«Kunst wird praktiziert, wir verstehen sie nicht als abgetrennt von den Dingen, die in der Welt passieren»: Farid Rakun vom Künstlerinnenkollektiv Ruangrupa. Jin Panji

«Wir sind gar nicht so radikal»

Farid Rakun gehört zum Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien, das die diesjährige Documenta kuratiert. Die Republik traf ihn zum Interview in Kassel. Dabei waren bestimmte politisch brisante Fragen unerwünscht – bis es doch noch anders kam.

Von Antje Stahl, 16.04.2022

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Synthetische Stimme
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Wie jedes Mal, wenn die Kunst­ausstellung Documenta ansteht, versuchen sich alle irgendwie einen Überblick über die Veranstaltung zu verschaffen, von der nicht zu Unrecht behauptet wird, sie bringe den Zeitgeist und womöglich auch die Zukunft wie keine andere zur Ausstellung.

Die Eröffnung der 15. Ausgabe findet zwar erst im Sommer statt. Am 18. Juni, um genau zu sein. Trotzdem stehen bereits allerhand Informationen bereit. Das Kuratoren­kollektiv Ruangrupa aus Jakarta arbeitet immerhin bereits seit drei Jahren an ihrem Konzept namens «lumbung» und hat eine sehr lange Liste mit Namen von Künstlerinnen, Filme­machern und Aktivistinnen bekannt gegeben, davon viele aus dem sogenannten Globalen Süden. «Neue Perspektiven» möchten sie gemeinsam schaffen, schreiben sie. «Soziale Beziehungen» aufbauen und «(Macht-)Verhältnisse hinterfragen». Das klingt schön und schrecklich allgemein­gültig.

Zwischen Farb­klecksen und dem Bootshaus Ahoi

Einige raunten wohl auch deshalb über diesen Plan, das schöne gute alte Kunstwerk genialer Individuen zugunsten einer Wir-Gemeinschaft mit politischem Anspruch aus dem Weg zu räumen. Dabei beherrscht der post- und dekoloniale sowie feministische beziehungsweise inter­sektionale Diskurs schon seit Jahren die Debatten. Und es ist höchste Zeit, dem globalen Kunstmarkt jene alternativen künstlerischen und sozialen Praktiken entgegen­zuhalten, die sich in Ländern wie Algerien, Indien, Uganda, Südafrika, Indonesien, aber auch in Ungarn, Dänemark oder Deutschland für Menschen einsetzen, die an den Rändern ihrer Gesellschaften leben.

Das alte Kaufhaus in der Kasseler Innenstadt, das Ruangrupa zu ihrem Wohn- und Arbeits­zimmer erklärt hat, war pandemie­bedingt bisweilen zwar sehr verwaist – allein die lila, gelben und grünen Farbklecks­wesen schienen sich hier aufzuhalten, die zur visuellen Identität der englisch genannten Documenta fifteen beitragen sollen und in grossem Mass­stab auf die Fassade geklebt wurden.

Ein Möglichkeitsraum, um Projekte umzusetzen: Das ruruHaus in Kassels Innenstadt. Nicolas Wefers

Nun aber füllte sich das sogenannte ruruHaus langsam. Und die Republik bekam die Gelegenheit, Farid Rakun, eines der Mitglieder des Kuratoren­teams, persönlich und nicht nur per Video-Fernschaltung kennenzulernen.

Vor dem Interview schenkt eine Presse­sprecherin der Documenta noch ein paar Einblicke in einige der Standorte der Schau. Neben einem denkmal­geschützten Hotel namens Hessenland aus den 1950er-Jahren werden auch der Fluss Fulda und ein altes Bootshaus dazugehören, das einmal dem Künstler Stephan Balkenhol gehört haben soll (und Ahoi heisst). Auf dem Weg zum Treffpunkt in der Rotunde des Museums Fridericianum nickt die Presse­sprecherin dann noch der Kuratorin Ruth Noack zu, die 2007 zusammen mit Roger M. Buergel die 12. Ausgabe der Documenta verantwortet hat.

Antiisraelische Aktivisten auf der Documenta?

Damals sorgten im Vorfeld 1001 Chinesinnen für mediale Unruhe, die der Künstler Ai Weiwei als Teil seines Kasseler Märchens angekündigt hatte und anreisen lassen wollte. Ein Massen­ornament, fürchteten Kritiker. (Am Ende wurden fröhliche Koch- und Tanzpartys gefeiert.) In diesem Jahr müssen sich die Kuratorinnen gegen andere Vorwürfe zur Wehr setzen: Das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus hat im Januar «die Beteiligung anti­israelischer Aktivisten an der Documenta fifteen» öffentlich angeprangert.

Konkret ging es dabei um das Kollektiv The Question of Funding aus Palästina, zu dem auch der Künstler Yazan Khalili gehört. Khalili unterstütze die Boykott­bewegung BDS gegen Israel, schrieb das Bündnis, «outete sich selbst als antisemitischer Schläger und agitiert für die Abschaffung des jüdischen Staates Israel».

Unabhängig davon, ob dieser Vorwurf berechtigt oder unberechtigt ist, wurde davon jedoch nicht nur die Documenta alarmiert, sondern auch die neue deutsche Kultur­staatsministerin. Könnte es sich bei dem Kollektiv, das mit Wörtern wie «Freundschaft» und «Solidarität» aus Indonesien anreist, um mithilfe von Steuer­geldern eine friedliche Welt­gemeinschaft in Kassel aufleben zu lassen, um eine Förder­gruppe von gewaltbereiten Israel­hassern handeln?

In Deutschland hat der Bundestag einen partei­übergreifenden Antrag angenommen, in dem steht, dass er der BDS-Kampagne, also dem «Aufruf zum Boykott von israelischen Waren, Unternehmen, Wissenschaftlern, Künstlern und Sportlern», entschlossen entgegentritt und davon abrät, Organisationen finanziell zu unterstützen, die das Existenz­recht Israels infrage stellen. Dieser Beschluss ist keine Rechts­grundlage, er verpflichtet Ruangrupa und die Documenta mit anderen Worten nicht dazu, sich an die Kulturpolitik des Ausschlusses zu halten. Das würde, wie in der Ausarbeitung zum BDS-Beschluss dargelegt wird, in das Grundrecht auf Meinungs­freiheit eingreifen.

Keine post­kolonialen Debatten, bitte?

Umso dringlicher ist und bleibt aber auch deshalb das öffentliche Gespräch darüber. In einem Interview besteht die Möglichkeit, Vorwürfe gegenüber einem Künstler wie Yazan Khalili aus dem Weg zu räumen, seine künstlerische Praxis vorzustellen. Oder gegebenenfalls auch die Überzeugung zu begründen, weshalb ein Boykott gegenüber einem Land eine legitime Form des Protestes darstelle.

In einem Beitrag für die Sendung «Kulturzeit» auf 3sat, den der deutsch-israelische Fernseh­journalist Uri Schneider über Yazan Khalili in Amsterdam drehte, werden dessen «Apartheid Monochromes» von 2017 gezeigt, eine Reihe von Leinwänden in den Farben von «Ausweis­dokumenten, durch die die Besatzungs­macht Israel Palästinenser nach politischem Status klassifiziert». Herunter­gekommene Häuser im Gazastreifen werden in einer anderen seiner Arbeiten bunt angestrichen, um so etwas wie Hoffnung unter Palästinensern zu verbreiten. Alternative Finanz­systeme werden erforscht, die Palästina unabhängig von inter­nationalen Geldern machen könnten.

Klassifizierung: Yazan Khalili, «Apartheid Monochromes», 2017. Acryl auf Leinwand. Courtesy of the artist and Lawrie Shabibi
Schönfärberei: Yazan Khalili, «Colour Correction 1 (large)», 2007–2010. Courtesy of the artist and Lawrie Shabibi

Auch der Künstler selbst kommt zu Wort: «Wir werden des Antisemitismus beschuldigt, weil wir uns gegen Unrecht aussprechen. Und diese Anschuldigungen kommen von einer Nation, die das grösste Unrecht der Menschheits­geschichte verübt hat.» Khalili spricht von einem «israelischen Kolonialismus». Und davon, dass Deutschland natürlich eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden trage, es aber auch in der Pflicht stehe, wenn weiteres Unrecht geschehe.

Dieser Diskurs gehört zur post- beziehungsweise dekolonialen Debatte, die das Kuratoren­kollektiv Ruangrupa in Deutschland ins Zentrum ihres Programms stellt. Aber es gibt ein Problem: Ruangrupa, beziehungsweise die Pressestelle der Documenta, verweigert es, diese Debatte zu führen.

Das Interview, das die Republik mit Farid Rakun in der Rotunde des Fridericianum abhält, wird mitten im Gespräch über das Kollektiv The Question of Funding durch die Presse­sprecherin unterbrochen. Es werde bald ein Forum mit internationalen Wissenschaftlerinnen und Experten organisiert werden, in dem dieses sehr komplexe Thema besprochen werde, sagt sie.

Später werden aus dem ins Schriftliche übersetzten Interview alle Antworten von Farid Rakun, die das Kollektiv und seine Nähe zu BDS thematisieren, restlos gestrichen.

Zur Begründung heisst es in einem langen Mailverkehr, «der Interview­partner wollte sich dazu nicht äussern und auch nicht zitiert werden». Ausserdem behauptet die Pressestelle, es habe ohnehin eine «Absprache» mit der Republik-Autorin gegeben, durch die «im Vorfeld bestimmte Themen ausgeschlossen wurden».

Da die Funktion eines Kurators im Wesentlichen darin besteht, ein Sprachrohr für die von ihm zu einer Schau eingeladenen Künstler zu sein; es sich bei der Documenta bekanntlich auch nicht um eine Privat­angelegenheit handelt, sondern um eine aus den staatlichen Kassen von Stadt, Land und Bund mitfinanzierten Gross­veranstaltung; es ausserdem ein Recht auf Information gibt, ganz besonders, wenn es sich dabei um ein so zentrales Thema der deutschen Erinnerungs­politik handelt; und es last, but not least keine solche Absprache gegeben hat – aus all diesen Gründen hakt die Republik nach.

Über mehrere Tage versuche ich, die Pressestelle zu erreichen, wähle diverse im Netz verzeichnete Telefon­nummern an. Ich bitte um eine Stellung­nahme der Geschäfts­führung und einen schriftlichen Nachweis über die angeblich getroffene Absprache. Die Documenta stellt sich stumm. Keiner ruft zurück.

Zuletzt erreicht die Republik eine E-Mail von der Pressestelle, in der es dann plötzlich heisst: «Entgegen deiner Darstellung» wurde «Ende Februar telefonisch mit dir abgestimmt, dass es mit Blick auf das Expert*innen­forum keine Aussagen zur Debatte über die Stellung­nahme auf unserer Website hinaus geben wird». Und trotzdem wird festgehalten: «Für den von dir telefonisch am Service­telefon erneuerten Vorwurf der Zensur gibt es keinen Anlass.»

Leider teilen Journalistinnen anderer Medien­häuser und Publikations­kanäle die Erfahrung der Republik. In Tel Aviv erreichen wir Uri Schneider, der den «Kulturzeit»-Beitrag über Yazan Khalili für 3sat machte. Die Documenta habe seine Nachfragen ebenfalls abgewiesen, bestätigt er. Im Gespräch mit Niklas Maak, Redaktor im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», lässt dieser anklingen, diesem «skandalösen» Widerstand einer gemein­nützigen Gesellschaft vor der Veröffentlichung des Republik-Interviews selbst auf den Grund gehen zu wollen. Es könne nicht sein, schreibt er unter dem Titel «Darüber reden wir nicht», dass «die Documenta einerseits Antisemitismus zu einer möglichen Nebenfolge des Rechts auf Kunst- und Meinungs­freiheit herunter­redet und andererseits alle Fragen von Journalisten zum Thema unterbinden will».

Anfang dieser Woche hatte die Documenta einen Link auf Youtube zur Verfügung gestellt, über den man an drei Sonntagen im Mai die Gesprächs­reihe «We need to talk!» verfolgen darf, sehr wichtige Forscherinnen von Hoch­schulen und anderen Institutionen sind dabei. Bis Mittwochabend (und zur Veröffentlichung von Maaks Artikel) stand damit fest, dass weder Ruangrupa noch der Künstler Yazan Khalili auf öffentlicher Bühne zu ihrer Haltung zu BDS Stellung nehmen dürfen. Doch dann, scheinbar «aufgeschreckt durch Nachfragen» der FAZ, drückte die Presse­abteilung zu später Stunde der Republik plötzlich ihr Bedauern über etwaige Missverständnisse aus. Da die Gesprächs­reihe in trockenen Tüchern sei, beantworte Farid Rakun die Fragen nun doch «im Sinne eines offenen Gesprächs» – sprachlich und inhaltlich überarbeitet, versteht sich.

Farid Rakun, ist es seltsam, ein Interview so ganz allein zu geben, obwohl sich alles in der von Ruangrupa kuratierten Documenta fifteen um Kollektive dreht?
Nein, nicht wirklich, wir sind ja auch daran gewöhnt. Selbstverständlich würden die Antworten anders ausfallen, wenn hier jemand anderes aus unserer Gruppe sässe, aber der Vorteil eines Kollektivs besteht gerade darin, dass wir unsere Kräfte verteilen können.

Wie vertraut waren Sie mit der Documenta, als Sie 2019 eingeladen wurden, sich als künstlerische Leitung vorzustellen?
Ich habe die Ausstellung von Carolyn Christov-Bakargiev gesehen und war ziemlich beeindruckt davon, welche Art von Kunst einem da begegnete. Ich habe unter anderem an der Cranbrook Academy of Art in der Nähe von Detroit studiert, an der, wie soll ich sagen, eher moderne amerikanische Kunst gelehrt wurde. Es ging um Objekte, die nicht zuletzt auf einer der Kunstmessen der Staaten wie der Art Basel Miami Beach in Florida verkauft werden können. An und für sich ist das vollkommen in Ordnung, die Kunst in Kassel war allerdings anders, zumindest in meinen Augen damals.

Gleichberechtigtes Künstlerinnenkollektiv, gegründet im Jahr 2000: Ruangrupa. Saleh Husein

Traditionell wurde um die teilnehmenden Künstlerinnen der Documenta immer ein grosses Geheimnis gemacht. Sobald ein Name bekannt wurde, explodierte die Nachfrage. Sie veröffentlichen die Liste bereits im Herbst in einem Strassen­magazin. War das, wie viele schrieben, eine subversive Antwort auf den Kunstmarkt?
Wir sind gar nicht so radikal, muss ich gestehen. Wir arbeiten einfach so, wie wir es seit Beginn unserer Praxis um die Jahrtausend­wende gewohnt sind. Ich erinnere mich daran, dass auch kaum jemand die teilnehmenden lumbung members, Lumbung-Künstlerinnen und -Künstler, kannte und viele erst einmal ihre Namen googeln mussten. In ihren jeweiligen Wirkungs­bereichen sind die Kollektive jedoch extrem verankert, die Ghetto Biennale spielt in Haiti eine wichtige Rolle, ebenso die Fondation Festival sur le Niger in Mali. Daher stellt sich mir eher die Frage: Wem genau sind sie eigentlich unbekannt? Aus Gesprächen mit der Presse erfuhren wir ausserdem, wie schwierig es für sie ist, in wenigen Eröffnungs­tagen durch eine Gross­ausstellung zu rennen und alles zu überblicken. Es wäre nicht unsere Art, Geheimnisse zu hüten und einen Mythos zu reproduzieren. Am Ende handelt es sich nur um Informationen, die wir gerne im Voraus bereitstellen.

Das ist nett. Warum haben Sie Ihr Büro in einem ehemaligen Kaufhaus für Sportartikel in Kassel eingerichtet, in der sogenannten Sportarena?
Wir haben das ruruHaus bereits anlässlich anderer Veranstaltungs­formate ausprobiert und wussten, dass wir in Kassel ebenfalls einen Ort schaffen wollten, in dem wir gemeinsam mit dem Team der Documenta fifteen, dem Produktionsteam, den lumbung members and artists, arbeiten können. Die Immobilie stand frei, und das Budget erlaubte eine Übernahme. Für das internationale Kunstfestival Sonsbeek in Arnheim haben wir ebenfalls ein Geschäft bezogen. So eine Ladengalerie am Wegesrand, die ihre kommerzielle Nutzung verloren hat, ist auch einladender …

… als ein Museum?
Oder ein Haus. Ruangrupa hat wie viele andere Kollektive in Indonesien seine Praxis in Privathäusern aufgenommen, zwischen den Jahren 2000 und 2015 sind wir sehr viel umgezogen und haben den einzelnen Zimmern und Geschossen auch nie ein Programm aufgezwungen. Jeder konnte überall essen, musizieren, ausstellen, diskutieren und schlafen – zum Beispiel in einer Badewanne. Erst ab dem Jahr 2007 verfügten wir über so viele Bücher, dass wir eine Bibliothek einrichteten – oder einen Showroom, in dem wir regelmässig Ausstellungen organisierten. Immer aber standen wir vor der Herausforderung, eine häusliche Sphäre in eine öffentliche verwandeln zu müssen, das ist wesentlich schwieriger, als ein Geschäft in der Innenstadt wieder zu eröffnen, zu dem jeder potenziell Zugang hat.

Gegenwärtig fliehen unzählige Frauen und Kinder vor dem Krieg in der Ukraine. Ist es nicht fehl am Platz, in diesen Zeiten über Kunst zu sprechen?
Ja. Auch darauf gibt es sehr viele unterschiedliche Antworten. Menschen sterben jeden Tag. Geografisch gesehen haben viele unserer Mitglieder und Beteiligten Erfahrungen mit dem Krieg, sie kommen aus Mali oder Burma, auch für Menschen aus Indonesien gehören Massaker zur Lebensrealität. Ein Grund für Ruangrupa, die Documenta fifteen zu kuratieren, bestand sicher auch in der Hoffnung, von Initiativen zu lernen, die unter solchen Umständen ent- und bestehen können. Kunst wird ja praktiziert, wir verstehen sie nicht als abgetrennt von den Dingen, die in der Welt passieren, sondern im Gegenteil als Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen.

Können Sie ein Beispiel geben?
In Haiti … oder nein, wir müssen gar nicht so weit reisen, in Kopenhagen wurde im Jahr 2010 das Trampoline House für Asylsuchende geschaffen. Dänemark verfolgt neben Ungarn und Australien eine der schlimmsten Einwanderungs­politiken der Welt, und es ist mehr als ein Wunder, dass es diesen Ort der Zuflucht über zehn Jahre überhaupt geben konnte. Wir haben das Haus ein paarmal besucht, in jeder Ecke konnte man fühlen, wie unglaublich hart die Überlebens­bedingungen für alle Beteiligten waren, für die Asylsuchenden, aber auch für die Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten, die das Haus leiteten. In einem Slum in Kampala, Uganda, werden unter den widrigsten Umständen Filme produziert. Menschen sterben durch Waffen, sie sterben aber auch langsam durch städtebauliche Entscheidungen.

Wie meinen Sie das?
Um Ihre Frage vielleicht etwas direkter zu beantworten: Wir stehen vor extremen Heraus­forderungen. Die Pandemie ist eine – und der Krieg ist eine andere. Es ist tatsächlich schwierig, einfach an dem festzuhalten, was wir tun. Wir waren angetreten, eine Krise abzuwenden. Und nun? Nun holt uns Krise für Krise ein. Unser einziger Vorteil besteht wohl darin, dass wir im Rahmen der Documenta fifteen nicht nur unsere eigenen Stimmen zum Tragen bringen wollen und eine Struktur schaffen, die offen genug ist. Wir können nun nichts mehr aufschieben, es ist dringlich, lumbung ist dringlich.

Lumbung ist eines der zentralen Leitmotive der Documenta fifteen. Es bezeichnet auf Indonesisch eine Scheune, in der die überschüssige Reisernte zum Wohle der Gemeinschaft aufbewahrt wird. Sie setzten diesen Begriff aber auch wie eine Metapher für eine neuartige Solidar­gemeinschaft ein, die Sie mit der Documenta schaffen wollen.
In Indonesien haben wir in der Pandemie wieder einmal gemerkt, dass wir uns nicht auf den Staat verlassen können, dass wir uns nur gegenseitig helfen und retten können. Seitdem ich geboren wurde, waren es Familie, Freundinnen und Freunde, Menschen aus der Nachbarschaft, denen man vertrauen konnte. Während der 32-jährigen Diktatur unter Suharto konnte jeder jederzeit verhört und inhaftiert werden, alle, die ich kenne, lebten bis zur Befreiung im Jahr 1998 in Angst, ausspioniert zu werden. Viele der Mitglieder von Ruangrupa beteiligten sich an den Studierenden- und Protest­bewegungen. Ich ging damals noch zur Schule, konnte aber am eigenen Leib spüren, wie sich unter dem Eindruck der neuen gemeinschaftlichen Zusammenkünfte eine neue Form des Optimismus und der Euphorie durchsetzte, die es uns ermöglichte, endlich wieder offen über die Dinge zu sprechen, die uns wirklich etwas bedeuten. Es kommt darauf an, diesen Kreis der Gemeinschaft zu erweitern, ganz besonders jetzt. Nur wahnsinnig Reiche können es sich leisten, an sich selbst zu denken.

Kurz nach dem Beginn des russischen Militär­angriffs auf die Ukraine setzte der wirtschaftliche und kulturelle Boykott ein. In Deutschland wurde die Zusammen­arbeit mit Personen und Kultur­institutionen aus Russland beendet, Künstler sagten Auftritte wie im russischen Pavillon an der Biennale von Venedig ab, Kuratoren verliessen russische Museen. Wie geht diese Realpolitik mit Ihrem Anliegen zusammen?
Für unsere künstlerische Praxis bin ich kein grosser Fan von Boykott. Wenn einem nichts anderes übrig bleibt, kann man diese allerletzte Strategie verfolgen. Solange man jedoch noch an einem Tisch sitzen und diskutieren kann, würde ich immer diesen Weg einschlagen. Ein Durchsetzen von Cancel-Culture macht es doch unmöglich, widerstreitende Meinungen auszuhalten. Irgendjemand wird immer von der Meinung eines anderen getroffen sein. Für Ruangrupa ergibt so ein Boykott keinen Sinn. Andere Meinungen auszuhalten und im Gespräch zu bleiben, ist wichtig.

Installation am Fridericianum, dem Mittelpunkt der Documenta: Dan Perjovschi, «Anti War Drawings», 2022. Nicolas Wefers

Sie vergleichen den Boykott Russlands mit einer Cancel-Culture?
Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, als hätten wir vergessen, welche Erfahrungen wir alle mit dem Boykott gemacht haben, wie genau man boykottiert. Unter dem Druck der Medien und ganz bestimmt auch der sozialen Medien werden wir dazu gedrängt, so schnell wie möglich Statements rauszuhauen, das kann einfach nicht gut sein. Wir müssen Situationen einschätzen lernen, verstehen, dass Konflikte eine Geschichte und vergleichbare Vorläufer haben, keine historischen Einzelfälle sind. Ich habe sehr viel von Linguist Noam Chomsky gelernt, der sich über Pol Pot in Kambodscha geäussert hat und erklärte, dass die Rote Khmer eben auch eine revolutionäre Antwort auf den destruktiven Einfluss der USA waren. Er hat, mit anderen Worten, die Politik des Landes nicht isoliert betrachtet, sondern in einen grösseren Zusammenhang gesetzt und die Amerikaner im Kalten Krieg zur Verantwortung gezogen.

Noam Chomsky hat die Massenmorde an Zivilisten angezweifelt, um nicht zu sagen verleugnet, die im Namen der Revolution in Kambodscha systematisch begangen und sogar dokumentiert wurden!
Es gibt unterschiedliche Sichtweisen, ganz besonders, wenn es so hitzig wird wie jetzt. Die Frage ist doch: Wie schwierig ist es in diesen Zeiten, eine Documenta mit unserem Anliegen zu realisieren? Uns geht es um eine Praxis und niemals um Repräsentation, wir überlegen gegenwärtig, wie wir mit Geflüchteten umgehen, sodass wir nicht mit ihnen in Konkurrenz um die Nutzung von Orten gehen.

Die Ausstellung der Documenta wird auch an einem ehemaligen Standort der …
Firma Hübner, ja.

Die Hübner Group stellt neben diesen Gummischlauch­teilen, die in der Mitte von langen Bussen des öffentlichen Nahverkehrs sitzen, damit diese anständig um die Kurven kommen, auch Dichtungen für Panzer her, die Soldaten vor chemischen Kampfstoffen schützen. Spielte so eine politische Geschichte oder gar Archäologie eine grosse Rolle für die Auswahl der Documenta-Schauplätze?
Wir möchten die Seite der Stadt Kassel sichtbar machen, die bisher unsichtbar war – und das ist der Osten, dazu gehört auch der Fluss Fulda. Wir haben von Hübner hier vor Ort erfahren und werden es auch nicht verstecken. Wir behalten den Namen, und Arbeiten werden sich mit der Geschichte auseinandersetzen. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir mehr Details zu den künstlerischen Projekten dort geben.

Die Documenta hat ebenfalls eine belastete Vergangenheit. Haben Sie die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum besucht, in der Werner Haftmann, einer der Gründungs­väter der Documenta, als NSDAP- und SA-Mitglied enttarnt wurde, der Partisanen in Italien jagte und folterte?
Nichts ist unschuldig. Ich habe an dem Symposium teilgenommen, das im Vorfeld der Ausstellung organisiert wurde. Abgesehen davon, dass wir bereits über die historische Bürde aufgeklärt waren, die die Documenta mit sich herumträgt, war dort nicht zu überhören, wie sie von allen Beteiligten diskutiert wurde. Die Schau selbst habe ich leider nicht gesehen, ich war seit knapp drei Jahren nicht mehr in Berlin.

An dieser Stelle eröffnete die Republik die Debatte um das Kollektiv The Question of Funding und den Künstler Yazan Khalili, nach eingangs beschriebener Odyssee dürfen wir den Inhalt nun also doch veröffentlichen.

Zu Beginn des Jahres geriet das Kollektiv The Question of Funding in die Kritik des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus, da seine Mitglieder, unter anderen der Künstler Yazan Khalili, die «Boycott, Divestment, Sanctions»-, kurz BDS-Bewegung unterstützen, die zum internationalen Boykott gegen Israel aufruft. Wussten Sie davon, als Sie die Gruppe einluden?
Nicht nur The Question of Funding unterstützt diese Bewegung, in der globalen Kunstszene tun das viele. Sie sehen das als eine Form des gewaltlosen Widerstands und der Solidarität. Aber wir als künstlerische Leitung laden Personen nicht wegen ihrer politischen Einstellung ein, dabei ginge es wieder einmal vorder­gründig allein um Repräsentation. Wir interessieren uns stattdessen für die konkrete lokale Praxis. Sobald sich die Diskussion ausschliesslich um Unterstützung, Ja oder Nein, dreht, findet man keinen Mittelweg mehr. Wenn Sie sich mit Yazan unterhalten, erfahren Sie auch, dass er selbst kritisch gegenüber BDS ist, wobei das nicht bedeutet, dass er BDS nicht unterstützen würde.

Seine «kritische» Haltung gegenüber BDS kann man auf seiner Website unter dem Stichwort «Writings – The utopian conflict» nachlesen: Er findet, BDS gehe nicht weit genug. Er fordert die Abschaffung des «zionistischen Staates». Europäische National­staaten hätten die Vernichtung von Juden eingeleitet, daher dürfe man den Staat Israel nicht als ihren Befreiungs­schlag einstufen, sondern als eine Fortsetzung ihrer Unterdrückung. Yazan Khalili vergleicht Israel – mit anderen Worten – mit Deutschland unter Führung des NS-Regimes. Oder sehen Sie das anders?
Ich will nicht für andere sprechen – zumal Yazan sich mittlerweile mehrfach dazu in der Öffentlichkeit geäussert und Missverständnisse klargestellt hat – und mich auch nicht zum Verhältnis von Israel und Palästina äussern. Ich besitze einen indonesischen Pass, der es mir weder an den einen noch an den anderen Ort zu reisen erlaubt. Meine Kenntnisse sind von daher sehr begrenzt, wenn es um den Israel-Palästina-Konflikt oder BDS geht. Diese Diskussion können andere besser führen, etwa ab Mai in den Expert*innen-Foren «We need to talk!».

Im Deutschen Bundestag wurde 2019 ein parteiübergreifender Antrag angenommen, der ein entschlossenes Entgegen­treten gegen die BDS-Bewegung forderte. Damit verurteilt Deutschland BDS-Kampagnen und spricht sich gegen eine finanzielle Förderung von Organisationen aus, die das Existenz­recht Israels infrage stellen. Werden Sie dem folgen?
Es handelt sich dabei um einen Beschluss, oder?

Ja, genau genommen um einen «schlichten» Beschluss, also eine politische und moralische Absichts­erklärung.
Wir haben einfach ein Problem damit, wenn BDS und Antisemitismus pauschal in eins gesetzt werden. Ich möchte mich an dieser Stelle aber nicht zu einem deutschen Parlaments­beschluss äussern, hierfür bitte ich um Verständnis.

Sie gehören zum Kuratoren­team der Documenta. Sie treffen die Entscheidungen. Werden The Question of Funding und Yazan Khalili an der Ausstellung teilnehmen oder nicht?
Ja, sie werden dabei sein.

Das heisst, Sie haben kein Problem damit, dass Kollektive einen Boykott Israels unterstützen und den Staat abschaffen wollen. Okay.
Sie unterstellen mir eine Aussage, die ich weder direkt noch indirekt gemacht habe. Können wir jetzt wie vereinbart zur Konzeption der Documenta fifteen weitermachen?

Wir haben vor unserem Gespräch ein altes Bootshaus am Ufer der Fulda besucht. Der Fluss spielte bei keiner der bisherigen Documenta-Ausstellungen eine prominente Rolle. Wenn man sich im internationalen Ausstellungs­wesen umschaut, sind es aber gerade solche Natur­schauplätze, die grosse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die aktuelle Sydney-Biennale listet Flüsse sogar als Teilnehmerinnen auf. So weit würden Sie aber nicht gehen, oder?
Nein, aber ich beneide Länder wie Australiens Nachbarn Neuseeland. Wir haben das Kollektiv FAFSWAG eingeladen, die aus Aotearoa kommen, dort wurde Flüssen Personenstatus verliehen, der sie mit Rechten ausstattet. Diese Art des Umgangs, den Menschen nicht als Master of the Universe zu begreifen, findet seine Ursprünge in vormodernen Zeiten und wird durch so eine juristische Einbettung in die Gesellschaft zeitgenössisch. Leider sind wir noch nicht so weit beziehungsweise hat Ruangrupa sich nicht für diese Richtung entschieden. Wenn wir auf den Diskurs aufspringen würden, wäre das irgendwie scheinheilig.

Warum?
Wir kommen aus einer anderen Welt, aus einem extrem urbanen Kontext, aus einer Megastadt mit über zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, ich bin in Jakarta geboren und aufgewachsen.

Sobald man die Stadt verlässt, bestimmen Vulkane, Erdbeben, Tsunamis und natürlich das Meer das Leben auf den Inselgruppen Indonesiens.
Das stimmt. Wir leben damit, aber wir haben gelernt, Stadtmenschen zu sein. Das Wissen wurde uns verwehrt, weil es nicht als solches anerkannt war. Ich bin auch hin- und hergerissen: Sollten wir zurückkehren zu einer vormodernen Zeit? Oder die Menschen den Planeten – und am Ende auch sich selbst – zerstören lassen?

Das klingt apokalyptisch.
Ich bin auch nicht gegen Kinder. Ich habe selbst gerade erst eins bekommen, das verändert die Sicht auf den Klimawandel und die Möglichkeiten, die es vielleicht doch geben würde, den Zeitpunkt abzuwenden, ab dem es kein Zurück mehr gibt und die Menschen sich selbst umbringen. Als ich mich als Architekt vor über zehn Jahren jedoch für eine nachhaltige Entwicklung im Ökotourismus engagierte, musste ich dabei zusehen, wie eine NGO zu den Waffen griff und Leute aus Dörfern umbrachte, um wilde Tiere vor ihnen zu beschützen. Da wurde ich zum Pessimisten.

Ich verstehe.
Es kann nicht nur darum gehen, einen grünen Lebensstil zu etablieren, man muss sich auch fragen, zu welchem Preis das geschehen soll. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten, der ökologische Fuss­abdruck trifft den Globalen Süden am härtesten. Und es muss mehr Antworten darauf geben als die, die Elon Musk erfindet, oder Staaten, die Flüssen und Wäldern Rechte schenken. Wir müssen uns darum bemühen, indigenes Land aus Eigentums­verhältnissen zu befreien, dann erst können wir anfangen zu handeln.

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