stopp-F-35-Initiative zurückzuziehen.
Am Tag 13 verlangte die FDP, den F-35 fristgerecht zu beschaffen.
Am Tag 26 stimmte die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats einer Motion der Mitte-Partei zu, die eine schrittweise Erhöhung des Militärbudgets auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2030 verlangte, was rund 7 Milliarden Franken entspricht – es ist genau das, was auch Werner Salzmann schon länger fordert.
Am Tag 36 folgte die Sicherheitskommission des Ständerats ihrer Schwesterkommission. Ferner beschloss sie, dass der Ständerat die Armeebotschaft und damit die Kampfjetbeschaffung bereits im Juni beraten soll – ohne die Ergebnisse der Geschäftsprüferinnen des Nationalrats abzuwarten. Diese untersuchen gerade, ob das Verteidigungsdepartement das Verfahren zur Kampfjet-Typenwahl korrekt durchführte.
Es geht also Schlag auf Schlag: Die Erhöhung des Militärbudgets ist als erstes Geschäft in der Sondersession des Nationalrats traktandiert, die am 9. Mai beginnt. 74 Tage nach Kriegsbeginn – das Parlament schlägt ein rekordverdächtiges Tempo an.
Dass das möglich ist, liegt vor allem an zwei Parteien: der FDP und der Mitte. Sie sind umgeschwenkt und setzen sich nun dafür ein, dass noch mehr Geld als vorgesehen in die Verteidigung fliessen soll. Noch vor ein paar Jahren waren sie dagegen, wie eine Stimmenauswertung zur Motion Salzmanns zeigt.
Ratlosigkeit bei den Linken
Derweil schauen linke Politikerinnen den Geschehnissen konsterniert und etwas hilflos zu. Der Aufrüstungsreflex sei unglaublich stark, sagt die grüne Sicherheitspolitikerin Marionna Schlatter. «Wir haben keine Chance dagegen. Man sieht Krieg und will aufrüsten. Es geht nicht darum, wie wir den Menschen in der Ukraine helfen oder den Frieden fördern können.» Die Stimmung in der Bevölkerung sei aggressiver geworden, sagt sie. Zumindest schliesst sie das aus der Post, die sie erhält: «Wer gegen Aufrüstung ist, wird jetzt als Landesverräterin gebrandmarkt.»
Der Krieg hat die Stimmung in der Schweiz verändert, was Armeeausgaben und den Kampfjetkauf betrifft. Das stellt SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf fest: Die Chancen der Stopp-F-35-Initiative seien «nicht mehr so gut wie auch schon». Es komme aber nicht infrage, die Initiative zurückzuziehen: «Es bleibt für ein Land, das keine Angriffe ausserhalb der Grenze fliegt, das falsche Flugzeug. Und dieses Flugzeug wird Riesensummen von Geld verschlingen, das dann anderswo fehlt.»
Doch der Krieg in der Ukraine macht auch die linke Sicherheitspolitikerin nachdenklich: «Ich habe einen konventionellen Krieg auf diese brachiale Art nicht für möglich gehalten», sagt sie. Nun gelte es, über die Sicherheitspolitik generell zu diskutieren. Dabei müsse die SP, wie alle anderen Parteien auch, gewisse Positionen überdenken, etwa die Forderung nach einer kleineren Armee.
Für Priska Seiler Graf ist dennoch klar: Die Armee müsse nicht aufgerüstet werden, sondern allenfalls umgerüstet, hin zu mehr Boden-Luft- und Drohnenabwehr.
Westliche Übermacht erdrückend
Es ist offensichtlich, dass der anlaufende Rüstungswettbewerb diverser Länder nicht mehr aufzuhalten ist. Dabei ist das angesichts der heutigen militärischen Kräfteverhältnisse absurd.
Im Jahr 2021 gaben die Nato-Länder rund 1,2 Billionen US-Dollar für Rüstungsgüter aus.
Russland gab dagegen mit 65 Milliarden achtzehn Mal weniger aus.
China investierte ungefähr ein Viertel so viel wie die Nato-Länder.
Auch in der Schweiz wird ausgeblendet, dass das Armeebudget bereits jetzt jährlich um 1,4 Prozent ansteigt. Das hat der Bundesrat 2017 beschlossen, um die Erneuerung der Luftraumverteidigung und der Bodentruppen zu finanzieren. Kostenpunkt: 15 Milliarden Franken.
So steigt das jährliche Budget bis 2030 auf 6 Milliarden Franken an. Die Schweiz gibt – nach einem Rückgang in den Nullerjahren – seit acht Jahren jedes Jahr mehr für die Rüstung aus, wie die Entwicklung der Militärausgaben des Bundes seit dem Fall der Berliner Mauer zeigt.
Kommt hinzu: Die Kosten des Schweizer Militärs fallen nochmals deutlich höher aus, wenn sie gesamthaft gerechnet werden. Eine Auswertung des Verteidigungsdepartements VBS zeigt auf, dass zum offiziellen Militärbudget noch 3 Milliarden Franken hinzukommen. Sie bestehen etwa zu gleichen Teilen aus Kosten der Kantone und Gemeinden, der Militärversicherung, Mieten und Pachten an VBS-Immobilien, dem Sold der Soldaten, Lohnfortzahlungen privater Firmen während des Wehrdienstes sowie aus Wertschöpfungsverlusten wegen der Abwesenheit am Arbeitsplatz. So gesehen betragen die Militärausgaben bereits heute 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Ein Akt der Symbolpolitik
Kritik an der neuen Ausgabenfreude bei der Armee kommt auch von der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Avenir Suisse. In einer neuen Studie zu den Perspektiven der Sicherheitspolitik schreibt sie, dass die Parteien in einem «Akt der Symbolpolitik» mehr Finanzmittel für die Armee forderten, ohne zu konkretisieren, wohin die Mittel fliessen sollten. Es fehle «der Blick auf das ‹grosse Ganze›».
Avenir Suisse plädiert dafür, dass das Verteidigungsdepartement die Bedrohungsszenarien, die im sicherheitspolitischen Bericht eher vage skizziert sind, detailliert und mit Eintretenswahrscheinlichkeiten darstellt. Damit könnte konkret und nachvollziehbar entschieden werden, wie das Geld für das Militär eingesetzt werden soll.
Die Schweizer Sicherheitspolitik müsse «ehrlicher als bisher in den Spiegel schauen und eine Antwort darauf geben, ob angesichts der zahlreichen Bedrohungslagen unser Kleinstaat überhaupt in der Lage ist, auch mit allenfalls aufgestockten Sicherheitsbudgets für eine allumfassende Verteidigungsfähigkeit zu sorgen».
Damit stellt die Denkfabrik ein Credo der Schweizer Sicherheitspolitik infrage: Die Schweiz kann und muss sich allein verteidigen – ohne Hilfe von aussen.
Allein oder gemeinsam
Das tun derzeit auch andere: Die SP fordert eine stärkere Zusammenarbeit mit der EU in Verteidigungsfragen, etwa durch Teilnahme am EU-Rüstungskooperationsprojekt Pesco, so wie es schon VBS-Chefin Viola Amherd letzten Herbst ankündigte. In diese Richtung denkt auch die grünliberale Fraktion.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat sich ebenfalls für mehr Kooperation ausgesprochen, indem etwa die Schweiz die F-35-Kampfjets für die Luftpolizei in Europa einsetzen würde. In einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» erklärte er, die Schweiz profitiere davon, dass sie von europäischen Nato-Mitgliedsländern abgeschirmt werde. Aber: «Was ist der Beitrag der neutralen Schweiz bei einem Verteidigungsfall in Europa?»
Einen Schritt weiter ging FDP-Präsident Thierry Burkart, der in einem Gastbeitrag in der NZZ für ein «Ende der Igel-Schweiz» plädiert: «Die hässliche Fratze des Krieges im Osten zeigt uns mit aller Schärfe, dass das Schicksal der Schweiz mit der Gemeinschaft demokratischer Staaten auf Gedeih und Verderb verbunden ist.» Die Schweizer Armee solle die Abwehr von Angriffen künftig «konsequent im ‹Verbund›» planen. Und zwar mit der Nato, die für die Verteidigung Europas massgeblich sei. So solle die Schweiz auch – wie die neutralen Staaten Finnland und Schweden – an Nato-Übungen teilnehmen.
An diesen Diskussionen hat SVP-Sicherheitspolitiker Werner Salzmann keine Freude. Die Schweiz müsse selber für ihre Sicherheit sorgen, sagt er. «Dass wir im Verteidigungsfall mit unseren gleichgesinnten Nachbarn kommunizieren, ist klar. Es ist deshalb auch richtig, dass unsere Systeme interoperabel sind und wir die Fähigkeit haben, im Ernstfall enger zu kooperieren.» Auch die SVP möchte also im Ernstfall auf die Hilfe der Nato zurückgreifen können. Aber alles andere sei mit der Neutralität nicht vereinbar.
Mehr Kooperation scheint der grosse Konsens in der Schweizer Parteienlandschaft zu sein. Aber ist das überhaupt realistisch?
Die Antwort auf diese Frage findet sich im Ostflügel des Bundeshauses, konkret im Büro von Pälvi Pulli, Chefin Sicherheitspolitik des Verteidigungsdepartements. Sie verantwortet den sicherheitspolitischen Bericht, die regelmässig publizierte Analyse zur sicherheitspolitischen Lage, die als Grundlage dient für die militärstrategischen Entscheide der Schweiz. Im neusten Bericht vom November 2021 schrieb das VBS, «das Risiko einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Nationen» sei gestiegen. Der Bericht erhielt deshalb in der Sonderdebatte zum Russland-Ukraine-Krieg im Parlament viel Lob.
Pälvi Pulli hat als Erstes eine gute Nachricht auf Lager: «Die Schweiz ist nicht viel stärker bedroht als vor dem Krieg», sagt sie. «Denn zwischen der Schweiz und dem Kriegsgeschehen stehen weiterhin Länder, die der Nato angehören.»
Frau Pulli, das Parlament wird wohl bald mehr Geld für die Armee sprechen. Was bedeutet das für das VBS?
Wir könnten damit Waffensysteme früher beschaffen, mehr Munition kaufen, mehr in die Cyberabwehr investieren. Für den Fall, dass das Parlament mehr Geld spricht, sind wir jetzt daran, die Planung zu revidieren. Das Parlament diskutiert auch darüber, ob das VBS die Verträge für die Beschaffung der Kampfjets und der Boden-Luft-Abwehrsysteme früher unterzeichnen soll.
Wäre es nicht sinnvoller, die militärische Kooperation mit der EU oder der Nato zu suchen?
Bei der Kooperation stellt sich die Frage: Was ist der Zweck? Die europäische Zusammenarbeit Pesco besteht in der gemeinsamen Entwicklung von militärischen Fähigkeiten in Nischenbereichen. Derzeit prüft die Schweiz als Drittstaat die Teilnahme in einem Cyberprojekt für gemeinsame Übungen. Pesco ist für die Schweiz interessant für bestimmte Projekte. Die EU ist aber kein Verteidigungsbündnis. Dafür massgebend bleibt die Nato.
Dann müsste die Schweiz doch der Nato beitreten, um über eine wirksame Verteidigung zu verfügen?
Diese Frage stellt sich nicht, solange die Schweiz an ihrer Neutralität festhält. Bei einer Verfassungsänderung wäre das möglich, ich glaube jedoch nicht, dass die Schweiz politisch dazu bereit ist. Der Kern der Neutralität – militärisch keine Konfliktpartei zu bevorzugen – ist fest verankert, selbst wenn ihre historische Funktion für den innenpolitischen Zusammenhalt kaum mehr eine Rolle spielt.
Die FDP schlägt vor, dass die Schweiz sich mit gemeinsamen Übungen an die Nato andockt, damit sie im Ernstfall mit der Nato kämpfen könnte. Ist das realistisch?
Wir kooperieren bereits heute mit den Nachbarländern, etwa wenn es um die grenzüberschreitende Luftpolizei geht. Aber Übungen für die gemeinsame Verteidigung kollidieren mit der Neutralität, so wie sie bislang in der Schweiz gehandhabt wurde. Das ist die Grenze: keine Abhängigkeiten eingehen, die es verunmöglichen, im Kriegsfall neutral zu bleiben. Das ist zum Beispiel beim Abkommen mit Frankreich für Aufklärungs-Satellitenbilder der Fall: Die Kooperation würde suspendiert, wenn Frankreich in einen zwischenstaatlichen Krieg verwickelt würde.
Pälvi Pulli bewegt sich mit ihren Aussagen im politischen Rahmen, den sich die Schweiz gesteckt hat. Und sie stellt klar: Gemeinsame Verteidigungsübungen sind aus heutiger Sicht nicht möglich.
Aber kann die Schweizer Armee mit anderen Streitkräften kämpfen, ohne das vorher zu üben? Nur dank technischer Interoperabilität einen Angriff gemeinsam abwehren?
«Unmöglich», sagt Heiko Borchert, seit 25 Jahren sicherheits- und verteidigungspolitischer Berater in ganz Europa. Der Luzerner sagt, jede Armee habe ihre eigene Kultur, ihre eigene Strategie und folge ihren eigenen Einsatzgrundsätzen. «Man muss einander kennen.»
Es sei unrealistisch, zu denken, dass die Nato im Ernstfall ein Nichtmitglied verteidigen würde. «Die Unterstützung im Verteidigungsfall ist der Grund, weshalb ein Staat Nato-Mitglied werden will.» So ist es wohl kein Zufall, dass die neutralen Staaten Schweden und Finnland unter dem Eindruck des Krieges die Nato-Mitgliedschaft anstreben.
Zu den aktuellen sicherheitspolitischen Diskussionen sagt Borchert: «Niemand beantwortet die zentrale Frage: Was wollen wir genau?»
Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit reichten vom reinen strategischen Dialog über Planung und Doktrinentwicklung bis hin zu gemeinsamem Training und Weiterbildung, gemeinsamen Einsätzen und gemeinsamer Beschaffung, Forschung und Technologieentwicklung.
Borchert kommt zu einem ernüchternden Urteil: «Wir führen eine sehr egoistische und enge sicherheitspolitische Diskussion: Es geht nur um uns und kaum um den Mehrwert, den wir für unsere Partner einbringen können.»
Gretchenfrage Neutralität
Es gibt einen einfachen Grund, weshalb kaum eine Sicherheitspolitikerin im Detail sagt, wie es weitergehen soll: die Schweizer Neutralität.
Eigentlich dient die Neutralität der Sicherheit, ist also Mittel zum Zweck. Aber in ihrer eng ausgelegten Variante ist sie zum Selbstzweck verkommen, zu einer heiligen Kuh, zur Raison d’Être der Nation.
Sicherheitspolitiker von links bis rechts führen deshalb einen Eiertanz auf, sagen im äussersten Fall, man müsse «eine Debatte führen». Oder «die Neutralitätsfrage stellen». Nur: Beantworten wollte sie bisher niemand, ausser jenen, die nichts ändern wollen. Nun bewegt sich aber etwas, da der Krieg die Schweiz mit konkreten Forderungen konfrontiert.
Mitte-Chef Gerhard Pfister sorgte für kurze Aufregung, als er den Bundesrat via Twitter dazu aufforderte, deutsche Munitionslieferungen ins Kriegsgebiet zu ermöglichen. GLP-Sicherheitspolitiker Beat Flach will derweil Waffenexporte in demokratische Länder ermöglichen, die sich auf ihrem eigenen Territorium verteidigen müssen. Die Aussenpolitische Kommission im Nationalrat will eine Volksabstimmung, um die Neutralität «neu zu definieren». Und SVP-Doyen Christoph Blocher hatte bereits zu Beginn des Kriegs eine Initiative angekündigt, um die Neutralität zu betonieren.
Doch vielleicht braucht es mehr als eine Neudefinition.
Hält die Schweiz an der heutigen Neutralität fest, macht sie alle Ideen für eine wirksame Verteidigungskooperation zur Illusion. Denn der Kern der Neutralität findet sich im Haager Abkommen von 1907 und definiert sich rechtlich dadurch, dass sich ein Land nicht an einem Krieg beteiligt und keine Kriegspartei militärisch unterstützt. Alles Weitere ist politische Interpretation. Da die Definition aus einer Zeit stammt, in der Angriffskriege noch nicht verboten waren (das änderte sich 1945), ist das Konzept mittlerweile stark unter Druck geraten.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Widersprüche der Schweizer Sicherheits- und Neutralitätspolitik offengelegt. Die Neutralität verhindert eine wirksame Verteidigung: Im besseren Fall verlässt sich die Schweiz dabei als Trittbrettfahrerin auf umliegende Länder oder auf die Nato. Im schlechteren Fall wären diese bereits geschlagen, bis es zum Angriff auf die Schweiz käme.
Will die Schweiz diese Widersprüche beseitigen, muss sie sich auch von der Neutralität verabschieden. Dafür müsste sie ihre Verfassung ändern. Das stehe derzeit ausser Frage, heisst es allenthalben.
Vielleicht wäre der Moment gekommen, diese Frage zu stellen.