Russland braucht eine Dekolonisierung

Wenn Russland diesen Krieg verliert, wird wohl auch Putin fallen. Doch damit ist noch nicht verhindert, dass sein Nachfolger den nächsten Krieg lostritt. Das kann nur das unumkehrbare Ende des russischen Imperialismus. Was es dazu braucht.

Ein Gastbeitrag von Kyrylo Tkatschenko, 15.04.2022

Synthetische Stimme
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«Nicht in meinem Namen!» Der russische Fotograf Nikita Teryoshin postete auf Twitter dieses Bild aus Protest gegen den Krieg in der Ukraine.Nikita Teryoshin

Dieser Text mag manchen übermütig, utopisch oder realitäts­fremd erscheinen. Aber er versucht das genaue Gegenteil: realpolitische Überlegungen.

Mein Kern­gedanke lautet: Russland wird diesen Krieg verlieren. Und dann wird sich die Frage aufdrängen, wie aus diesem Land eine Demokratie werden kann. Wir sollten jetzt schon beginnen, darüber nach­zudenken. Denn der Westen hat bislang keinen Plan, wie mit Russland in Zukunft umzugehen wäre.

Ich sollte vermutlich voraus­schicken, aus welcher Warte ich spreche. Ich bin ukrainischer Historiker und Publizist. Nach einem Philosophie­studium und einem langen Aufenthalt in Deutschland bin ich 2014 in die Ukraine zurück­gekehrt. Derzeit gehöre ich einem Verband zur Territorial­verteidigung an, in der Nähe von Kiew.

Manche werden vor diesem Hintergrund einwenden, der Autor könne also gar nicht «objektiv» sein. Ich möchte dazu nur sagen: Nicht die Ukrainer haben sich mit ihrer Einschätzung des russischen Imperialismus geirrt. Es ist gerade umgekehrt: Die deutsch­sprachige Öffentlichkeit hat immer noch immensen Nachhol­bedarf bei ihren Kenntnissen über russische Geschichte und Gegenwart – und dementsprechend bei der Grundlage ihrer Beurteilungen und Einschätzungen.

Noch vor zwei Monaten wurde Russland in deutsch­sprachigen Medien als Supermacht bezeichnet. Es war zwar schon damals allen klar, dass Russland im wirtschaftlichen Bereich ausser dem Export von fossilen Energie­trägern so gut wie nichts vorzuweisen hat, aber zumindest militärisch galt das Land als furcht­einflössender Gigant. Die Anfangs­tage des russischen Krieges gegen die Ukraine haben Russland dann eher als Riesen auf tönernen Füssen gezeigt. Dieser ist nun ganz erbost und schwingt die Atom­keule, während die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch die Demokratie und die Idee der Menschen­rechte verteidigt.

Der letzte Satz mag pathetisch klingen, dennoch ist er wahr. Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2014 erlebten wir das Ende des fukuyamaschen «Endes der Geschichte», oder einfacher gesagt: ein Comeback des Autoritarismus. Es ist müssig, darüber zu spekulieren, wie der Westen in seiner Ratlosigkeit weiter agiert hätte, wenn Russland in der Ukraine 2022 ein Blitzkrieg gelungen wäre.

Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie der Westen nun die Ukraine unterstützen kann, damit seine eigenen Befürchtungen nicht eintreten. Die internationale Gemein­schaft befürchtet eine Eskalation in Form eines russischen Atomwaffen­einsatzes? Dann wäre es nur logisch, dass die Ukraine die modernste Raketen­abwehr und den besten Luftschutz bekommt. Falls die russische Führung doch auf die verrückte Idee kommt, dann fällt eine Atombombe nicht auf New York oder Berlin, sondern auf Kiew.

Blick in die Geschichte

Wie die Geschichte zeigt, wirkten militärische Niederlagen für Russland immer wieder eher fördernd. So war die Abschaffung der Leib­eigenschaft eine direkte Folge der erniedrigenden Niederlage im Krimkrieg (1853–1856). Die Rückständigkeit nicht nur des russischen Militärs, sondern der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt waren damals nicht nur für die sogenannten sapadniki, sondern auch für die gesamte russische Elite allzu evident. Unmittelbar nach Kriegs­ende folgte eine Reihe fortschrittlicher Reformen in den Bereichen Bildung, Verwaltung und Wirtschaft.

Die Niederlage im Krieg mit Japan 1904 war wohl der wichtigste Auslöser der Revolution von 1905, die eine Reihe von demokratischen Zugeständnissen seitens der zaristischen Regierung nach sich zog. Die Revolution von 1917 war wiederum durch den sinnlosen, zermürbenden Krieg bedingt, und wenn nicht der Umsturz durch die Bolschewiken gewesen wäre, hätte sich womöglich eine vollwertige Demokratie in Russland viel früher etablieren können.

Last but not least: Selbst wenn der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan 1989 nicht der Hauptgrund für den Zusammen­bruch der UdSSR war, spielte er zweifelsohne eine wichtige Rolle beim damaligen Niedergang des Sowjet­patriotismus.

Und heute?

Die Verluste der russischen Armee nach sechs Wochen Krieg gegen die Ukraine sind gemäss Angaben einiger Quellen bereits denjenigen der sowjetischen Armee während der zehnjährigen Besatzung von Afghanistan vergleichbar. Nachdem der Vormarsch gescheitert ist, konzentrierten sich die russischen Streitkräfte darauf, was sie seit Afghanistan, Tschetschenien und Syrien am besten können: Vernichtung von Städten und Dörfern mithilfe von Artillerie, Raketen und Bombern. Allerspätestens seit Butscha weiss die ganze Welt: Dazu gehörten auch wahllose Erschiessungen von Zivilisten, Folter und massenhafte Vergewaltigungen.

Verstörend dabei ist auch: Der Krieg, oft als «Putins Krieg» bezeichnet, wird immer noch von der überwiegenden Mehrheit der Russinnen und Russen unterstützt. Die Zustimmungs­werte von Putin sind derzeit mit jenen nach der Krim-Annexion vergleichbar (83 versus 84 Prozent). Wenn es auch allgemein bekannt ist, dass Umfragen in einer Diktatur mit Vorsicht zu geniessen sind, deutet eine erdrückende Evidenz darauf hin, dass eine Mehrheit der russischen Gesellschaft Putin und den Krieg gegen die Ukraine unterstützt. Allein die breite Unterstützung der Z-Bewegung lässt erkennen, welch grosse Zustimmung es in Russland noch immer für Hass-Erzählungen gegenüber der Ukraine und dem Westen gibt.

Wenn Russland aber den Krieg verliert, wird die Folge für die russische Gesellschaft ein schwer zu verkraftender Schock sein.

Putins Macht bröckelt

Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland sich nach der Niederlage einfach so in ein riesiges Nord­korea verwandeln lässt, ist jedenfalls sehr gering. So gross die Ressentiments in der Bevölkerung gegenüber dem Westen sein mögen: Es handelt sich dennoch um die am meisten «verwestlichte» und an den Wohlstand gewöhnte Generation in der gesamten Geschichte Russlands. Solange Putin Siege vorweisen konnte, solange die Konfrontation mit dem Westen keine Konsequenzen nach sich zog, solange es eben nur ein berauschendes «Spiel» darstellte, war das für die meisten Russen annehmbar.

Jetzt aber wird es für Putin eng und er weiss es. Seine Lieblings­lektüre sind nämlich Bücher zur russischen Geschichte – nicht die international anerkannte Forschungs­literatur, sondern die Geschichts­erzählungen imperialistisch gesinnter Ideologen. Dazu gehören die faschistischen Vordenker Iwan Iljin oder Alexander Dugin, aber auch die Memoiren von ehemaligen Mitgliedern der konter­revolutionären Weissen Garde. Dennoch weiss Putin genau, dass sich die bedingungslose Unter­stützung des letzten russischen Zaren zu Beginn des Ersten Weltkriegs in wenigen Jahren in Hass und Abscheu verwandelte. Und die demoralisierenden Auswirkungen der Niederlage im Afghanistan­krieg konnte Putin selbst miterleben.

Mehr noch: Die erfolgreichen militärischen Kampagnen der letzten Jahrzehnte sind bei Putin nicht zuletzt durch innenpolitische Überlegungen motiviert, die Angst vor einem «russischen Maidan» ist dabei wohl der wichtigste Faktor.

Das kommt nicht von ungefähr. Denn auch wenn Putin in den letzten Jahren systematisch jede Opposition unterdrückt, ihre Strukturen zerschlagen und ihre Repräsentanten verfolgt hat: Demokratische, «prowestliche» Tendenzen haben in der russischen Gesellschaft eine jahrhunderte­lange Tradition, die wiederaufleben könnte, wenn Putin militärisch scheitert. Noch 2010 waren die Anti-Putin-Proteste in Russland stark. Der Krieg nach aussen dient dem Regime somit dazu, die Gesellschaft zusammen­zuschweissen und seine Allein­herrschaft abzusichern.

Putin hat ganz gewiss mehr Angst vor den eigenen «National­verrätern» als vor den USA, der Nato oder der ukrainischen Armee. Und so gut die russische Propaganda im Inneren auch wirkt, im Fall der Niederlage wird sie kaum imstande sein, der Bevölkerung zu erklären, wozu all die Verluste nötig waren. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine russische Niederlage das Ende des Putin-Regimes nach sich ziehen wird.

Ob dies durch einen Palast­putsch oder einen russischen Maidan zustande käme, kann natürlich niemand vorher­sagen, ausser dass mit Blick auf die russische Geschichte beide Optionen denkbar scheinen. Mehrere Vertreter der Macht­elite – Oligarchen, hohe Beamte, wichtige talking heads der Staatsmedien – lassen bereits erkennen, dass ihre Loyalität mit dem Regime nicht mehr ganz so bedingungslos ist. Zwischen den hohen Vertretern der Sicherheits­organe und der Armee tobt bereits ein Kampf, bei dem es um die Bestimmung der Schuldigen für das Ukraine-Desaster und um deren Bestrafung geht. Bis jetzt sind diesem Kampf «nur» einige Generäle zum Opfer gefallen, aber es ist nicht auszuschliessen, dass die Versuche der Mächtigen, ihre eigene Haut zu retten, sich bis in Putins Machtzirkel hinein auswirken.

Die Voraussetzungen für einen Palast­putsch sind jedenfalls bereits gegeben. Und der geradezu paranoide Abstand, den Putin schon seit längerer Zeit sogar zu (ehemals) engen Vertrauten hält, ist ein Indiz dafür, wie tief die Angst in Putins Macht­kreis eingedrungen ist und welches Misstrauen im Kreml jede Handlung begleitet.

Ein etwaiger russischer Maidan könnte von der Mittel­schicht in den Gross­städten ausgehen. Je mehr die Sanktionen ihre Wirkung entfalten, desto mehr hat die Mittel­schicht zu verlieren: Urlaub in Spanien oder Thailand, deutsche und japanische Autos, italienischer Wein und französischer Käse. Im Moment, auf dem Höhepunkt der patriotischen Welle und eines umfassenden Nicht-wissen-Wollens (nicht einmal über die Verluste der eigenen Armee), beteuern viele noch, die sanktions­bedingten Einschränkungen selbstlos in Kauf zu nehmen. Unter russischen Influencerinnen auf Social Media gibt es gar patriotische Challenges, bei denen sie ihre Chanel-Taschen zerschneiden. Dabei tragen sie noch immer hübsche Kleider aus nicht-russischer Herstellung. Ob sie in wenigen Wochen bereits die Scheren­aktionen bereuen werden?

Allgemeiner formuliert: Wird sich die russische Gesellschaft im Fall einer Niederlage auch weiter immun zeigen gegen die Nachrichten über die eigenen Verluste und die Gräueltaten der eigenen Soldaten?

Der Kampf um Frieden wird lange dauern

Ich mag mich bitter täuschen, aber meine Prognose lautet: Russland wird diesen Krieg verlieren. Und dann ist es um das Regime von Wladimir Putin höchstwahrscheinlich geschehen.

Völlig klar ist: Niemand kann derzeit vorhersagen, wie dieser Krieg endet und wann. Und niemand weiss, wie viele Verheerungen bis dahin eingetreten sein werden. Aber die internationale Gemeinschaft muss sich Gedanken auch darüber machen, wie es im Fall einer russischen Niederlage weitergeht – weil dann der Kampf um Frieden nicht zu Ende sein wird.

Nachhaltige, langfristige Sicherheit wird es nur unter den folgenden Bedingungen geben:

  1. Russland darf keine Atomwaffen mehr besitzen. Egal, wie demokratisch eine Regierung sein wird, die nach Putin kommt, die Gefahr der Wiederkehr eines «Weimar-Russlands» wird noch jahrzehntelang lauern. Die atomare Entwaffnung Russlands ist deshalb eine notwendige Voraussetzung nicht nur für den Weltfrieden, sondern auch für eine demokratische Umwandlung der Russischen Föderation. Dieser Schritt kann für die Russen annehmbarer gemacht werden, wenn er von einer umfassenden, weltweiten Reduktion der Atom­waffen begleitet wird. Das scheint beim gegenwärtigen Stand der Dinge vollkommen utopisch. Aber als utopisch hätte man vor wenigen Wochen auch noch die Behauptung bezeichnet, die Ukraine könne sich erfolgreich gegen das russische Militär wehren.

  2. Russland darf keinen Platz mehr im Uno-Sicherheitsrat haben. Stattdessen sollte im Sicherheitsrat ein afrikanisches oder ein latein­amerikanisches Land vertreten sein. Mehr noch: Es braucht die Schaffung eines militärischen Bündnisses, dem sich jedes demokratische Land anschliessen kann; ein Bündnis, das für sich in Anspruch nimmt, nicht nur die Verbündeten zu verteidigen, sondern im Falle genozidaler Handlungen auch ausserhalb des Bündnisses einzugreifen. Die entsprechenden Entscheidungen dürfen nicht länger durch das Veto eines einzigen Mitgliedes blockiert werden können. Ausserdem sollte es zur Grundlage des Bündnisses gehören, jedes Land aus dem Bündnis auszuschliessen, sobald es sich in eine Diktatur verwandelt.

  3. Ein Russland nach Putin bräuchte verfassungs­mässige Grundlagen für eine Dekolonisierung. Jedes Land der Russischen Föderation muss das Recht erhalten, die Föderation zu verlassen, falls die Mehrheit der Bürger sich dafür entscheidet.

Schluss mit der imperialen Aggression

Noch immer gibt es auch in Europa und besonders in Deutschland ein befremdlich grosses Verständnis für die imperialen Phantom­schmerzen Russlands. Dieser Vorstellung nach handeln Putins Regime und seine Unterstützer deswegen aggressiv, weil ihr Land kleiner geworden ist. In Wirklichkeit handelt es sich um das letzte europäische Kolonial­imperium.

Dabei hat sich Moskau bei seinen Eroberungen nie auf die Territorien beschränkt, zu denen sich historische, linguistische oder kulturelle Nähe als Begründung heranziehen und instrumentalisieren liess. Das Territorium von Tuwa im Süden Sibiriens zum Beispiel entspricht etwa der Hälfte von Deutschland. Tuwa ist weiter entfernt von Moskau als Marokko von Berlin. Sprachlich, ethno­genetisch oder religiös haben die Tuwiner mit den Russen nun wirklich nichts am Hut. Trotzdem wurde Tuwa in den 1940er-Jahren ein Teil der Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation. Auch Karelien im Nordwesten von Russland war bis 1956 kein «Subjekt» der Russischen Föderation, sondern eine der Unions­republiken wie Litauen oder die Ukraine und hätte somit 1991 ein unabhängiger Staat werden können.

Das Ausmass von Gewalt, Deportationen und Vernichtung, zu welchen bereits die zaristischen Regierungen griffen, um das Imperium zu erweitern, ist im Westen weitgehend unbekannt. Es scheint, als würden Russinnen selbst im links-progressiven akademischen Publikum nicht als genügend «weiss» wahrgenommen: All die postcolonial studies werden auf Russland kaum angewendet. Dabei sollten für die russische Imperial­geschichte dieselben Massstäbe gelten wie etwa für Britinnen oder Franzosen. Portugal oder Belgien waren auch mal ausgedehnter, dennoch beweint niemand in Europa, dass diese Länder heute flächenmässig kleiner sind als in Zeiten imperialer Aggression.

Es ist langfristig unumgänglich, dass auch in Moskau das Zeitalter des Postkolonialismus beginnt – und die Länder der Russischen Föderation eigenständig über ihre Zukunft entscheiden. Auch wenn nicht jedes Mitglied der Föderation von dem Recht auf Sezession Gebrauch machen wird, muss genau ein solches Recht in der Verfassung verankert werden.

Putin ist nicht allein an all den Angriffs­kriegen und Kriegs­verbrechen schuld, weder in Tschetschenien noch in Syrien noch in der Ukraine. Die Gesellschaft trug das alles mehrheitlich mit. Auf drastische Weise wird das derzeit wieder sichtbar. Nach dem Bekannt­werden der Massaker in Butscha bestand die Reaktion der russischen Mehrheits­gesellschaft in einer Leugnung, die einer Verhöhnung der Opfer gleicht.

Der Weg zu einer Dekolonisierung muss Russland nach dem Sturz von Putin von aussen aufgezwungen werden. Den komplementären Schritt, den Prozess einer Entchauvinisierung, müssen die Russen selber gehen.

Zum Autor

Kyrylo Tkatschenko ist ein ukrainischer Historiker und Publizist. Nach einem Philosophie­studium und einem langen Aufenthalt in Deutschland kehrte er 2014 in die Ukraine zurück. Tkatschenko promoviert an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) über die Geschichte der Bergarbeiter­bewegung im Donbass in den Jahren 1989 bis 1993. Zurzeit gehört er in der Nähe von Kiew einem Verband der Territorial­verteidigung an. Seine Familie ist inzwischen in Sicherheit und befindet sich in Deutschland.

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