Blau, weiss, rot: Emmanuel Macron lässt sich im Stadion feiern. Frederic Petry/Hans Lucas

Tödliches Déjà-vu

Die französischen Präsidentschaftswahlen steuern wieder auf ein Duell Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen zu. Die Traditions­parteien sind beschädigt. Es gibt wohl nur noch eine Alternative zur heutigen Regierungs­mehrheit: die extreme Rechte.

Eine Analyse von Daniel Binswanger, 08.04.2022

Synthetische Stimme
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«Trotz aller Krisen: Niemals haben wir aufgegeben! Wir haben Wort gehalten!» Es war einer der rhetorischen Pauken­schläge, mit denen Emmanuel Macron am letzten Samstag im Rugby­stadion «La Défense Arena» in einem Vorort von Paris 30’000 jubelnde Anhänger aufpeitschte. Genau acht Tage vor dem ersten Wahlgang von übermorgen Sonntag. Die Show war durch­choreografiert, mit Feuerwerks­einlagen und riesigem Rundum­bildschirm für Gross­aufnahmen des Stars der Veranstaltung. Ein beeindruckendes Spektakel: Professioneller kann sich Macht kaum inszenieren.

Und Macron hat recht. Zwar nicht in allem, aber in vielem hat er Wort gehalten. Und dies, obschon keine andere Präsidentschaft der Fünften Republik von so vielen heftigen Krisen geprägt wurde: die Gelbwesten, die Pandemie und jetzt der Russland-Ukraine-Krieg. Dennoch ist es in diesem Wahl­kampf nicht die Beständigkeit des Regierungs­chefs, die heraus­sticht. Ganz im Gegenteil, wer fünf Jahre zurück­blendet zu den letzten Wahlen, ist frappiert davon, wie radikal anders jetzt alles ist. Alles – mit einer Ausnahme.

Der Aufbruch vor fünf Jahren

Der Kontrast zu Macrons erster Präsidentschafts­kampagne könnte grösser gar nicht sein. 2017 war der damals noch nicht Vierzig­jährige der Hoffnungs­träger, ein Kandidat, der an der Spitze einer umfassenden zivil­gesellschaftlichen Bewegung, an allen Partei­apparaten und verknöcherten Strukturen vorbei, das höchste Amt im Staat erobern sollte. Mit einer resolut pro­europäischen Agenda. Mit einer progressiven Synthese sozial­demokratischer und liberaler Rezepte. Mit einem heroischen Willen zur Modernisierung und Verjüngung der französischen Politik. Und einem kompromiss­losen Bekenntnis zu Transparenz und einer Demokratisierung der politischen Institutionen.

Die Bewegung La République en Marche war erst im April 2016 gegründet worden, ein paar Monate bevor Macron sich im November zu ihrem Präsidentschafts­kandidaten erklären sollte. Die Begeisterung für die «Revolution» aus der Mitte der Gesellschaft war authentisch und breit abgestützt. Es folgte ein intensives Feuer­werk der Wahlkampf­veranstaltungen, der öffentlichen Debatten und einer pausenlosen, enorm intensiven Medien­präsenz des Kandidaten, der schliesslich im Mai 2017 zum Präsidenten gekürt werden sollte.

Der Staatschef Macron jedoch macht fast gar keine Kampagne. Überhaupt nur ein einziges grosses Meeting – die Show im Rugby­stadion – ist vorgesehen worden. Auch an einem Fernseh­duell der Kandidatinnen wird Macron sich vor dem ersten Wahlgang nicht beteiligen.

Die offizielle Erklärung für die generelle Zurück­haltung bei der Kampagne: Der Präsident werde von seinen Vermittlungs­versuchen im Russland-Ukraine-Krieg dermassen absorbiert, dass er für Frivolitäten wie Wahl­veranstaltungen ganz einfach wenig Zeit aufbringen könne. Das ist natürlich Unsinn: Macron führt zwar intensive Gespräche mit Putin und Selenski und scheint als indirekter Draht zwischen den beiden Kriegs­parteien eine wichtige Rolle zu spielen. Es dürfte allerdings kaum so sein, dass er einen geopolitischen 24-Stunden-Service garantiert.

Es entsteht ein bisschen der Eindruck, als setze der Präsident darauf, dass es ihm mehr Nutzen bringt, die Rolle des unverzichtbaren Staaten­lenkers auszufüllen, als sich offensiv an der öffentlichen Auseinander­setzung zu beteiligen. Die Strategie ist legitim. Die Tage der grossen Debatte und des zivil­gesellschaftlichen Aufbruchs scheinen jedoch fern.

Die Umfragen geben Macron recht, mindestens vorderhand: Mit Ausbruch des Krieges ist seine Popularität nach oben geschossen, und obwohl sie seither wieder nach­gegeben hat, bleibt ein Vorsprung für den ersten Wahlgang weiterhin erhalten. So sehr scheint das Élysée auf diesen Effekt zu vertrauen, dass es sogar Fotografien des Präsidenten im Selenski-Look veröffentlicht hat, mit Fallschirm­springer-Hoodie und Dreitagebart.

Der Abstand zwischen dem Macron, der antrat als Erneuerer, und dem heutigen Amtsträger Macron könnte allerdings kaum grösser sein.

Das fällt umso mehr ins Gewicht, als dieser Urnengang in einer Hinsicht dennoch zu einer Wiederholung der Präsidentschafts­wahlen vor fünf Jahren werden dürfte – zu einer Wiederholung wie in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Am selben Punkt

Nach den recht eindeutigen Prognosen der Umfragen bestehen wenig Zweifel daran, dass sich in der Stichwahl im zweiten Durchgang am 24. April wiederum Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenüber­stehen werden. Das symbolische Gewicht dieser Tatsache kann man gar nicht überschätzen. Sie allein könnte schon fast erscheinen wie der Beweis des Scheiterns der Macron-Präsidentschaft.

Ein weiteres Krisen­symptom fällt ins Gewicht: Die Wahl­beteiligung könnte dieses Mal so tief sein wie noch nie zu Zeiten der Fünften Republik. Rekord­verdächtig viele Wählerinnen scheinen von den heutigen Parteien also gar nicht mehr erreicht zu werden. Es kommt hinzu, dass die Prognosen unsicherer werden, wenn viele Stimm­berechtigte zu Hause bleiben, und Überraschungen desto wahrscheinlicher werden. Die guten wie die bösen.

Frankreich ist politisch nicht voran­gekommen. Macron, der Revolutionär der Mitte und der begeisterte Europäer, ist angetreten, um die Extreme zu entzaubern, Frankreich auf den Pfad der Produktivität zurück­zuführen, den Glauben an eine vernünftige und reform­fähige Republik wieder­herzustellen. Politisch heisst es jetzt jedoch: zurück auf Feld eins. Die Gegnerin ist immer noch Le Pen.

Und voraussichtlich ist sie stärker geworden. So stark, dass nicht einmal mehr der Sieg von Macron in der Stich­wahl wie eine völlige Gewissheit erscheint. Gemäss jüngsten Umfragen werden im zweiten Durchgang 53 Prozent der Stimmen an Macron, 47 Prozent an Le Pen gehen, und seit Mitte März profitiert die Heraus­forderin von einer positiven Dynamik.

Zwar ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Macron immer noch sehr viel grösser als das gegenteilige Szenario. Bereits jetzt aber dürfte ausgeschlossen werden können, dass der Präsident – sollte er tatsächlich gewinnen – Marine Le Pen wieder mit 66 zu 34 Prozent schlagen wird, so wie das 2017 der Fall gewesen ist. Die demokratische Mitte hat weiter an Terrain verloren.

Das französische Politiksystem ist vollständig auf die Präsidentschafts­wahlen ausgerichtet, der Kampf um das höchste, mit ungeheurer Macht­fülle ausgestattete Staatsamt ist prägend für die politischen Verhältnisse im Land. Als im Jahr 2002 mit Jean-Marie Le Pen der Rechts­extremismus zum ersten Mal in den zweiten Wahlgang Einzug hielt, war das ein Trauma für die französische Demokratie. Als seine Tochter es ihm vor fünf Jahren gleichgetan hat, war der Schock nicht kleiner. Er trug wesentlich dazu bei, die übrigen Kräfte zu einen und einen relativ geschlossenen front républicain zu stiften.

Es bestand deshalb auch nie der geringste Zweifel daran, dass dies das absolute Mass sein würde für Macrons politischen Erfolg: Le Pen in die Schranken zu weisen.

Das vernichtendste Argument, das die euroskeptische, radikale Linke gegen den Mitte-Kandidaten ins Feld führte, lautete immer: Nach fünf Jahren Macron wird Le Pen gewinnen. Man darf weiterhin hoffen, dass diese Befürchtung sich nicht bestätigen wird. Aber als ungerecht­fertigt hat sie sich nicht erwiesen. Wie erklärt sich das? Ein Amts­inhaber wird gemessen an seiner Bilanz. In Macrons Fall ist sie durchzogen, aber durchaus erfolgreich.

Die Bilanz

Ein Hauptmotiv seines ursprünglichen Programms ist es gewesen, die Konkurrenz­fähigkeit von Frankreich zu erhöhen, Betriebs­gründungen zu ermutigen, die Arbeits­losigkeit zu senken, das Schul­system zu verbessern, das Wachstum zu fördern. Insbesondere bei der Senkung der Arbeits­losigkeit wurden tatsächlich Fortschritte gemacht. Aktuell steht sie bei 7,4 Prozent der aktiven Bevölkerung, was im europäischen Vergleich immer noch relativ hoch ist, in Frankreich aber eine Bestmarke seit fünfzehn Jahren darstellt. Ende 2017 lag diese Zahl noch bei rund 9 Prozent. Am Ende einer allfälligen zweiten Amtszeit will Macron die Voll­beschäftigung erreicht haben.

Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wurde allerdings durch die Flexibilisierung des Arbeits­rechts und einen leichten Lohn­verlust der untersten Einkommens­kategorien erkauft. Auch die Teilzeit-, die Temporär­arbeit und die Ich-AGs haben zugenommen – ein Zeichen prekärerer Arbeits­bedingungen. Dennoch wird die positive Entwicklung des Arbeits­markts als Erfolg betrachtet. Sie ist allerdings auch zahlreichen staatlichen Unter­stützungs­massnahmen geschuldet, beispiels­weise der Subventionierung von Lehrstellen, die einen grossen Beitrag zur Senkung der Jugend­arbeitslosigkeit leistet, oder der Senkung der Lohn­nebenkosten.

Auch während der Pandemie hat die französische Regierung sehr tief in die Tasche gegriffen, um die Arbeits­plätze zu erhalten und die Wirtschaft zu unterstützen. Das Ergebnis ist eine schnelle Erholung vom covid­bedingten Einbruch mit einem Wachstum von 7 Prozent im Jahr 2021, das die Pandemie­verluste bereits weitgehend wieder kompensiert hat. Von Neo-Keynesianern wie Paul Krugman wird die französische Wirtschafts­politik während der Corona-Krise als vorbildlich betrachtet. Als Folge davon ist allerdings die französische Staats­verschuldung auf ein sehr hohes Niveau gestiegen und liegt nun mit 113 Prozent des BIP auch deutlich über dem europäischen Durch­schnitt. Vorderhand hat der französische Staat allerdings auch keine Schwierigkeiten, diese Schulden zu bedienen.

Während seiner ganzen Amtszeit ist Macron den Schand­titel président des riches (Präsident der Reichen) dennoch niemals losgeworden, was allerdings nur halb gerecht­fertigt ist. Macron ist der Mann des en même temps (gleichzeitig), das heisst, es gab den Versuch, nicht nur zugunsten der Reichen, sondern auch zugunsten der Armen zu intervenieren. Zu den umstrittensten seiner Reformen gehörten in der Tat eine Teilabschaffung der Vermögens­steuer und eine Flatrate für die Kapital­gewinnsteuer, die massiv den Reichtums­eliten zugute­kamen – ohne dass sich die erhoffte Förderung ihrer Investitions­bereitschaft bisher hätte feststellen lassen.

Auch die Mittelschicht ist jedoch in den Genuss von Steuer­vergünstigungen gekommen, insbesondere die Abschaffung der sogenannten Wohnsteuer wirkte sich zu ihren Gunsten aus. Und auch die unteren Einkommen erfuhren durch zahlreiche Vergünstigungen Unter­stützung, insbesondere nachdem die Gelbwesten-Bewegung den Präsidenten unter massiven Druck gesetzt hatte. Ein eher neoliberaler Reform­impetus der ersten beiden Amtsjahre ist aufgrund der Gegen­reaktionen relativ einschneidend korrigiert worden. Für alle Einkommens­kategorien hat sich die Kaufkraft deshalb insgesamt zum Besseren entwickelt.

Das heisse Eisen der Rentenreform schliesslich wurde nach heftigen Protesten und dem Ausbruch der Pandemie auf Eis gelegt. In seiner zweiten Amtszeit würde Macron diese Reform allerdings wieder angehen und das Rentenalter um drei Jahre auf 65 erhöhen wollen. Im europäischen Vergleich ist ein Renten­alter von 65 nicht unbedingt Ausdruck besonderer sozialer Härte. Im französischen Parteien­spektrum situiert sich Macron mit dieser Forderung allerdings auf der Seite der wirtschafts­liberalen Rechten.

Angriffsflanke Wirtschaft

Dennoch: Marine Le Pen attackiert Macron auf der Ebene der Einkommens­entwicklung – mit beachtlichem Erfolg. Die «Kaufkraft», das zeigen die Umfragen, ist mit Abstand die grösste Sorge der Franzosen; weit vor dem Russland-Ukraine-Krieg oder klassischen Themen der extremen Rechten wie der Zuwanderung und dem Islamismus. Le Pen positioniert sich in ihrer aktuellen Kampagne vornehmlich als Anwältin der kleinen Leute und verspricht Massnahmen gegen die wirtschaftliche Prekarität. Sie verspricht in allen möglichen Bereichen grosszügigste staatliche Hilfen – ohne sich mit Fragen der Finanzierbarkeit übermässig auseinander­zusetzen.

Die polarisierenden Themen wie das Verhältnis zur EU oder die Unterbindung der Zuwanderung überlässt sie derweil Eric Zemmour. Der Katalog der rechts­populistischen bis rechts­extremen Forderungen ist zwar nicht aus ihrem Partei­programm verschwunden, aber ihre Kampagnen­strategie besteht darin, diese Themen nicht mehr zu bewirtschaften und sich stattdessen der Kauf­kraft zu widmen.

Im Gespräch mit dem Bürger: Marine Le Pen auf Wahlkampftour in Toulon. William Keo/Magnum Photos/Keystone
Begeisterung am rechten Rand: Eine Versammlung des Rassemblement National im Februar in Vallauris nahe Nizza. William Keo/Magnum Photos/Keystone

Das strategische Ziel dahinter dürfte ein doppeltes sein. Zum einen arbeitet Marine Le Pen seit langen Jahren an der «Entdiabolisierung» des Front National (Nationale Front), den sie zu diesem Zweck inzwischen in Rassemblement National (Nationale Versammlung) umgetauft hat. Das klingt schon einmal weniger aggressiv. Le Pen geht mit der Weich­spülung sogar so weit, dass sie regelmässig Filmchen ihrer Katzen ins Netz stellt. Inzwischen hat das zu einem eigenen Tiktok-Hype geführt. Je besser sie es schafft, den Leuten die Furcht vor ihrer Partei zu nehmen, desto breiter kann ihre Wähler­basis werden.

Die Themenverschiebung ergibt zum anderen jedoch auch aus inhaltlichen Gründen Sinn: Zum einen dürfte Le Pens «Blue-Collar-Populismus» sich bei Trump und seinen Angriffen auf den Freihandel inspirieren, zum anderen sich die Gelb­westen zum Vorbild nehmen. Letztere bildeten eine schwer zu fassende, ideologisch disparate Bewegung, die ursprünglich dadurch ausgelöst wurde, dass die Benzin­steuern hätten erhöht werden sollen.

Das ökonomische Gefälle erzeugt enormes politisches Spannungs­potenzial im heutigen Frankreich. Obwohl Macron sich seinerseits für die Kaufkraft der Unter- und der Mittel­schicht ins Zeug gelegt hat, gibt es weiterhin grossen Spielraum für einen rechts­populistischen Angriff auf seine wirtschaftliche Bilanz. Es ist das Terrain, das Le Pen besetzen will. Die anziehende Inflation und die explodierenden Energie­preise spielen ihr jetzt perfekt in die Hände.

Die Ironie dieser Entwicklung liegt darin, dass Macron versucht hat, den Rechts­populismus zu bannen, indem er identitäts­politisch stark nach rechts gegangen ist. Bereits mit der extrem harten Polizei­repression gegen die Gelbwesten zeigte der Präsident eine autoritäre Seite, die viele seiner ursprünglichen Unter­stützerinnen verstörte. Im Nachgang zu den blutigen islamistischen Attentaten von 2020 lancierte die Regierung schliesslich ein Gesetz gegen den «Separatismus», das einen kämpferischen Laizismus festschreibt und die Religions­freiheit weitreichenden Einschränkungen unterlegt. Der Verdacht ist naheliegend, dass hinter einer solchen Positionierung das Kalkül steht, den Rechts­radikalen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es ist jedoch gar nicht mehr das Politik­feld, auf dem Le Pen ihre Gewinne verzeichnet.

Der Blitzableiter

Als absoluter Segen hat sich für Le Pen die Kandidatur von Eric Zemmour erwiesen. Als Zemmour in den Ring stieg, war die allgemeine Überzeugung, er werde seine rechts­populistische Konkurrentin beschädigen. Die Nähe ihrer Positionen werde dazu führen, dass sich die Wähler mit entsprechenden Sympathien auf zwei Kandidatinnen verteilen, die Basis von Le Pen also halbiert wird und sich deshalb auch die Chance erhöht, dass sie im ersten Wahlgang geschlagen wird, entweder von der gaullistischen Kandidatin Valérie Pécresse oder von Jean-Luc Mélenchon, dem aussichts­reichsten Kandidaten aus dem linken Lager. Danach sieht es nun gar nicht mehr aus.

Le Pen liegt in den Umfragen mit über 20 Prozent Wähler­anteil auf dem zweiten Platz und hat einen soliden Vorsprung auf den drittplatzierten Mélenchon, obwohl Zemmour etwa 10 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Er gräbt nicht nur Marine Le Pen einen Teil der Wählerschaft ab, sondern auch der traditionellen Rechten, das heisst Valérie Pécresse. Vor allem aber: Er übernimmt die Rolle des extremistischen, aggressiven Identitäts­politikers von rechts. Das macht es Le Pen viel einfacher, sich als gemässigt darzustellen.

Wie soll sie rechtsextrem sein, wenn es einen Kandidaten gibt, der ganz klar rechts von ihr steht?

Die Fahnen hoch für ganz weit rechts: Fast 50’000 gehen für Eric Zemmour im März in Paris auf die Strasse. Benoit Durand/Hans Lucas

Zemmour in der Rolle ihres Rivalen sorgt dafür, dass die polarisierenden Themen in der Öffentlichkeit dennoch präsent gehalten werden. In der zweiten Wahlrunde, nachdem er ausgeschieden ist, werden seine Wählerinnen dann überlaufen zu Le Pen. Und noch in anderer Hinsicht sind seine Dienste für Le Pen von grösstem Nutzen: Beide sind grosse Putin-Bewunderinnen – aber nur Zemmour wird elektoral dafür bestraft.

Le Pen hat 2014 bei einer russischen Bank einen Kredit von 9,1 Millionen Euro aufgenommen, der immer noch in Rück­zahlung ist. In einer Broschüre für den aktuellen Wahl­kampf liess sie eine Fotografie abdrucken, die sie gemeinsam mit Wladimir Putin zeigt. Das Foto war 2017 entstanden, als sie vier Wochen vor den damaligen Präsidentschafts­wahlen von einem hilfsbereiten Kreml­herrscher empfangen wurde. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Le Pen nun beschlossen, die 1,2 Millionen Exemplare der gedruckten Broschüre unbenutzt wieder einstampfen zu lassen. Das Wahlkampfteam von Le Pen hat diese Meldung jedoch inzwischen dementiert: Man rücke nicht von den bisherigen aussen­politischen Positionen ab, auch wenn Putin eine «rote Linie» überschritten habe.

Zemmour wiederum ist regelmässig mit begeisterten Äusserungen für sein politisches Vorbild hervor­getreten und forderte noch kürzlich einen «französischen Putin». Jetzt bezahlt er einen hohen Preis für seine Bewunderung: Seit dem Russland-Ukraine-Krieg hat er etwa ein Drittel seiner Sympathisanten verloren. Le Pen hingegen hatte bei Kriegs­ausbruch zwar eine kurze Baisse, nun aber entwickelt sich ihre Popularität wieder positiv. Auch was den Putin-Fallout anbelangt, spielt Zemmour für Le Pen – in den Worten eines ihrer Kampagnen­manager – den «Blitzableiter».

Option Mélenchon

Warum hat dem die Linke wenig entgegenzusetzen? Zum einen dürfte es daran liegen, dass die französische Gesellschaft insgesamt in einer Rechts­drift ist.

Macron selber hat sich in einigen gesellschafts­politischen Themen stark rechts positioniert. Die traditionelle Rechte und die rechts­extremen Parteien kommen laut Prognosen beim ersten Wahlgang gemeinsam auf rund 40 Prozent der Stimmen. Die Grünen, Linken und Links­extremen erreichen demgegenüber bloss noch 30 Prozent. Anne Hidalgo, die offizielle Kandidatin des Parti Socialiste, liegt momentan bei lachhaften 2,5 Prozent der Stimmen – eine Demütigung der grossen linken Traditions­partei, die bis vor kurzem unvorstellbar schien.

Allerdings wäre es denkbar gewesen, dass wie in vielen anderen Ländern auch in erster Linie die Grünen vom Tief der Sozialisten profitieren – umso mehr, als die Ökobilanz von Macrons Amtszeit sehr durchzogen ist. Zwar trat der Amts­inhaber mit dem Anspruch an, eine ambitionierte Klima­politik zu verfolgen und der Ökologie eine zentrale Rolle zuzuweisen. Das passte auch zu seinem technologie­affinen, progressiven Image.

Der bekannte TV-Moderator und Vorzeige-Ökologe Nicolas Hulot, den Macron für die erste Regierungs­bildung anwerben konnte, trat allerdings nach 16 Monaten enttäuscht zurück. «Ich habe keine Lust mehr, mich selber zu belügen», gab er bei seinem Abschied zu Protokoll.

Die Gelbwesten, die eine massive Ablehnung von Öko-Steuer­erhöhungen vorführten, auf der einen Seite – auf der anderen Seite das alles dominierende Bemühen, Frankreichs industrielle Konkurrenz­fähigkeit zu verbessern: Der Handlungs­spielraum oder Handlungs­wille der Macron-Regierung war stark eingeschränkt. Die Grünen wiederum legten in den französischen Grossstädten in den letzten Jahren zwar nicht weniger deutlich zu als in anderen Ländern. Sie sind aber noch immer eine politische Kraft mit relativ bescheidener Reichweite. Ihr Spitzen­kandidat Yannick Jadot liegt aktuell bei 4,5 Prozent der Stimmen.

Der Profiteur des Niedergangs des Parti Socialiste ist stattdessen eindeutig Jean-Luc Mélenchon, der weit links von den Sozialisten steht und – mit einer ähnlichen Strategie wie Marine Le Pen – die sozialen Spannungen für sich nutzen kann. Auch Mélenchon gibt sich in diesem Wahlkampf gemässigter als vor fünf Jahren. Er hat die klassen­kämpferische Rhetorik zurück­gefahren, stellt institutionelle Reformen wie die Beschränkung der Macht des Staats­präsidenten und die Einführung eines Initiativ­rechts an die erste Stelle seiner Wahl­plattform und räumt der ökologischen Trans­formation einen wichtigen Platz ein.

Wer einem linken Kandidaten zur Wahl verhelfen will, muss heute auf Mélenchon setzen, da er immerhin auf über 16 Prozent kommt in den aktuellen Prognosen, auf dem dritten Platz liegt und als einziger linker Kandidat theoretisch noch die Chance hat, Le Pen einzuholen und in den zweiten Wahlgang zu kommen. Auch im Falle Mélenchons, der seit Anfang März relativ konstant sechs Punkte hinter seiner rechten Konkurrentin liegt, wäre es allerdings eine Riesen­überraschung.

Traditionellerweise waren es die Sozialisten, die links­extreme Wählerinnen für sich zu gewinnen versuchten, indem sie auf dem vote utile (der Stimme, die etwas nützt) bestanden. Diesmal, wie schon 2017, ist es umgekehrt. Linke, die nicht mit Macron marschieren wollen, haben nur noch die Option Mélenchon.

Ungehorsam kann müde machen: Veranstaltung von Jean-Luc Mélenchons La France insoumise, dem aufmüpfigen Frankreich. Cyril Zannettacci/VU/laif

Für ein grösseres Segment der Linken dürfte Mélenchon dennoch unwählbar bleiben. Nicht nur weil der Volks­tribun zwar ein exzellenter Redner ist, aber mit dem Image kämpft, eine herrische Persönlichkeit zu haben. Besonders aussen­politisch trägt er einen altlinken Ballast mit sich herum, der sich sowohl in massiver EU-Skepsis als auch in jahrzehnte­langer scharfer US- und Nato-Kritik äussert – und Mélenchon, der nicht als Russland-Freund, sondern als «Blockfreier» betrachtet werden will, mindestens in eine gewisse Nähe zu den Putin-Verstehern rückt. Die russische Inter­vention in Syrien beispiels­weise hat der Anführer der France insoumise gutgeheissen, seine Stellung­nahmen zum Russland-Ukraine-Krieg verurteilen zwar Russland, zeichnen sich aber ebenfalls durch blockfreie «Unparteilichkeit» aus.

Für zahlreiche Wähler bleiben solche aussen­politischen Positionierungen eine unüberwindbare Hürde. Im heutigen Kontext mehr denn je.

Der Kulturkampf

Es dürfte mit grosser Wahrscheinlichkeit also erneut zum Duell Macron gegen Le Pen kommen – zur Wieder­holung des französischen Albtraums. Die Anführerin der extremen Rechten ist erfolgreich mit einer populistischen Kaufkraft-Kampagne, und dies, obwohl man Macron nicht vorwerfen kann, er habe zur Stützung der niederen Einkommen in den letzten Jahren nichts geleistet. Wie lässt sich das erklären?

Ein erster Grund dürfte der Kulturkampf sein, in dem Macron sehr viel Angriffs­fläche bietet. Er ist eine wandelnde Verkörperung des Super-Meritokraten, einer super­ausgebildeten, super­privilegierten, super­globalisierten Elite. Er ist das perfekte populistische Hassobjekt. Während der Gelbwesten-Demonstrationen wurde sein Pappmaché-Kopf auf Piken durch die Strassen von Paris getragen.

Der Präsident tut im Übrigen das Seine, um das schlechte Image zu nähren. Er ist bekannt für seine «kleinen Sätze», die hängen geblieben sind und in der Tat nicht von Empathie­fähigkeit zeugen. So sagte er etwa 2018 zu einem Arbeits­losen, der sich über seine schwierige Lage beklagte: «Ich gehe einfach über die Strasse und finde Ihnen sofort einen Job», eine Aussage, die ihn bis heute verfolgt. Im Januar dieses Jahres liess er sich dazu hinreissen, öffentlich zu erklären, die der Wissenschaft nicht zugänglichen Impfgegner sollten ihn ganz einfach mal am A…

Schwäche oder Begriffs­stutzigkeit versetzen den Überflieger in rasende Ungeduld. Populärer macht ihn das nicht.

Ein vor drei Wochen publizierter Bericht des französischen Senats hat nun grosse Aufmerksamkeit erregt und könnte Macron ernsthaft beschädigen, weil er ihn genau an seinem wunden Punkt trifft: Die Unter­suchung denunziert die zunehmende Häufigkeit der Indienst­nahme privater Consulting­firmen durch staatliche Behörden. Der daraus erwachsende Skandal ist «McKinsey-Gate» getauft worden, weil sich heraus­stellte, dass insbesondere die französische Tochter der amerikanischen Unternehmens­beratung immer wieder Aufträge angenommen hat von den Behörden.

An sich ist daran nichts Ungewöhnliches, wenn staatliche Organe sich extern beraten lassen. Die Mehrheit der Mandate wurde ohnehin im relativ unverdächtigen Bereich der digitalen Infra­struktur erteilt. Dass sich französische Ministerien oder Regional­behörden von privaten Firmen beraten lassen, ist auch in keiner Weise eine neue Praxis, sondern war schon unter Macrons Amts­vorgängern gang und gäbe.

Aber die McKinsey-Mandate sind dennoch skandal­trächtig, weil die Revisions- und Consulting­firma zwar hohe Umsätze mit öffentlichen Aufträgen erzielt in Frankreich, seit zehn Jahren aber keine Unternehmens­steuern mehr bezahlt haben soll – schliesslich verfügt McKinsey über höchste Expertise in der Steuer­optimierung. Bisher gibt es keine Hinweise auf illegale Praktiken, aber dieses Missverhältnis sorgt nachvollzieh­barerweise für Empörung.

Der Kern des Skandals liegt aber woanders: McKinsey-Gate beglaubigt die Vorstellung, Frankreich werde regiert von einer globalisierten Elite, welche die kleinen Leute verachtet. Eine gesellschaftliche Elite, die in Frankreich traditioneller­weise aus Spitzen­beamten der haute fonction publique besteht – und jetzt also auch noch Vertreter privater amerikanischer Consulting­firmen einschliessen soll. Die Zeitungen sind voller Artikel über persönliche Netzwerke, die Pariser Ministerien und McKinsey-Manager verbinden sollen. Der Verdacht von Beziehungs­korruption hängt bleiern über dieser Story.

McKinsey-Gate ist deshalb das perfekte Skandalisierungs­narrativ für die Eliten- und Globalisierungs­kritik von Marine Le Pen – auch wenn bisher in keinem einzigen Fall bewiesen worden ist, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu- und hergegangen wäre. Die Geschichte dürfte dennoch dazu beigetragen haben, dass die Heraus­forderin den Abstand zum Präsidenten in den letzten Wochen verringern konnte.

Die einzige Alternative

Viel wichtiger als der vermeintliche Kultur­kampf zwischen der Pariser Elite und der übrigen Bevölkerung ist für Frankreichs politische Blockade jedoch ein grundsätzlicherer Faktor: der erdrückende Erfolg von Macrons Revolution der Mitte. Es ist dem Präsidenten und seiner Bewegung La République en Marche gelungen, sowohl die sozial­liberale Linke als auch die gemässigte Rechte an sich zu binden. Spitzen­politiker aus beiden Lagern haben zu Macron gewechselt. Auch an seinem Gross­meeting im Rugby­stadion standen ehemalige Premier­minister von Links und Rechts Schulter an Schulter in der ersten Reihe.

Ein Handschlag mitten in der Begeisterung: Macron mit Ehefrau Brigitte in der «La Défense Arena». Frederic Petry/Hans Lucas

In gewisser Weise ist die Macron-Regierung die französische Variante einer Grossen Koalition: Mit Unter­stützung aus beiden politischen Gross­familien wird eine Mehrheit gezimmert und ein eingemittetes Reform­programm verfolgt. Deutschland wurde erfolgreich von einer langjährigen Grossen Koalition regiert. Weshalb sollte die Macron-Regierung in Frankreich nicht genau dieselbe Rolle spielen?

Der Unterschied liegt darin, dass Macrons «Revolution» die Traditions­parteien schwer beschädigt hat. Sie sind in diesem Präsidentschafts­wahlkampf nicht einmal mehr imstande, eine glaubwürdige Alternative zum demokratischen Block der Mitte zu präsentieren. Damit war nicht unbedingt zu rechnen, aber es ist das faktische Resultat von fünf Jahren Macron-Herrschaft.

Es gibt in Frankreich momentan quasi nur noch eine gemässigte, regierungs­fähige Partei: La République en Marche. Und es gibt voraus­sichtlich zu dieser Regierungs­mehrheit nur noch eine glaubwürdige Alternative: den Rechts­extremismus. Ein übermächtiges Zentrum, das den Wechsel zwischen linken und rechten Volks­parteien verunmöglicht, wird zu einer strukturellen Bedrohung für die demokratischen Institutionen. Es legitimiert letztlich die einzige Alternative, die bleibt: die Extreme.

Der kommende Urnengang ist auch für Europa eine Schicksals­wahl. Man stelle sich vor, was es für die Europäische Union bedeuten würde, wenn wider Erwarten Marine Le Pen das Präsidentenamt eroberte: ein west­europäischer Orbán, im besten Fall. Eine Putin-Bewunderin an der Spitze einer grossen europäischen Militär­macht. Macron hat mit seinem strategischen en même temps erdrückende Erfolge gefeiert. Doch genau diese Erfolge führen dazu, dass die französische Demokratie weiterhin gefährdet ist.

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