Strassberg

Gelandet im Widerspruch

Wer eine Reise tut, lernt etwas über sich selber. Man kann sich dabei finden – oder die eigene Identität plötzlich bedroht sehen.

Von Daniel Strassberg, 22.02.2022

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Die Reise von Bett zu Bett dauerte genau 24 Stunden. Um 3.30 Uhr stieg ich in Zürich aus meinem Bett, um 21.30 Uhr sank ich, erschöpft und aufgedreht, in Cozumel, einer Yucatán vorgelagerten Insel, in ein fremdes Bett. Ich bin in Mexiko und besuche meinen Sohn.

Seit meiner Ankunft sind nun einige Tage vergangen, aber die seltsam ängstliche Unruhe, die mich in dem Augen­blick erfasste, als ich in Cancún die Gangway hinunterstieg, will einfach nicht verschwinden. Als würde ein unter dem Rippen­bogen zu eng geschnallter Gürtel die Atmung behindern. Dass die Worte «Angst» und «Enge» dieselbe Wurzel haben, leuchtet mir nun sehr ein.

Den Menschen die Angst zu nehmen, sahen die Philosophen der Antike als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, selbst die Angst vor dem Tod. In der Nacht, bevor er den Gift­becher trinken musste, tröstete Sokrates seine Freunde mit einer langen Rede darüber, dass der Tod im Grunde eine Erlösung sei, denn er befreie die Seele aus dem Gefängnis des Körpers. Er sprach so überzeugend, dass die Frage, die darauf folgen musste, auf der Hand lag: Weshalb sollen sie sich denn nicht gleich das Leben nehmen?

Epikur, der ein halbes Jahrhundert nach Sokrates’ Tod geboren wurde, brachte sein Argument auf folgende sehr kurze, aber doch recht überzeugende Formel:

Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.

Epikur: «Brief an Menoikeus».

Ob dieses Argument schon jemandem half, der an Todes­angst litt, ist zu bezweifeln. Also machte man im 19. und 20. Jahr­hundert eine Spitzkehre. Wenn die Philosophie die Angst schon nicht nehmen kann, soll sie sie wenigstens adeln. Martin Heidegger erklärte Angst kurzerhand zur wahren Seinsweise. Der Mensch erfährt nur in der Angst – nicht in der Furcht, die ist etwas für Memmen – die eigentliche Abgründigkeit seiner Existenz:

Das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeutet nicht Welt­abwesenheit, sondern besagt, dass das innerweltlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, dass auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.

Martin Heidegger: «Sein und Zeit».

Trotz des blasierten Geschwurbels und trotz der Tatsache, dass Heidegger fast alles von Søren Kierkegaard abgekupfert hat, bergen diese Zeilen möglicher­weise doch einen Aufschluss über die merkwürdige Beklemmung, die mich festhält.

In der Angst, meint Heidegger, erfahre der Mensch die Sinnlosigkeit seiner Existenz. Doch weshalb sollte mich gerade jetzt, da ich nach einem tropischen Regen bei 30 Grad Celsius und beinahe 100 Prozent Luft­feuchtigkeit an einer Bar an einem Mojito nippe, 10’000 Kilometer von zu Hause entfernt, die «Belanglosigkeit und Unbedeutsamkeit» meiner Existenz überfallen? Die Landschaft ist atem­beraubend, Flora und Fauna gehören zum Reichsten, was die Erde zu bieten hat, die Menschen sind freundlich und das Essen ist wunderbar. Es fehlt, glaubte man der Werbung, absolut nichts zum Glück.

Woher also diese untergründige Irritation, die mich nicht loslässt?

Es ist etwa elf Uhr nachts, ein Motor­roller schlängelt sich durch den Verkehr, der Vater am Steuer, die Mutter hinter ihm, zwischen ihnen eingeklemmt ein kleiner Junge von etwa 6 Jahren. Alle fahren ohne Helm. Der Junge scheint zu schlafen, jedenfalls sind seine Augen geschlossen. Ach, wie süss, denke ich, wie frei die Menschen hier sind, sie müssen sich nicht um kleinliche Verkehrs­regeln kümmern, leben ohne Korsett.

Aber sogleich überfallen mich beklemmende Fragen: Was geschieht, wenn der Roller in einen Unfall verwickelt und der Junge verletzt wird? War diese Fahrt ein abenteuerlicher Familien­ausflug, oder entsprang sie nicht viel eher der bitteren Notwendigkeit, bis tief in der Nacht zu arbeiten? Oder ist dieser Armuts­verdacht schon wieder eine absurde Projektion und aus der Fremdheit geborene Fantasie?

Oder die Wohnung, Airbnb, in einer riesigen Trabanten­siedlung etwas ausserhalb der Stadt, die wie die Kulisse eines dystopischen Films aussieht, mit zwei winzigen Zimmern, ohne WLAN, ohne einen einzigen Baum in der Umgebung, alle für die Siedlung gerodet. Nichts wie weg hier, ist unsere erste Reaktion. Doch die Wohnung ist offensichtlich der Stolz der Besitzerin, die all ihr Geld in sie gesteckt hat, um durch Vermietungen irgendwie über die Runden zu kommen. Der Unwille ihrer Gäste – ich, meine Frau und mein Sohn – beschämt sie, es ist ihr anzumerken. Wir ziehen alle unsere Beschwerden zurück und loben die Wohnung, beschämt über unser eigenes Verhalten.

Oder: Wir sitzen bei stärkster Mittagshitze in einem Strassen­café, das Bier bleibt dank der geeisten Gläser kühl. Gegenüber steht eine junge Frau in der prallen Sonne, laut dem Plakat, das sie mühselig vor sich hinhält, bietet sie eine Rücken­massage für 25 Dollar an. Hunderte Menschen, meist rotverbrannte, übergewichtige US-Amerikaner, gehen an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, manche scheinen peinlich berührt und schauen absichtlich in eine andere Richtung. Niemand nimmt das Angebot an. Einen Moment lang denke ich daran, mir selber eine Massage geben zu lassen und ihr zu den 25 Dollar zu verhelfen. Aber ich kann mich nicht dazu überwinden.

Oder die sehr junge, sehr klein gewachsene Mutter, die, selbst noch ein Kind, mitten in der Nacht versucht, mit ihrem Baby im Tragtuch, billigen Schmuck zu verkaufen, und zunehmend ausser sich gerät, in eine Mischung aus massloser Wut über die vollen Geldsäcke, die ohne jede Empathie an ihr vorbeiziehen, und der schieren Panik, ihr Kind nicht mehr beruhigen zu können. Sie tun uns sehr leid, aber wir brauchen keinen Schmuck, und haben überdies auch gar keine Zeit.

Oder die Band, offenbar der indigenen Bevölkerung entstammend, die sich mit dem Marimbafon vor dem Restaurant aufstellt, um ihre politischen Botschaften zur doppelten Unterdrückung der indigenen Frauen zur Sprache zu bringen, die aber viel zu laut ist und ärgerlicher­weise das Gespräch unterbricht, das wir gerade führen wollten.

Die Liste der Widersprüche liesse sich beliebig verlängern. Es ergibt sich kaum eine Situation, in der ich mich eindeutig verhalten kann, ja, in der ich überhaupt weiss, was das richtige Verhalten wäre: Allen, die etwas anbieten, etwas abkaufen? Oder ist das genaue Gegenteil richtig? Und wenn auswählen, nach welchen Kriterien? Soll ich den Preis runterhandeln, weil das zum Spiel gehört und man sonst als Idiot dasteht, oder wäre das angesichts der realen Unterschiede unanständig?

Dazu kommen diese mich selber anwidernden quasi kolonialistischen Affekte: Der Ärger über die langsame Bedienung, über die Raser, die für Fussgänger nicht stoppen, über die mangelnde Hygiene, über das nicht funktionierende WLAN, darüber, beständig übers Ohr gehauen zu werden. Egal, was ich tue, es ist falsch; egal, was ich fühle, es ist herablassend, blasiert, kolonialistisch.

Ich bin nicht mehr ich selbst.

Doch was heisst überhaupt, sich selbst zu sein? Oder anders gefragt: Was macht Identität aus? Am ehesten könnte man Identität als weitgehende Übereinstimmung von Selbstbild, Selbst­ideal und Verhalten definieren: Ich bin (beinahe) so, wie ich sein will und wie ich von anderen gesehen werden möchte – und entsprechend verhalte ich mich auch.

Wer sich als sportlichen und körper­bewussten Menschen sieht, ernährt sich entsprechend und trainiert dafür genug. Dass jeder und jede bisweilen davon abweicht, ist normal und manchmal macht es sogar richtig Spass, etwas zu tun, das so gar nicht zu einem passt – zum Beispiel als Kritiker des Nationalismus hemmungslos die «eigene» Mannschaft zu unterstützen, wenn die Fussball-Nati spielt. Doch im Grossen und Ganzen sollten die einzelnen Elemente eine Einheit bilden. Identität erträgt keine groben Widersprüche.

Die Einheit der Identität muss durch eine Welt­anschauung, das heisst, durch ein einheitliches Welt­bild mit konsistenten moralischen Werten abgesichert werden. Welt­anschauung und Identität stabilisieren sich gegenseitig: Mein Verhalten sollte mit der Sicht zusammen­passen, die ich auf die Welt habe. Die Übereinstimmung von Welt­anschauung und Identität – daran glaube ich, und deshalb verhalte ich mich so, wie ich mich verhalte – erfahren wir subjektiv als Bedeutsamkeit unserer Existenz, als Gefühl, dass es eine Rolle spielt, wie ich handle.

Seit dem Moment, da ich das Flugzeug in Mexiko verlassen habe, funktioniert das Bild, das ich von mir selbst habe, nicht mehr als Leitlinie meines Handelns. Was immer ich tue, stimmt weder mit meinem Selbst­bild noch mit meinen Werten überein – und es ist angesichts der realen Widersprüche auch gar nicht in Übereinstimmung zu bringen. Dadurch entsteht genau das Gefühl, das Heidegger beschreibt: das Gefühl der Belanglosigkeit und Unbedeutsamkeit der eigenen Existenz.

Erik H. Erikson (1902–1994), ein auf die Adoleszenz spezialisierter Psycho­analytiker, sprach in solchen Fällen von «Identitäts­diffusion». Es ist, als geriete der Boden ins Rutschen, als spiele man in einem Spiel mit, dessen Regeln man nicht kennt, als spiele nichts mehr wirklich eine Rolle. Nicht, was ich tue und lasse; nicht, wer ich wirklich bin. Natürlich kann man, wie Heidegger, dieses Gefühl als «eigentliches» bezeichnen und die Sinnlosigkeit als höhere Wahrheit feiern. Doch der Sinnlosigkeit höhere Weihen zu verleihen, ist lediglich ein Taschenspieler­trick. Für gewöhnliche Menschen – die Heidegger eh verachtet – bleibt die Identitäts­diffusion bedrohlich.

Möglicherweise sind wir Schweizer für diesen beängstigenden Zustand besonders anfällig. Die Willens­nation Schweiz hat nämlich seit Jahr­hunderten eine Meisterschaft darin entwickelt, Widersprüche zu exportieren – und daran zu verdienen. Kolonialismus? Damit haben wir uns die Finger selbst nie schmutzig gemacht, und wenn, dann nur als Händler, nicht als Eroberer. Krieg und Gewalt? Findet seit den Söldnern im 15. Jahr­hundert bis Bührle im 20. Jahr­hundert im Ausland statt. Arbeitslosigkeit? Diese wurde uns in der zweiten Hälfte des letzten Jahr­hunderts von Italien abgenommen. Umwelt­verschmutzung? Da kaufen wir uns frei.

In der Schweiz muss man Widersprüche weder verleugnen noch schön­reden – denn sie existieren gar nicht, sie sind weitgehend ausgelagert. Das erlaubt allen, auch sogenannt kritischen Zeit­genossinnen, eine klare, eindeutige Identität mit einer widerspruchs­freien Welt­anschauung zu entwickeln.

In der Schweiz kann man mit sich im Reinen sein.

Doch nach einem Flug von nur 14 Stunden begegne ich all jenen Widersprüchen wieder, die ich so sauber entsorgt geglaubt habe – und begegne jenen Menschen, die an unseren Widersprüchen zu ersticken drohen. Die meisten Menschen hier können sich das Gefühl, mit sich überein­zustimmen, schlechter­dings nicht leisten, genauso wenig wie eine widerspruchs­freie Welt­anschauung oder eine einheitliche Identität. Damit bricht aber auch mein fein gefügtes Gebäude aus Identität und Welt­anschauung in sich zusammen.

Mexiko lehrt mich eine Lektion, die ich erst einmal verdauen muss: Man bringt niemals alles unter einen Hut, weder sich selbst noch die Welt, man kann nur versuchen, zu lernen, mit den Widersprüchen zurechtzukommen, die das Leben notwendiger­weise mit sich bringt – ausserhalb der Schweiz jedenfalls.

Illustration: Alex Solman

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