Binswanger

Nur eine Wahl entfernt

Die Demokratie ist heute ständig bedroht. Das zeigt nicht nur der Angriff auf die Ukraine, auch grosse Nato-Staaten wie die USA und Frankreich könnten ins Autoritäre kippen. Auf Dauer wird der Tanz am Abgrund nicht gut gehen.

Von Daniel Binswanger, 23.04.2022

Synthetische Stimme
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Der Krieg hat sich im Alltag installiert – für den west- oder mittel­europäischen Durch­schnitts­bürger hauptsächlich in der Form nicht abreissender Schreckens­berichte. Gewöhnung stellt sich trotzdem nicht ein – weil die rapportierten Kriegs­verbrechen immer noch horrender zu werden scheinen. Weil mit jedem Tag, den dieser Waffengang weiter andauert, unsere Mitbetroffenheit und Mitverantwortung offen­sichtlicher wird. Weil immer weniger Zweifel darüber bestehen kann, dass der Überfall auf die Ukraine für den ganzen europäischen Kontinent die einschneidendsten Konsequenzen hat.

An der Sicherheit und dem Komfort unseres Lebens hier in der Schweiz hat sich bisher kaum etwas geändert. Das Bedrohungs­gefühl ist dennoch unheimlich konkret geworden.

Das hat auch damit zu tun, dass dieses Bedrohungs­gefühl nicht vom Russland-Ukraine-Krieg allein ausgeht. Es wird genährt vom Eindruck der generellen Fragilität der westlichen Demokratien, die sich auch dieses Wochen­ende wieder auf exemplarische Weise zeigt. Mit Marine Le Pen steht eine Kandidatin für das französische Präsidentenamt zur Wahl, die Wladimir Putin bis zur Invasion konsequent verteidigt hat und von ihm finanziell unterstützt wird. Würde der liberale, demokratische Verfassungs­staat in Frankreich ihren Wahlsieg überleben? Würde die EU eine Le-Pen-Präsidentschaft einiger­massen intakt überstehen?

Demokratie ist seit einigen Jahren eine permanente Zitter­partie. Auch dieses Wochenende mag es noch einmal gut gehen – und Emmanuel Macron im Amt bestätigt werden. Was aber, wenn es nicht gut geht? Morgen? Oder 2027?

Natürlich gehört es zum Wesen des liberalen Verfassungs­staates, dass er sich durch seine Verwundbarkeit geradezu definiert. Dass der politische Prozess der Gefahr autoritärer Entgleisungen immer ausgesetzt bleibt. Dass um demokratische Konsens­findung stets kontrovers und ständig von Neuem gerungen werden muss. Aber diese Verwundbarkeit hat zugenommen, in immer beunruhigenderem Masse.

Was Russland uns vor Augen führt, sind die horrenden Konsequenzen der autoritären Regression. Es ist zu hoffen, der Krieg werde längerfristig dazu führen, dass die liberalen Verfassungs­staaten ihre Grund­werte wieder offensiver affirmieren und sich auf Demokratie und Freiheit mit neuer Entschiedenheit verpflichten. Vorderhand beobachten wir jedoch etwas anderes: den Vormarsch des putin­freundlichen Rechts­populismus in Frankreich. Einen mit «Werte­freiheit» auftrumpfenden Neutralitäts­kult der sogenannten Schweizer Volkspartei. Einen taktierenden Attentismus der Regierung der Bundes­republik Deutschland, der theoretischen europäischen Führungs­macht.

Dass die europäischen Demokratien der Bedrohung der Demokratie mit Entschlossenheit entgegen­treten, macht sich jedenfalls nicht hinreichend bemerkbar. Immerhin, viele europäische Staaten lassen der Ukraine ohne Vorbehalt ihre Hilfe angedeihen. Aber auch die Gegen­kräfte dürfen nicht unterschätzt werden: Die Bedrohung, die der Krieg von aussen an uns heranträgt, findet durch die illiberale Grund­haltung des Le-Pen-Frankreichs, des Brexit-Grossbritanniens, der Maga-USA (Make America great again) eine offenkundige Verstärkung. Wird die westliche Front halten? Und selbst wenn dem so sein sollte und die westlichen Mächte Putins Angriffs­krieg gegenüber geeint bleiben: Werden sie selber der autoritären Regression widerstehen?

Vor gut vier Jahren wurde die Republik ins Leben gerufen – unter dem Eindruck der Trump-Präsidentschaft, eines immer dysfunktionaler werdenden Medien­diskurses und der sich verdichtenden Symptome der Bedrohung der Demokratie. Würden wir heute sagen, die Bedrohungs­lage habe sich entspannt? Nachdem die Pandemie die gesellschaftlichen Konflikte noch einmal massiv verschärft hat? Nachdem der politische Kompromiss, der in der Schweiz gefunden wurde, um das Medien­system zu stabilisieren, von einer Allianz bürgerlicher Establishment-Vertreter, radikaler Pandemie­leugner und rechts­populistischer Medien­unternehmer mit Leichtigkeit gekippt werden konnte?

Kaum würde man behaupten wollen, der demokratische Grund­konsens sei heute solider als vor ein paar Jahren. Wir begreifen allerdings inzwischen besser, wie schnell die Dinge entgleisen können. Und wie verheerend dann die Folgen sind.

Die Zitterpartie der französischen Präsidentschafts­wahlen ist umso angespannter, als schon heute feststeht, dass der eigentliche, noch folgenreichere Test für die Zukunft des liberalen Verfassungs­staates erst im November dieses Jahres stattfinden wird, im Rahmen der amerikanischen Midterm-Wahlen. In der gegenwärtigen Lage spielen die Vereinigten Staaten mit bewunderns­werter Entschlossenheit ihre Rolle als Führungs­macht der freien Welt. Nachdem sie in Afghanistan und im Nahen Osten ein so beschämendes, zerstörerisches Erbe hinterlassen haben, bewegt sich die Supermacht im Rahmen dieser Gross­konfrontation auf der Höhe ihrer Werte. Fest steht jedenfalls: Keine andere westliche Militär­macht wäre auch nur im Aller­entferntesten in der Lage oder willens, einen äquivalenten Beitrag zu leisten. Das Problem ist allerdings, dass die innen­politischen Perspektiven der USA weiterhin sehr düster sind.

Zwar ist offen, ob Trump tatsächlich noch einmal kandidieren wird und ob nicht doch auch juristische Mittel gefunden werden könnten, um eine allfällige Kandidatur zu verhindern. Ausser Frage scheint jedoch zu stehen, dass die Republikanische Partei auch in Zukunft von den Maga-Kräften beherrscht bleiben wird – aller Wahrscheinlichkeit nach in einer ideologisch radikalisierten Variante.

Paul Krugman hat die Verschiebungen innerhalb der Republikanischen Partei im Hinblick auf die midterms folgender­massen beschrieben: «Im Jahr 2016 hat Trump immerhin so getan, als würde er sich um echte Probleme kümmern.» Er sprach über den Niedergang der amerikanischen Industrie, die sehr reale Verelendung auch der weissen Unter­schicht. Die Wirtschafts­politik der Trump-Administration hat dieses Elend dann allerdings verstärkt: Die Arbeitsplätze im Industrie­sektor sind noch einmal stärker zurück­gegangen. Deshalb, so Krugman, werde jetzt ausschliesslich auf Kultur­kampf gesetzt, um die Basis bei der Stange zu halten. Beziehungs­weise noch nicht einmal das: «Es wird kein richtiger Kultur­kampf ausgefochten, es gibt keine Konfrontation zwischen Visionen, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Sie hetzen die Basis mit reinen Fantasien auf, mit Bedrohungen, die nicht existieren.»

Das Problem bei der Sache ist: Die Republikaner haben ausgezeichnete Chancen, bei den Wahlen im November die Kontrolle über beide Parlaments­kammern zurück­zuerobern. Und nicht nur innen­politisch dürfte ihre Plattform eine verschärfte Variante des Trump-Diskurses sein. J. D. Vance, der von Trump unterstützte republikanische Kandidat für das Senats­rennen in Ohio, hat jedenfalls öffentlich bekundet: «Was in der Ukraine geschieht, hat nichts zu tun mit unseren nationalen Sicherheits­interessen, aber es lenkt unsere idiotische ‹Führung› davon ab, was in unserem Interesse liegt.»

Sicherlich: Die Aussenpolitik wird auch nach einer allfälligen Eroberung des Repräsentanten­hauses und des Senates durch die Republikaner für weitere zwei Jahre von der Biden-Administration gemacht werden. Aber auch mit Bezug auf die Entwicklung der Nato, den Konflikt mit Russland und eine mögliche europäische Friedens­ordnung gilt: Die Zukunft ist völlig ungewiss.

Die westlichen Demokratien brauchen offensichtlich dringend einen erneuerten Gesellschafts­vertrag, neue Formen der politischen Verantwortung, der sozialen Inklusion. Ein Bekenntnis zu globalen Handels­beziehungen und einer internationalen Friedens­ordnung. Eine Verteidigung von rechts­staatlichen Freiheits­rechten und gesamt­gesellschaftlicher Solidarität. Ein permanentes Ringen um eine faktentreue, offene Debatte.

Eines ist gewiss: Wir werden es uns auf Dauer nicht leisten können, permanent am autoritären Absturz vorbei­zuschrammen. Demokratie muss offen und verwundbar sein. Als endlose Zitter­partie kann sie genau deshalb nicht überleben.

Illustration: Alex Solman

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