Am Ende der Vorstellung

Heute eröffnet der Schweizer Pavillon auf der 59. Biennale in Venedig. Bespielt wird er von Latifa Echakhch, der Künstlerin, die Objekte abfackelt, den Himmel zertrümmert – und die Dinge doch nur bewahren will.

Von Antje Stahl (Text) und Karla Hiraldo Voleau (Bilder), 20.04.2022, Update um 11.00 Uhr

Teilen4 Beiträge4
Synthetische Stimme
0:00 / 18:55

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Ihre Kunstwerke würden nicht beschädigt, um sie zu zerstören …
… sagt Latifa Echakhch, sondern um ihr Wesen herauszustellen.

Als wir die grundsympathische Künstlerin Latifa Echakhch in ihrem neuen Studio in der Altstadt von Vevey antreffen und staunend die niedlichen Rund­bögen und schlanken Säulen­gänge unter der Glaskuppel begutachten, muss sie lachen. Es sei schon einiger­massen komisch, sagt sie, dass sie zwischen einem Kiosk und einem Imbiss gelandet sei, die Shishas beziehungs­weise Döner Kebab verkaufen. Und es hier drinnen in ihrem neuen Studio wie in einem Hamam (nur ohne Dampf­wolken) aussehe.

In ihrer Kunst, das sei der Ordnung halber gesagt, taucht zwar auch vereinzelt orientalischer Kitsch auf. Diese bunten kleinen Gläser zum Beispiel, aus denen man überall auf der Welt extrem süssen Pfefferminz­tee trinkt. Latifa Echakhch hat sich jedoch angewöhnt, die Dinge zu zerschmettern – wer eine Ausstellung von ihr besucht, wird diese Gläser deshalb nur noch in Form von Scherben und Splittern auf dem Fussboden eines Museums vorfinden.

Ob es sich dabei um eine «Destabilisierung der identitäts­bezogenen Assoziation» handelt – wie der Kunst­historiker Alessandro Rabottini meint, die Besucherin also davon abgehalten werden soll, Echakhch auf ihre marokkanische Herkunft zu reduzieren? Das mag dahingestellt sein. Später wird sie, geboren 1974 im marokkanischen El Khnansa, über diese destruktive Seite ihres Schaffens sagen, dass sie Dinge nicht beschädige, um sie zu zerstören.

Verkohlte Überreste im Giacometti-Haus

Für den Schweizer Pavillon auf der Biennale von Venedig, der heute nach einem Pandemiejahr Verspätung nun endlich für die Presse eröffnet, hat sie ein Feuerzeug in die Hand genommen und eine Holzskulptur in Flammen gesteckt. Selbstverständlich mussten dafür in den schönen Giardini alle möglichen Brandschutz-Vorsichts­massnahmen getroffen werden. Trotzdem soll kurz ein Helikopter über der Rauchwolke auf dem Biennale-Gelände gekreist sein (anlässlich des 25. Jahrestages gedachten die Venezianer ja erst ihrer Oper, die schon einmal 1774 und nach dem Wieder­aufbau als «La Fenice» 1792 im Jahr 1996 erneut niederbrannte).

Von Echakhchs Aktion im März 2022, die «man sich vielleicht spektakulärer vorstellt, als sie war», sind im Schweizer Pavillon nur noch die verkohlten Überreste zu sehen. Echakhch verteilte sie auf Kiesel­steinen, die sie den Fusswegen der Giardini entnehmen durfte und im gesamten einst von Bruno Giacometti errichteten Gebäude auslegte. Filter vor den Fenstern tauchen alles in orange­farbenes Licht. Weiter hinten verdunkeln sich die Räume, in der stillen Finsternis erkennt man ein Ohr und Hände, die sich schützend über die verbrannten Teile legen.

Und ja, das hat ein bisschen was vom Zürcher Frühlingsfest Sächsilüüte, auf dem jährlich der Böögg mit Feuerwerks­körpern in Brand gesetzt wird. Oder auch vom Burning Man, jenem Festival in der Black-Rock-Wüste von Nevada, auf dem die US-Amerikaner und ein paar Gäste aus dem Ausland beim Zündeln so richtig die (Drogen-)Sau rauslassen.

Bei Latifa Echakhch jedoch sind die Events immer bereits gelaufen, findet man nur noch Spuren von Aufführungen. Beim Stichwort «Theater» erwähnt sie ihren Vater, der nicht lesen und schreiben konnte, als er Ende der 1970er-Jahre zusammen mit seiner Familie aus Marokko nach Frankreich auswanderte. Er arbeitete in einem Casino, in dem es auch eine Opernbühne gab. Sie habe dort in den oberen Rängen und sogar backstage in ihrer Kindheit die eine oder andere Stunde verbracht.

In ihrem Werk tauchen denn auch häufiger Fährten auf, die auf theatralische Szenen schliessen lassen – Marionetten aus dem 19. Jahrhundert, die aus Neapel stammen zum Beispiel und an langen Schnüren von der Decke auf den Boden gesunken sind; oder es hängen Kleidungs­stücke an Metall­gerüsten, die auf Konzerten Beleuchtung und Lautsprecher tragen, wie vergessene Requisiten über der Kleiderstange – Blusen, Nacht­hemden und BHs. Es liegen auch scheinbar hastig abgestreifte Kostüme und Instrumente eines Blasorchesters herum oder ein rot-gelb gestreiftes Zirkuszelt, das zusammen mit einem blauen Ball oder Pferde­halftern den Eindruck hinterlässt, eine Manege sei überstürzt verlassen worden.

Und immer und immer wieder arbeitet die Künstlerin mit diesen aberwitzig grossflächigen Stoffbahnen, die wie zu lange Vorhänge fallen oder gar von ihrer Halterung zu stürzen drohen.

Lockdown-Einsamkeit im Atelier

Eine Reihe davon zeigte sie in der Dreispitzhalle in Basel im Jahr 2020, in einer Phase der Pandemie, in der die Museen unter scharfen Hygiene­vorschriften wieder öffnen durften. Sie waren mit Fotomotiven von Sonnen­untergängen bedruckt, die aus den Bergen und von einem Balkon in Lausanne geschossen wurden. In ihrem Studio in Vevey erzählt Latifa Echakhch, Besucherinnen hätten darin plötzlich eine Art Sinnbild für ihre Lockdown-Einsamkeit gesehen.

Eigentlich empfängt die Künstlerin nicht so gerne Presse­vertreterinnen. Sie arbeitet allein, ohne jenen grossen Personalstab, den man zuweilen in anderen Künstler­studios antrifft. «Ich bin keine Industrie», sagt Echakhch. Als sie zwischen den grossen und kleinen Städten Europas hin- und herzog, weil sie dort entweder Kunst studierte (Grenoble, Lyon und Paris) oder glaubte, im Zeitgeist mitschwimmen zu müssen (Berlin, London, New York), fühlte sie sich immerzu gestresst. In Berlin habe sie zwischen den vielen Drauf- und Partygängern, die zwar alle grosse Ateliers mieteten, aber nicht zu arbeiten schienen, so viel Körper­gewicht verloren, dass sie schleunigst wieder abgezogen sei.

Mitten in Vevey bilden Rundbögen …
… und Säulengänge …
… das Atelier von Latifa Echakhch, das die Atmosphäre eines Hamam verströmt.

Kurz vor ihrer ersten grossen Einzel­ausstellung im Jahr 2007 im Magasin, Grenoble, bot ihr eine Freundin aus lauter Sorge dann ihre Zürcher Wohnung im Kreis 4 an: «In der Schweiz wird es dir gefallen.» Am Ende zog Latifa Echakhch mit ihrem damaligen Lebens­gefährten, dem Künstler Valentin Carron, nach Martigny ins Wallis. «Ich bin ein Mädchen aus den Bergen und fühlte mich sofort zu Hause», sagt die Künstlerin (Aix-les-Bains, der Ort in Frankreich, den ihre Eltern mit ihrer damals dreijährigen Tochter bezogen, liegt im Département Savoie in der Region Auvergne-Rhône-Alpes).

Als sie 2008, ein Jahr nach ihrem grossen Auftritt in Grenoble, in die Tate Modern, London, eingeladen wurde, begann die Zusammen­arbeit mit internationalen Galerien. Und sie überzeugt Jurys – Mies-van-der-Rohe-Stipendium 2011, Prix Marcel Duchamp 2013, Zurich Art Prize 2015.

Beim Auswahlgespräch, das die Stiftung Pro Helvetia Ende 2019 organisierte, weil sie (beziehungs­weise ein von ihr ernanntes Komitee) über die Vergabe des Schweizer Pavillons auf der Biennale von Venedig richtet, wäre man gerne dabei gewesen. Offenbar wurden jeder der insgesamt sechs Kandidatinnen in einer Art Assessment Center for the Künste gerade einmal zwanzig Minuten eingeräumt, um ihre künstlerische Idee vorzustellen, dann mussten sie noch zwanzig Minuten lang Fragen beantworten und eine DIN-A4-Seite Konzept­papier da lassen.

Ganz offensichtlich hat sich Echakhch aber ganz okay geschlagen. Das von ihr gemeinsam mit dem Komponisten und Perkussionisten Alexandre Babel und dem Kunst­historiker Francesco Stocchi geplante «The Concert» wurde nun so ziemlich genau eins zu eins in Venedig umgesetzt – inklusive der weitgehenden Verkohlung.

Keine Kunst zu Kriegszeiten

Wenn man Latifa Echakhchs Bildsprache kennt, ist dieses Nicht­abweichen von einer Idee vielleicht nicht besonders überraschend. Nun findet die Biennale in Venedig aber, wie gesagt, mit einem Pandemiejahr Verspätung statt, und die Menschen, die sich die Welt­kunstausstellung anschauen, haben andere Erfahrungen durchlebt, in mehr oder weniger beengender Isolation ausgeharrt, vielleicht Angehörige verloren.

Drei Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verkündeten zudem die Künstlerinnen Alexandra Sukhareva und Kirill Savchenkov, dass sie den russischen Pavillon, der nur ein paar Meter entfernt von den Schweizern steht, nicht mit ihrer Kunst aufhübschen würden: «Es gibt keinen Platz für Kunst, wenn Zivilisten unter Bomben­beschuss sterben, wenn Zivilisten in der Ukraine sich in Luftschutz­bunkern verstecken und wenn russische Demonstranten zum Schweigen verurteilt werden.»

Selbst wenn kaum ein anderer Teilnehmer der Biennale so weit gehen wird, kann Kunst unter dem – wie verklausulierte man einst? – Einbruch des Realen rasend schnell wie Dekor daherkommen, das das Verbrechen traditionell ja eher verschleiert. Die Biennale an der Lagune von Venedig ist nicht ohne Grund in Verruf geraten, Anlauf­stelle für Luxus­jachten (von Oligarchen) und Haupt­umschlagplatz für den internationalen Kunst­handel zu sein.

Wenn etwas in der Welt geschehe, dem ihr Projekt nicht mehr standhalten könne, erzählt Latifa Echakhch, ändere sie es. Darauf habe sie auch Pro Helvetia von Anfang an hingewiesen. Während der vergangenen zwei Jahre sei sie jedoch immer wieder zu ihrer Ursprungs­idee für den Pavillon zurückgekehrt. Sie wollte dort erproben, ob sich musikalische Fragen auf die bildenden Künste übertragen lassen, ob – mit anderen Worten – eine Partitur räumlich zum Ausdruck gebracht werden könne. Die Kieselsteine, über die man durch den Schweizer Pavillon wandelt, spielen dabei eine akustische Rolle, aber auch die stille Finsternis weiter hinten, die durch schall­isolierende Wände und schwarze Farbe erzeugt wird.

In Vevey erklärt Latifa Echakhch, dass die Arbeit eine radikale Transformation ihrer Praxis darstelle – schliesslich liege dem Werk kein Bild zugrunde, sondern Musik. Im Rückblick erkennt sie zwar, dass so etwas wie Rhythmus schon immer eine Rolle gespielt habe. Von nun an wolle sie sich aber vorrangig mit Instrumenten beschäftigen, im Keller ihres neuen Studios wird deshalb auch ein Tonstudio eingerichtet.

Der Umzug aus dem Wallis an den Genfersee vor ein paar Wochen ist zwar vor allem ihren Töchtern, vier und neun Jahre jung, geschuldet (sie bekommen im Keller eine Tobe-Ecke, eine Kindheit und ganz besonders eine Jugend in Laufnähe zu Schule, Sportverein und Badespass, wobei auch die Zugverbindung zu Clubs in Lausanne und Genf direkter sind, was ihr, der Mom, dereinst viele Autofahrten ersparen werde). Irgendwann gebe es in der Karriere jedoch den Wunsch, sich zu verändern.

Bestechend schöne Landschafts­motive

Sie wusste bereits vor vielen Jahren, dass diese Midlife-Phase kommen werde, von der alle Künstler berichten, die in die grossen Museums­häuser einziehen durften (die Biennale in Venedig ist Latifa Echakhch im Übrigen auch nicht fremd, 2011 säumten von ihr aufgestellte Fahnen­stangen ohne Flaggen einen der Hauptwege zwischen Schweizer Pavillon und Zentralem Pavillon). Deshalb öffnet Latifa Echakhch ihren safe space nun auch erstmals Gästen, Nachbarn, jungen Künstlerinnen und sogar Presse­vertretern: «Es ist wichtig, zu teilen.» Und trotzdem erkennt man im Schweizer Pavillon auf der diesjährigen Biennale diese scheinbar zeitlose Formen­sprache, die überall in ihrem bisherigen Werk auftaucht.

Eine Holzskulptur in Flammen zu stecken, ist nun mal ein Feuerbrauch, der über Ländergrenzen hinweg seit eh und je praktiziert wurde. In die verkohlten Überreste lassen sich daher auch in diesem Augenblick alle möglichen metaphysischen Bedeutungen hineinlegen – conditio humana: Zerstörung und Neubeginn.

Im Gespräch betont die Künstlerin, dass sie die Dinge nicht beschädige, um sie zu zerstören. Sie wolle im Gegenteil ihr Wesen heraus­stellen. «Während der Pandemie, als wir einander nicht sehen konnten, die Strassen menschenleer waren und die Restaurants geschlossen, wollten wir ja auch nichts sehnlicher, als uns zu umarmen. In der sozialen Distanz wurde etwas präsent, was wir sonst nicht wahrnehmen, weil es normal ist.»

An der Wand in ihrem Studio unter der Glaskuppel lehnt demonstrativ ein Gemälde, das junge Leute auf einer Party festhält, die Farbschichten hat sie auseinander­gebrochen, sodass es wie ein melancholisches Zeitfragment wirkt, das qua Naturgesetz ja vergänglich ist. Nach dem – dann leider auch von Echakhch selbst angedeuteten – Motto «Das Glück kommt, und das Glück geht».

Wenn man ganz besonders schlechte Laune hat, könnte man das für etwas zu floskelhaft-romantisch für die Gegenwart halten. Zumal Echakhch sich oft an Motiven aus bestechend schönen Landschaften bedient. In der Dreispitz­halle in Basel im Jahr 2020 tauchten, wie gesagt, Sonnen­untergänge aus und rund um Lausanne auf.

Immer wieder greift sie zu den Wolken, sie setzt Vögel aus Plastik­tüten in Bäumen und Steine – Findlinge in allen möglichen Grössen und Farben wie Ziegel – in Kunst­räumen aus. In The Power Plant, Torontos Museum für zeitgenössische Kunst, fertigte sie ein Fresko aus Zement vom Himmel an, um den pastell­blauen Farbanstrich mit seinen schneeweissen Wölkchen dann wieder auseinander­zuschlagen.

Sinnbild für die Katastrophe

Latifa Echakhch war einmal davon überzeugt, dass sie mit dieser Kunst niemals durchkommen würde, nicht in ihrer Generation. 2006, ein Jahr bevor sie ihre erste Einzel­ausstellung überhaupt in Grenoble eröffnete, besuchte sie die grosse Sause «Notre histoire …» im Pariser Palais de Tokyo. Die zumindest in Europa jeden Diskurs prägenden Kuratoren Jérôme Sans und Nicolas Bourriaud zeigten ihre persönlichen Shootingstars, viele davon ebenfalls aus den 1970er-Jahrgängen, die angeblich die Kunst des 21. Jahrhunderts lieferten. Sie schaute sich um, erzählt die Künstlerin, die nun den Schweizer Pavillon bespielt, und fühlte sich so unfassbar weit weg von der schrillen Ästhetik im Techfieber. «Ich bin ein lebensfroher Mensch, aber wenn ich meine Ausstellungen dann vor mir sehe, denke ich: ‹Ah, das ist also meine Kunst.›»

Auseinandergebrochene Farbschichten machen das Kunstwerk zum melancholischen Zeitfragment.

Meint sie damit diese Einsamkeit ihrer Requisiten? Die Trauer über das Ende der Vorstellung? Die Gewalt, die aus kleinen Steinen spricht, weil sie sie «Stoning» nennt und man deshalb an die Ermordung von Frauen durch Steinigung denkt?

Projektionsfläche Kunst. Am Ende des Tages verrät sie ohnehin immer weniger über den Künstler als sehr viel mehr über die Betrachterin selbst. Ganz besonders, wenn es sich dabei um Landschaften von Latifa Echakhch handelt oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Im kunst­historischen Fachjargon heisst das Rezeptions­ästhetik, im konkreten Einzelfall ein Sinnbild für die Katastrophe.

Nehmen wir zum Abschluss den Himmel aus Zement mit seiner pastellblauen Farbe und schneeweissen Wölkchen: Als Latifa ihn 2016 in Toronto zertrümmerte und er in Scherben zu Boden stürzte, dachte sie an Palmyra – Fotos von zerschlagenen Statuen und eingerissenen Tempel­mauern in der von IS-Jihadisten besetzten syrischen Stadt gingen um die Welt.

Die Kuratorin Carolin Köchling, die Echakhch in den Ausstellungs­raum nach Toronto eingeladen hatte, der so lang und schmal ist, dass er eher einer Schlucht ähnelt als einer Galerie, erinnerte der Himmel an die Kosmologie der Yanomami. Indem die Künstlerin ihm eine materialisierte Form gegeben habe, habe sie ihn verletzlich gemacht, erzählt Köchling. Und Davi Kopenawa, Schamane und Sprecher der im Amazonas beheimateten indigenen Volksgruppe der Yanomami, bezeichnet in seinem Buch «The Falling Sky» den Wald, «in dem sie leben, und der Grund, über den sie laufen», als wãro patarima mosi, als alten Himmel. Als der Himmel zu Beginn der Zeiten herunterfiel, befand sich dieser Wald nämlich auf seiner Rückseite.

Ein Himmel, der fällt, zerschlagen wird, zu Boden stürzt. Im April 2022 gehören solche Bilder zur Kriegs­rhetorik. Seitdem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, ruft Präsident Wolodimir Selenski «seine Freunde» auf, «den Himmel zu schliessen». Hinter der wohlklingenden Metapher verbirgt sich die Flug­verbotszone, mit der die Nato die Ukraine gegen russische Bomben­angriffe aus der Luft verteidigen könnte. Trotz der zunehmenden Gewissheit über die Kriegs­verbrechen, die Ermordung und Vergewaltigung von Zivilistinnen durch russische Soldaten, verweigern die Nato-Mitglieds­staaten dem Präsidenten jedoch diese Hilfe.

Was tun?

Auf der diesjährigen Biennale von Venedig und ganz besonders in den kommenden Tagen, wenn ein Pavillon nach dem andern eröffnet oder eben auch geschlossen bleibt, wird sich das Gespräch zwangsläufig um die Frage drehen, welche Aufgabe die Kunst hat – oder ihr noch bleibt.

Der Titel der Haupt­ausstellung «The Milk of Dreams», die von Cecilia Alemani kuratiert wurde, ist einem Kinderbuch der Surrealistin Leonora Carrington entnommen, in dem einem jungen Mann gleich im ersten Kapitel der Kopf wegfliegt, weil er anstelle seiner Ohren grosse Flügel hat. Verzweifelt versucht er, seinen Flügelkopf wieder einzufangen, und als er ihn wie einen Gaul mit einem Lasso endlich erwischt, klebt seine Mutter ihn mit einem Kaugummi jedoch einfach falsch herum auf seinen Leib. Fortan muss der arme Junge also entweder rückwärts laufen, wenn er geradeaus schauen möchte, oder eben auf das blicken, was hinter ihm liegt.

Wie genau das die Denkrichtung beeinflusst, um nicht zu sagen revolutioniert? Bericht­erstattung folgt. Vor unserem Rundgang durch die Giardini und Arsenale fragen wir zur Sicherheit aber noch bei den Galerien von Latifa Echakhch nach. Am Ende sollte man die Kunst vielleicht auch für einen Augenblick aus der Haft entlassen – und den Markt unter Handlungs­druck stehen sehen und zur Verantwortung ziehen.

Internationale Sanktionen wurden über den Handel mit Russland verhängt. In Paris erreichen wir kurz vor seiner Abreise nach Venedig noch den Galeristen Kamel Mennour. Er sagt, er sei in den vergangenen Monaten mit keinen Kaufanfragen aus Russland konfrontiert. Und wenn, würde er zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall ein Geschäft mit Sammlern aus dem Land eingehen, das diesen Schrecken verbreite, versichert er.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!