«Der russischen Regierung ist es offenbar nicht gleichgültig, was über sie gesagt wird»
Die Ukraine hat Russland beim Internationalen Gerichtshof verklagt. Dabei gehe es wohl vor allem um die Symbolik, sagt Völkerrechtsexperte Daniel Moeckli. Welche Chancen er der Klage einräumt und warum ihn der Kreml überrascht hat.
Ein Interview von Susi Stühlinger, 09.03.2022
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Anfang dieser Woche im Friedenspalast in Den Haag: Die Plätze der russischen Delegation bleiben leer. Der Internationale Gerichtshof (IGH), auch «Weltgericht» genannt, hat zu einer dringlichen Sitzung zusammengefunden. Das Hauptrechtsprechungsorgan der Uno befasst sich am Montag und Dienstag mit einer Klage der Ukraine gegen seinen Invasor. Thema der Anhörung, an der sich beide Parteien äussern sollten und könnten, ist die Frage, ob das Gericht vorsorgliche Massnahmen gegen Russland verhängen muss.
Bejaht der IGH die Notwendigkeit vorsorglicher Massnahmen, würde das bedeuten: sofortiger Stopp sämtlicher russischer Kampfhandlungen, sei es von offizieller Seite oder durch prorussische Rebellenarmeen. Ausserdem dürfte Russland keine weitere Eskalation des Konflikts befeuern, und es hätte die Einhaltung der vorsorglichen Massnahmen zu dokumentieren.
Im Zentrum des Rechtsstreits stehen allerdings nicht die russische Invasion oder die immer brutaleren mutmasslichen Kriegsverbrechen der russischen Truppen. Es geht um den Vorwurf Russlands, die Ukraine begehe einen Genozid an russischen Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet – also um die Begründung des Aggressors für den Angriff.
Ich will es genauer wissen: Die Argumente der Ukraine und das Schweigen Russlands
Die Anhörung vor dem «Weltgericht» in Den Haag begann am Montagmorgen mit einem eindringlichen Appell des ukrainischen Delegationsleiters Anton Korinewitsch. Er sagte an die nicht im Gerichtssaal anwesende russische Seite gerichtet: «Lasst uns diesen Streit wie zivilisierte Nationen ausfechten – legt eure Waffen nieder und legt eure Beweise vor!» In den darauffolgenden gut drei Stunden präsentierte die ukrainische Delegation ihre Argumente, warum sämtliche Bedingungen für ein Einschreiten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und die Verhängung der geforderten vorsorglichen Massnahmen erfüllt seien.
Anwältin Marney Cheek verwies auf das Fehlen jeglicher Beweise für den Genozid, den Russland als Grund für seine Invasion vorbringt: «Indem es haltlose Anschuldigungen des Völkermords benutzt, um eine Militäroperation auszuführen, stellt Russland die Genozidkonvention auf den Kopf.» Das sei keine Anrufung der Konvention in gutem Glauben und lasse sie zur Farce verkommen. Es gehe nicht an, so Cheek weiter, dass die Genozidkonvention zum Manipulationswerkzeug verkomme, um unter ihrem Deckmantel militärische Interventionen zu vollziehen.
Ebenfalls als Vertreter der Ukraine betonte Rechtsanwalt Jonathan Gimblett die Dringlichkeit des Anliegens, da ein nicht wiedergutzumachender Schaden drohe: «Dies ist nicht einfach eine punktuelle Militäroperation, sondern eine umfassende Invasion in die Ukraine mit vernichtenden humanitären und ökologischen Konsequenzen.» Gimblett verwies darauf, dass Russland barbarische Waffen wie zum Beispiel Streubomben einsetze. Oder dass einzig Glück Schlimmeres verhindert habe, als die Atomanlagen in Tschernobyl und Saporischschja beschossen wurden. Und auch darauf, dass Russlands Taktik der verbrannten Erde nicht nur die Vertreibung von Millionen Menschen zur Folge habe, sondern gravierende Schäden für Umwelt und Klima.
Harold Hongju Koh, Rechtsprofessor und ehemaliger Berater des US-Aussenministeriums, appellierte an den Haager Gerichtshof: Zwar würden auch andere Gerichte wie der Internationale Strafgerichtshof (ICC) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegenwärtig die Möglichkeiten völkerrechtlicher Verantwortung ausloten. Doch aufgrund des besonderen Status, den der IGH geniesse, blicke die Welt auf ihn – auf der Suche nach Hilfe und Anleitung.
Die Faktenbasis, die als Grundlage für die von der Ukraine geforderten vorsorglichen Massnahmen dienen solle, präsentiert sich laut Koh wie folgt:
Es hätten keine Akte des Völkermords durch die Ukraine stattgefunden.
Russlands militärische Intervention stütze sich auf eine falsche, erfundene Behauptung ohne jegliche Basis in der Genozidkonvention.
Russland könne keine legale Handlung (militärisch oder anderweitig) gestützt auf die Genozidkonvention ergreifen, um die Verhinderung eines angeblichen Genozids zu rechtfertigen.
Russland dürfe sich nicht auf die Genozidkonvention stützen, um die selbst ernannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk als solche anzuerkennen.
«Dieser Fall», so Harold Hongju Koh, «ist mittlerweile grösser als der Streit zwischen Russland und der Ukraine. Was wird sich durchsetzen? Russland oder die internationale Nachkriegs-Weltrechtsordnung?» Wenn die Konvention nicht hochgehalten werde und das Gericht Russland nicht stoppen könne, dann sei dies nicht der letzte Fall dieser Art. «Was würde dann ein anderes der fünf permanenten Mitglieder im Sicherheitsrat davon abhalten, eine ähnliche Invasion zu starten? Es wäre das Ende des Projekts des internationalen Rechts.»
Obwohl Präsident Putin gerne völkerrechtlich argumentiert (wie der Zürcher Rechtsprofessor Daniel Moeckli im Interview darlegt), akzeptiert Russland das laufende Verfahren vor dem Hauptrechtsprechungsorgan der Uno nicht: Auch am zweiten Tag der Anhörung, die für Russlands Argumente vorgesehen war, tauchte die russische Delegation im Friedenspalast von Den Haag nicht auf – die Anhörung Russlands fiel deshalb aus.
Daniel Moeckli ist Professor an der Universität Zürich und Experte für völkerrechtliche Fragen. Die Republik hat im Vorfeld der Anhörung zum Ukraine-Fall mit ihm gesprochen.
Ort: Internationaler Gerichtshof, Den Haag
Zeit: 7. und 8. März 2022
Thema: Genozidkonvention, vorsorgliche Massnahmen
Daniel Moeckli, der Einmarsch Russlands in die Ukraine gilt bereits jetzt als das schwerwiegendste Ereignis in der europäischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg – erodiert gerade das Völkerrecht?
Das kann man so nicht sagen. An der Argumentation von Putin fällt auf, dass er schon fast krampfhaft zu demonstrieren versucht, dass die Invasion nicht völkerrechtswidrig ist. In seiner Rede, mit der er die Invasion ankündigte, bezog sich Putin sogar ausdrücklich auf Artikel 51 der Uno-Charta, der das Recht auf Selbstverteidigung verankert. Von der Anerkennung der «Volksrepubliken» bis zum Genozidvorwurf: Es gibt von russischer Seite eine ganze Reihe von Versuchen, zu zeigen, dass die erfolgte Gewaltanwendung legitim und völkerrechtskonform ist.
Wenn Russland das Recht auf Selbstverteidigung geltend macht: Inwieweit spielt dabei eine Rolle, dass insbesondere die USA – namentlich bei ihrem Einmarsch in Afghanistan – dieses Recht in jüngerer Zeit sehr weit ausgelegt haben?
Man kann nicht in Abrede stellen, dass dieser Umstand es Putin einfacher macht, mit dem Selbstverteidigungsrecht zu argumentieren. Er bezieht sich explizit darauf und verweist auch auf den Irakkrieg: dass die westlichen Staaten dort ja das Gleiche gemacht hätten. Doch gerade die Tatsache, dass Russland sehr angestrengt eine völkerrechtliche Rechtfertigung zu konstruieren versucht, macht das Ganze in der öffentlichen Wahrnehmung auch einigermassen lächerlich. Das ist natürlich ein schwacher Trost. Trotzdem finde ich es interessant, dass die russische Regierung diese Diskursebene nicht verlässt.
Inwiefern?
Russland hätte auch sagen können: Das Völkerrecht ist ein westliches Konstrukt, wir haben ein anderes Verständnis von Völkerrecht. Das macht Russland zum Beispiel häufig, wenn es um Menschenrechte geht. Und so argumentiert Putin ja auch innenpolitisch, wenn er behauptet: Die Ukraine gehört eigentlich zu Russland, sie hat uns nie verlassen. Aber auf internationaler Ebene macht er das nicht. Das finde ich bemerkenswert.
Warum?
Ich glaube, es illustriert, dass das Gewaltverbot nicht völlig irrelevant ist. Die russische Regierung begreift offenbar, dass das Verbot einen zentralen Teil des internationalen Systems ausmacht. Sie sieht, dass es – auch für Russland selbst – gefährlich würde, wenn es keinerlei völkerrechtliche Grenzen der Gewaltanwendung mehr gäbe. Besonders in der US-amerikanischen Völkerrechtswissenschaft wurde eine Zeit lang behauptet, das Gewaltverbot sei durch die zahlreichen militärischen Interventionen auf der Welt völlig untergraben worden; was zähle, sei nur die Realpolitik. Hier erleben wir gerade das Gegenteil: auf der einen Seite den Versuch des Angreifers, die Anwendung militärischer Gewalt völkerrechtlich zu rechtfertigen. Und auf der anderen Seite die klare Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft, die das Vorgehen Russlands fast einhellig als eklatanten Bruch des Völkerrechts verurteilt und völkerrechtliche Gegenmassnahmen ergreift, in Form von Sanktionen. Es wird von beiden Seiten rechtlich argumentiert, nicht rein realpolitisch.
Die Ukraine macht vor dem Internationalen Gerichtshof die Verletzung der Genozidkonvention geltend – und nicht etwa die Verletzung des Gewaltverbots, das in der Uno-Charta verankert ist. Erklären Sie.
Natürlich wäre es naheliegender, eine Verletzung des Gewaltverbots geltend zu machen, aber das kann die Ukraine gar nicht.
Warum nicht?
Der IGH ist nur dann für eine Streitigkeit zuständig, wenn die betroffenen Staaten ihr Einverständnis dazu gegeben haben. Das kann durch die Abgabe einer sogenannten generellen Unterwerfungserklärung erfolgen. Staaten, die eine solche Erklärung abgegeben haben, können gegeneinander vor dem IGH klagen. Aber im Gegensatz zur Schweiz und zu vielen anderen westeuropäischen Staaten haben weder Russland noch die Ukraine eine solche Erklärung abgegeben. Deshalb kann die Ukraine gegen Russland nur gestützt auf einen Vertrag Klage erheben, den beide Staaten unterzeichnet haben. Dieser Vertrag muss den IGH als Instanz zur Beilegung vertragsspezifischer Streitigkeiten vorsehen. Die Genozidkonvention ist ein solcher Vertrag.
Die Argumentation der Ukraine zielt nicht in erster Linie darauf, dass Russland die Genozidkonvention verletze, indem es einen Völkermord begehe. Es wird eine fehlerhafte Auslegung der Konvention geltend gemacht. Wie schätzen Sie diese Argumentation ein?
Zwar wird in der Klage auch angedeutet, die Russen wollten in der Ukraine einen Genozid begehen. Tatsächlich aber ist das Hauptargument der Ukraine, dass Russland den Begriff des Völkermords falsch auslege und unter diesem Vorwand seine Intervention zu legitimieren versuche. Das ist eine kreative Argumentation. Die Genozidkonvention zielt ja nicht in erster Linie auf die korrekte Verwendung des Genozidbegriffs ab, sondern auf die Verhinderung von Völkermorden. Derzeit gibt es keine Hinweise, dass ein solcher geplant wäre. Doch offenbar hat die Ukraine keine andere Rechtsgrundlage gefunden, die dem IGH Zuständigkeit einräumen würde. Ob die Argumentation schliesslich vom IGH gestützt werden wird, ist schwierig abzuschätzen.
In ihrer Klage fordert die Ukraine die Ergreifung vorsorglicher Massnahmen; vor allem, dass das Gericht die Aussetzung der russischen Kampfhandlungen anordnet.
Das ist offenbar der Hauptzweck der Klage. Bis das endgültige Urteil gefällt wird, wird es Jahre dauern. Dann wird es für die Ukraine zu spät sein. Eine Intervention des IGH kann sie in nützlicher Frist nur erreichen, wenn vorsorgliche Massnahmen angeordnet werden.
Und dieser Antrag hat Chancen?
Bei einem Antrag auf vorsorgliche Massnahmen reicht es, wenn die klagende Partei glaubhaft macht, dass die Verletzung rechtlich geschützter Positionen droht. Das heisst, die Beweisanforderungen sind weniger hoch als für das endgültige Urteil. Vor diesem Hintergrund scheint mir der Antrag auf vorsorgliche Massnahmen nicht völlig aussichtslos zu sein.
Falls der IGH tatsächlich die Anordnung vorsorglicher Massnahmen beschliessen sollte, ist kaum davon auszugehen, dass Russland diesen Folge leisten wird …
Nein, natürlich nicht. Das ist offensichtlich, denke ich. Auch dann, wenn es mal zu einem endgültigen Urteil kommen sollte, wird dieses nicht durchgesetzt werden können.
Gibt es irgendwelche Mechanismen, mittels deren sich die Urteile des IGH vollstrecken lassen?
Grundsätzlich kann die obsiegende Partei an den Uno-Sicherheitsrat gelangen, wenn die unterliegende Partei das Urteil nicht umsetzt. Aber im Sicherheitsrat hat Russland ein Veto, es würde also nicht zu einer entsprechenden Resolution kommen. Es gab bisher erst zwei Versuche, ein IGH-Urteil via Sicherheitsrat durchzusetzen. Beide waren erfolglos. Das ist ein generelles Problem des Völkerrechts: Seine Durchsetzungsmechanismen sind schwach. Der Ukraine geht es wohl vor allem um die Symbolik – das «Weltgericht» soll für die Öffentlichkeit festhalten, dass Russland das Völkerrecht verletzt.
Beim IGH sind bereits seit längerer Zeit zwei weitere Klagen der Ukraine gegen Russland hängig. Eine betrifft die Ostukraine und basiert auf dem Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. Bei der anderen geht es um die Krim. Diese Klage basiert auf dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Wo stehen diese Verfahren?
Mit Bezug auf die Situation auf der Krim ordnete der IGH bereits 2017 vorsorgliche Massnahmen an: Russland muss sicherstellen, dass Schulunterricht in ukrainischer Sprache angeboten wird und Massnahmen zum Schutz der Krimtataren ergriffen werden. 2019 hat der IGH seine Zuständigkeit gestützt auf die entsprechenden Konventionen bejaht, im Fall der Rassendiskriminierungskonvention mit fünfzehn Stimmen zu einer. Nur der russische Richter stimmte dagegen. Im Fall der Terrorismusfinanzierung war das Stimmenverhältnis dreizehn zu drei. Sehr wahrscheinlich dauert es noch ein paar Jahre, bis sich der IGH definitiv zur Sache äussert.
Wie lautet Ihre Prognose?
Zumindest in Bezug auf die Rassendiskriminierungskonvention dürfte die Ukraine gute Chancen haben. Etwas schwieriger dürfte die Ausgangslage bei der Klage betreffend die Finanzierung von Terrorismus sein. Dort macht die Ukraine geltend, dass Russland durch die Unterstützung der Separatisten die entsprechende Konvention verletzt. Dafür muss relativ viel nachgewiesen werden: zunächst einmal, dass finanzielle Mittel von der russischen Regierung an die Separatisten geflossen sind, und dann auch noch, dass sich diese terroristischer Methoden bedienen.
Auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Ukraine ein ganzes Bündel sogenannter Staatenbeschwerden eingereicht. Eine davon thematisiert systematische Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. Wie geht es da weiter?
Die Beschwerde betreffend die Krim hat der EGMR letztes Jahr für teilweise zulässig erklärt, sodass er sich in der Sache äussern kann. Wann es so weit sein wird, ist schwierig zu sagen. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel von der Beweislage. Dass sowohl auf der Krim wie auch in der Ostukraine Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind, scheint jedoch ziemlich offensichtlich zu sein. Der EGMR dürfte zum entsprechenden Schluss kommen. Zudem hat die Ukraine letzte Woche eine weitere Staatenbeschwerde wegen der Invasion eingereicht. Der EGMR hat darauf Russland aufgefordert, militärische Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu unterlassen.
Russland hat seinerseits vergangenen Sommer vor dem EGMR gegen die Ukraine geklagt – unter anderem, weil die Ukraine den Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 nicht verhindert hat. Dabei wurde es ja mutmasslich durch russische Separatisten abgeschossen.
Der Vorwurf betreffend den Flugzeugabschuss ist nur ein Teil der Klage. Er ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass die Ukraine ihrerseits – wie auch die Niederlande – deswegen gegen Russland geklagt hat. Es ist quasi ein juristischer Gegenangriff. Russland macht geltend, die Ukraine hätte ihren Luftraum schliessen müssen. Das Argument ist nachvollziehbar: Die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, das Leben der Menschen vor Angriffen durch Private (wie etwa Rebellen) zu schützen. Interessant finde ich vor allem, dass Russland sich eines internationalen Mechanismus bedient, den es selbst heftig kritisiert.
Was ist die Überlegung dahinter? Immerhin hat Russland wiederholt durchblicken lassen, dass es kein Interesse mehr daran hat, sich der EGMR-Rechtsprechung zu unterwerfen.
Das kann ich nicht beurteilen. Sehr wahrscheinlich geht es auch hier primär um die Aussenwirkung – darum, zu zeigen, dass sich die anderen Staaten selbst nicht an das Völkerrecht halten.
Ist die Klage als Zeichen zu werten, dass sich Russland trotz allem auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zubewegt?
Das nicht. Ich denke, die russische Regierung versucht vielmehr, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es auch rechtliche Argumente für ihre Position gibt – dass Russland nicht einfach der bad guy ist. Das ist bemerkenswert. Der russischen Regierung ist es offenbar nicht gleichgültig, was über sie gesagt wird, sei es im In- oder Ausland. Die Einhaltung des Völkerrechts scheint politisch durchaus eine Rolle zu spielen. Ausserdem: Vielleicht erweisen sich ja einige der russischen Vorwürfe – zum Beispiel jener, dass in gewissen Fällen russischsprachige Ukrainerinnen und Ukrainer benachteiligt wurden – als nicht völlig haltlos. Es ist absolut legitim, diese Fragen zum Thema vor dem EGMR zu machen.
Dennoch: Im Moment sind es vor allem die eklatanten Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch russische und prorussische Truppen, die im Zentrum stehen. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) hat eine Untersuchung wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet. Könnte Putin vor dem ICC landen?
Die Ukraine anerkannte bereits 2015 die Gerichtsbarkeit des ICC für solche Verbrechen, falls sie auf ihrem Territorium begangen werden. Kriegsverbrechen, wie etwa Angriffe auf die Zivilbevölkerung, werden aber normalerweise den direkt an den Militäraktionen beteiligten Soldaten und Offizieren zur Last gelegt. Der russischen Führungsspitze die Verantwortung dafür nachzuweisen, dürfte schwierig werden. Sie müsste wegen des Verbrechens der Aggression, also der Anordnung eines Angriffskriegs, angeklagt werden. Doch dafür hat der ICC in diesem Fall keine Gerichtsbarkeit, da Russland das ICC-Statut nicht unterzeichnet hat.
Also kann Putin persönlich nicht zur Verantwortung gezogen werden?
In gewissen Ländern, etwa in den Niederlanden, können Personen wegen des Führens eines Angriffskriegs vor ein nationales Strafgericht gestellt werden – selbst wenn der Krieg keinen Bezug zu diesem Land hat. Es reicht, dass sich die verdächtige Person dort aufhält. Wir haben viel über Symbolik gesprochen. Stellen Sie sich die Symbolik dieses Verfahrens vor: Putin besucht die Niederlande und muss sich dann wegen des Angriffs auf die Ukraine vor einer holländischen Strafrichterin verantworten!
Illustration: Till Lauer