Generation °C
Was heute ein extrem kalter Winter ist, war für unsere Eltern nicht aussergewöhnlich – und für unsere Urgrosseltern völlig normal. Die Klimaerwärmung aus Sicht von fünf Generationen.
Von Felix Michel, 07.02.2022
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Im Januar, im Januar,
Isch alles stiif und starr.
Im Februar, im Februar,
Isch immer no alles stiif und starr.
Im März, im März,
Da gahts mit em Jahr vorwärts.
Wie wird das Wetter in der Schweiz? Der Kabarettist Emil Steinberger machte mit seinen Bauernregeln eine Prognose für jeden Monat. Lange Zeit waren diese Bauernregeln erstaunlich präzis: Hätten sich Landwirtinnen vom Seeland bis zum Bodensee tatsächlich daran orientiert und ihre Felder entsprechend bestellt, wären sie gut damit gefahren.
Doch Emils Angaben sind heute veraltet. Denn sie beziehen sich auf die Klimanormwerte der Jahre 1961 bis 1990. Und diese sind, was die Temperaturen betrifft, als Folge der Klimaerwärmung mittlerweile deutlich zu tief.
Wie Millennials den Januar kennen
Klar ist: Es wird immer wärmer. Aber wie viel? Anhand der Normwerte, die jeweils über eine Periode von 30 Jahren ermittelt werden, lässt sich dies zurückverfolgen.
Unsere Zeitreise beginnt bei der jüngsten Generation – den Millennials. Wer zu ihr gehört, ist um 1990 geboren und hat seine Jugend grösstenteils im neuen Jahrtausend verbracht. In den Januarmonaten, die diese Generation bis jetzt durchlebt hat, lagen die Temperaturen durchschnittlich bei –2,3 Grad Celsius.
Rein mathematisch sind Normwerte ein arithmetisches Mittel. Meteorologische Messgrössen wie Temperatur oder Niederschlag werden über 30 Jahre gemittelt. Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) legt die Zeitperioden fest, Meteo Schweiz stellt dann die entsprechenden Werte für die Schweiz zusammen.
Bauern, Energie- oder Logistikunternehmen brauchen solche Normwerte, um ihre Geschäftstätigkeiten der nächsten Wochen oder Monate organisieren zu können. Auch wenn wir etwa in einem Ferienprospekt über Zermatt die Temperaturen für Juli oder August anschauen, sind das meist die Werte der aktuellen Normalperiode.
Wegen des Klimawandels beschloss die WMO im Jahr 2011, dass nicht mehr alle 30 Jahre, sondern neu alle 10 Jahre eine neue Normalperiode berechnet wird. Die letzte Periode reichte von 1981 bis 2010, die aktuelle dauert von 1991 bis 2020.
Vereinzelt haben die Millennials auch kalte Januare erlebt. 2010 und 2017 fielen die Temperaturen unter –5 Grad. Doch insgesamt zeichnet sich die aktuelle Normalperiode nicht durch klirrende Kälte aus. 2007 und 2018 lag der Schnitt sogar über der Nullgradgrenze. Im Januar 2018 blühte der Hasel bereits im Januar und läutete den Frühling rund zwei Monate zu früh ein.
Was Millennials aus eigener Erfahrung nicht wissen: Man muss in der Zeit gar nicht so weit zurückgehen, um bereits auf deutlich kältere Januare zu stossen.
Das Januarfeeling der Babyboomer
Bereits die vorherige Normalperiode hält Temperaturen bereit, die aus heutiger Sicht extrem scheinen. So etwa im Januar 1963, dem Jahr der «Seegfrörni».
In jenem Januar war es durchschnittlich –8,6 Grad kalt. Ganze 23 Tage lang zeigte das Thermometer weniger als 0 Grad an. In der Sprache der Meteorologen waren dies sogenannte Eistage. Ihre Reihung hatte zur Folge, dass der Zürichsee komplett zufror. So konnten sich die Leute die Schlittschuhe anschnallen und an freien Nachmittagen in Scharen über den See gleiten – ein einzigartiges Erlebnis in der Erinnerung vieler, die damals jung waren.
Menschen dieser Generation werden auch Babyboomer genannt – wegen der Geburtenraten, die damals sehr hoch waren. Dass grosse Seen zufroren, war auch für sie eine Ausnahme. Doch anhand der Normtemperaturen zeigt sich: In den Jahrzehnten von 1961 bis 1990 war es generell kälter als heute.
Der durchschnittliche Januar war in dieser Zeitspanne –3,4 Grad kalt. Also etwas mehr als ein Grad kälter als eine Normgeneration später bei den Millennials.
Zwar gab es schon in den Jugendjahren der Babyboomer milde Januare, doch die kalten Extreme waren häufiger und auch deutlich eisiger: In den Jahren zwischen 1961 und 1990 war ein durchschnittlicher Januar nie wärmer als 0 Grad.
Die stille Generation
Gehen wir noch weiter in die Vergangenheit zurück: zur Generation von Emil Steinberger. Paradoxerweise gehört der redefreudige Emil der sogenannten stillen Generation an, deren Angehörige als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebten und anschliessend im Wiederaufbau anpacken mussten.
In dieser Zeit, in der auch Emil aufwuchs, waren Werte unter –5 Grad Celsius keine Seltenheit. Auch die Normtemperatur lag nochmals tiefer als bei den Babyboomern: Zwischen 1931 und 1960 war es im Schnitt –4,0 Grad kalt.
Der Kälterekord für den Januar fällt ebenfalls in diese Periode: –8,8 Grad im Jahr 1945. Milde Ausreisser gab es zwar auch damals, 1936 etwa erreichten die Temperaturen fast die Nullgradgrenze. Aber eben: Solche milden Winter waren weniger warm und weniger häufig.
Vorindustrielle Winter
Machen wir nochmals einen Zeitsprung – diesmal einen grösseren, bis zu den Anfängen der meteorologischen Aufzeichnungen und damit zur vorindustriellen Referenzperiode. So wird die Zeitspanne von 1871 bis 1900 genannt. Sie wird verwendet, um die menschengemachte Klimaerwärmung zu berechnen. Die industrielle Aktivität war damals noch bedeutend kleiner, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre begann gerade erst zu steigen.
Ende des 19. Jahrhunderts war der Januar im Schnitt –4,4 Grad kalt. Also nochmals ein Stück kälter als in den Jugendjahren der stillen Generation.
Der Wärmerekord aus der vorindustriellen Normalperiode liegt bei –0,8 Grad, die Kälterekorde liegen in der Gegend von –8 bis –9 Grad. Gleich mehrmals schlugen die Januartemperaturen in dieser Phase so stark nach unten aus. Das für Babyboomer einmalige Naturschauspiel war für deren Grosseltern nicht ganz so aussergewöhnlich: Auch 1880 und 1891 fror der Zürichsee zu.
Noch grösser ist jedoch der Kontrast zur Gegenwart. Was Millennials heute als Kälteextreme empfinden – Temperaturen von –4 bis –5 Grad –, war während der vorindustriellen Periode nichts anderes als der Durchschnitt. Und der jüngste Januar – mit –1,5 Grad lagen die Temperaturen 2022 leicht über der aktuellen Norm – wäre in den Jahren vor 1900 fast ein Wärmerekord gewesen.
Indem wir Normalperioden vergleichen, können wir den Klimawandel nachvollziehen – von der vorindustriellen Zeit bis hin zu den Millennials.
Ein Wandel von der Dauer über fünf Generationen.
Ein Wandel von über 2 Grad Celsius.
Im Novämber, im Novämber,
Da dänkt me zrugg a Septämber.
Im Dezämber, im Dezämber,
Da treit me warmi Hämber.
Im Januar, im Janu... ar...
Aber das isch eu allne jetze klar!
Seit 1864 werden in der Schweiz systematisch Wetterdaten gesammelt. Sie können bei Meteo Schweiz als Textdatei bezogen werden. Darin findet sich das Schweizer Temperaturmittel nach Monat, Jahr oder Jahreszeit aufgeteilt.
Die Temperaturen werden an verschiedenen Standorten in der Schweiz mehrmals täglich gemessen. Um Veränderungen bei Messbedingungen zu korrigieren, werden die Daten homogenisiert. Aus den homogenisierten Daten können mit einem arithmetischen Mittel die gewünschten Normalperioden berechnet werden.