Das neue Nicht-Normal
Die Pandemie-Entwicklung ist sehr positiv. Aber der Lockdown liegt nicht hinter uns.
Von Daniel Binswanger, 05.02.2022
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Die Schweiz wird von Öffnungseuphorie erfasst, sehr verständlicherweise. Dass die Omikron-Welle weniger verheerend ausgefallen ist, als man es befürchten musste, dass die Möglichkeit langersehnter Lockerungsschritte sich abzeichnet: Es gibt tatsächlich Grund zum Feiern. Das bundesrätliche Handeln erscheint zwar immer noch ausnehmend riskant – aber im Gegensatz zu seinen Beschlüssen von vor gut drei Wochen hat der Optimismus eine Grundlage.
Die Botschaft, welche die Landesregierung diese Woche an die Bevölkerung zu bringen hatte, war dennoch eigenwillig: Die Entwicklung sei positiv, die Entkoppelung von Fallzahlen und Hospitalisierungen bestätige sich in unerwartetem Masse, lautete die gute Nachricht.
Die eher etwas verstörende: Warum die Schweizer Hospitalisierungsrate im internationalen Vergleich so niedrig bleibe, könne man sich beim besten Willen auch nicht erklären. Vielleicht sei es der verspätete Start der Booster-Kampagne, der in der heutigen, kritischen Phase ungeplant zu besserem Schutz führe; vielleicht der hierzulande sehr hohe Anteil von Moderna-Impfungen; vielleicht die Altersstruktur der momentan vom Ansteckungsgeschehen hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Schweizer Regierung ganz offiziell erklärt, ihre Krisenbewältigung sei zwar ausnehmend erfolgreich, man habe aber auch ex post keinen blassen Schimmer, weshalb. Oder, in den Worten unseres Bundespräsidenten: Die Schweiz ist eine Wette eingegangen und hat gewonnen. Toi, toi, toi!
Die nun angekündigten Lockerungsschritte nehmen sich vor diesem Hintergrund richtig gut abgestützt aus: Immerhin hat man den Grad der Entkoppelung von Fallzahlen und Hospitalisierungen inzwischen empirisch eruieren können. Sind also alle Fragen geklärt? Nein, davon kann natürlich keine Rede sein.
Weiterhin ist ungewiss, ob sich Omikron auch für Long Covid als weniger virulent erweisen wird und in welchem Mass die Impfung vor Long Covid schützen kann. Weiter ist offen, wie stark die Hospitalisierungen von Kleinkindern ansteigen werden. Glücklicherweise kann allerdings auch in diesem Punkt bis zu einem gewissen Grad Entwarnung gegeben werden: In den letzten Wochen haben die Hospitalisierungen von Kleinkindern zwar stark zugenommen, sie bleiben in der Schweiz in der Summe aber relativ selten.
Die entscheidende Unbekannte ist die voraussichtlich noch anstehende Veränderung der Altersstruktur der Omikron-Infizierten. Vorderhand gibt es in den ältesten Bevölkerungsgruppen relativ wenig Ansteckungen, was nicht nur mit der bei den Senioren besonders hohen Impfquote, sondern auch damit zu tun hat, dass das Virus die Alterstreppe noch nicht hochgeklettert ist. Dafür hat es in allen Wellen Zeit gebraucht – und es wird diesmal wohl noch mehr Zeit brauchen, weil das Infektionsgeschehen zu einem guten Teil von den Schulen angetrieben wird. Sollten in den kommenden Wochen ältere Menschen vermehrt von Ansteckungen betroffen sein, werden auch die Hospitalisierungen und die Todesfälle wieder nach oben gehen.
So hat der deutsche Virologe Christian Drosten diese Woche dargelegt, weshalb Deutschland zwingend bis Ostern ein relativ striktes Massnahmenregime aufrechterhalten muss. Aufgrund der viel zu niedrigen Impfquote seien die Immunitätslücken einfach zu gross, als dass man es wagen könne, das Virus ungehindert zirkulieren zu lassen. Die Ironie an der Sache: Die Impfquote in der Schweiz ist noch deutlich niedriger als in Deutschland. Der Bundesrat setzt weiterhin auf Spielerglück.
Deshalb sind stramme Patriotinnen jetzt auf das Best-Case-Szenario verpflichtet. Es sei nun mehr als genug mit «Panikszenarien und Vollkaskomentalität», bescheidet etwa der «Tages-Anzeiger» in harschem Ton. Was etwas weniger laut aus den Leitartikeln dröhnt: Momentan stabilisiert sich die Lage bei etwa 15 Todesfällen pro Tag. Wenn wir bis Ostern auf diesem Niveau bleiben, sind das noch einmal rund 1000 Covid-Opfer. In der Abwägung gegen maskenloses Fitnesstraining und sonstige Normalisierungen könnten sich sehr ernüchternde Schweizer Wertepräferenzen erneut bestätigen. Bloss keine «Vollkasko»!
Immerhin kann man der Landesregierung zugutehalten, dass sie die Öffnungseuphorie mehr öffentlich zelebriert als zur sofortigen Grundlage ihres Handelns macht. Trotz des Bekenntnisses zu Tempo spielt sie im Grunde auf Zeit. Schliesslich sollen, ausser der Aufhebung der Quarantäne- und der Homeofficepflicht, weitere Lockerungsschritte erst nach Konsultation mit den Kantonen beschlossen werden, für die erstaunlich lange zwei Wochen eingeplant wurden. Das erlaubt es dem Bundesrat, schon heute als Öffnungschampion aufzutreten, de facto aber noch einmal abzuwarten.
Nebst dem Gerangel um Öffnungsfahrpläne und Massnahmenabbau steht nun allerdings eine viel grundsätzlichere politische Frage im Raum. Was bedeutet die nun überall manisch wiederholte Forderung, wir müssten lernen, mit dem Virus zu leben? Was heisst das für die Zukunft: mit dem Virus leben? Die bisherigen Antworten sind einfach nur einfältig. Mit dem Virus leben, wird gesagt. Eigentlich gemeint ist aber: ohne Virus leben.
Hinter der «Mit dem Virus leben»-Parole steht wenig mehr als der Wunsch nach Rückkehr zum präpandemischen Status quo. Das ist sehr gut nachvollziehbar – und vollkommen unrealistisch.
Nicht nur deshalb, weil auch ein endemisch gewordenes Coronavirus auf unsere künftigen Lebensumstände voraussichtlich einen grossen Einfluss haben wird. Sondern auch deshalb, weil die Covid-Krise zu einem Kristallisationspunkt geworden ist für die Tatsache, dass unsere heutige Zivilisation in einem immer heftigeren Konflikt steht zu Entwicklungen, die sich in unserer physischen Umgebung vollziehen. Seien dies von der Globalisierung und der gegenseitigen Durchdringung biologischer Lebenssphären favorisierte Viren, sei dies das CO2-Niveau in der Atmosphäre, die Biodiversität, der bedrohte Lebensraum.
Der französische Umweltphilosoph Bruno Latour hat vor ein paar Monaten ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel: «Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown» veröffentlicht. Seine Grundthese bringt er auf eine überspitzte Formel, die in der heutigen Euphorie als nackte Provokation erscheinen muss, aber eine simple Wahrheit auf den Begriff bringt: «Einmal Lockdown, immer Lockdown.»
Was ist damit gemeint? Unser Verhältnis zu unserer Umwelt, sei es auf der molekularbiologischen Ebene mutierender Viren, sei es im globalen Zusammenhang zwischen unserem Wirtschaftssystem und der Klimaveränderung, hat sich enorm politisiert. Wir können nicht mehr an der Tatsache vorbeisehen, dass wir es nicht mit einer «Natur» oder einer «Umwelt» da draussen zu tun haben, die wir teils ausbeuten und teils schonen müssen, damit alles gut kommt. Natur und Umwelt werden von uns selber erzeugt – sie werden bestimmt von unserem Weltverhältnis.
Deshalb ist es eine im innersten Kern politische Frage, wie wir mit Viren oder der Klimaveränderung umgehen. Was ist die politische Lektion von Covid? «Man kann nicht mehr fliehen, aber man kann denselben Ort anders bewohnen», schreibt Latour.
Wir sollten uns nicht wundern über die extreme Heftigkeit der politischen Auseinandersetzung um die Pandemiemassnahmen. Und wir sollten nicht darauf bauen, dass diese Heftigkeit mit den Fallzahlen wieder abnehmen wird. Corona war der Moment, wo die künstliche Differenz zwischen Natur und Zivilisation auf flagrante Weise hinfällig wurde. Es ist gemäss Latour der definitive Eintritt unserer Politik ins Anthropozän, das heisst ins Erdzeitalter, das menschengemacht ist. «Allem Anschein nach», sagt der Philosoph, «eignet sich der vom Virus erzwungene Lockdown als Modell, uns peu à peu mit dem universellen Lockdown vertraut zu machen, den uns das aufbürdet, was ein sanfter Euphemismus als ‹ökologische Krise› bezeichnet.»
Was wir aus dem Lockdown mitnehmen sollten, das ist die Erkenntnis, dass wir aus unserer Biosphäre nicht ausbrechen können, dass wir eingesperrt bleiben in einem System von Rückkopplungen und Handlungsfolgen. Im grossen Termitenbau unserer Welterschliessung werden wir Gefangene bleiben – und mit den Insekten mehr gemeinsam haben, als uns lieb sein dürfte.
Mit dem Virus leben hiesse letztlich: sich auf diese Auseinandersetzung einzulassen und politische Antworten zu finden. Das ist eine epochale Herausforderung, und wir sind weit davon entfernt, uns ihr zu stellen. Auch wenn sie ein Segen sein wird: Maskenfreiheit wird daran nichts ändern.
Illustration: Alex Solman