Binswanger

Faites vos jeux!

Wie schlimm wird die Omikron-Welle? Wir wissen es nicht. Aber der Bundesrat setzt voll auf die optimistische Karte.

Von Daniel Binswanger, 15.01.2022

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Eine Sternstunde der Regierungs­kommunikation war die bundes­rätliche Presse­konferenz von dieser Woche nicht. Obschon die Landes­regierung davor die längste Zeit auf Covid-Tauch­station gewesen war und sich selbst angesichts der Ansteckungs­rekorde zu öffentlichen Inter­ventionen nicht bemüssigt sah. Wer Staats­chefinnen und Gesundheits­minister dabei beobachten wollte, wie sie die Nation über die Omikron-Krise unterrichten, der musste während Wochen das deutsche, österreichische oder französische Fernsehen einschalten. Auch deshalb wohl weckte die Presse­konferenz vom Mittwoch grosse Erwartungen. Zu sagen, sie seien nicht erfüllt worden, wäre eine Unter­treibung.

Das Problem ist nicht, dass die Regierung die Verkürzung von Quarantäne und Isolation bekannt gegeben hat. Dass einerseits der Nutzen der Quarantäne bei explosions­artig ansteigenden Fallzahlen stark abnimmt und dass andererseits die krankheits­bedingten Ausfälle im Erwerbs­leben ab einer gewissen Schwelle zu einem ernsthaften Problem werden für die Wirtschaft und die Grund­versorgung, ist eine Tatsache. Die meisten Länder entschliessen sich zu vergleichbaren Schritten.

Das Problem ist eher, dass die Verkürzung der Quarantäne, wie es die Taskforce im neuen wissenschaftlichen Update diplomatisch formuliert, «tendenziell zu einer Erhöhung der Ansteckungen beitragen» wird und dass es deshalb ratsam scheine, «zeitgleich mit möglichen Anpassungen der Isolations- und Quarantäne­bedingungen andere Anstrengungen zu treffen, um die Geschwindigkeit zu reduzieren, mit der die Ansteckungen in der Schweiz zunehmen». Dazu hat sich der Bundesrat nicht durch­ringen können.

Das bestehende Massnahmen­regime wird aufrecht­erhalten, zusätzliche Anstrengungen zur Abflachung der Welle werden aber erst gar nicht unternommen. Will heissen: Die Fallzahlen gehen durch die Decke – und der Bundesrat lässt es laufen.

Es kann ja sein, dass diese Strategie am Ende aufgeht, so wie sich die Regierung das vorstellt. Die Taskforce war sehr vorsichtig mit ihren Prognosen und berechnete je nach Kalibrierung von vier verschiedenen Parametern 24 verschiedene Szenarien, die eine Vorstellung geben von der sehr grossen Bandbreite, innerhalb deren sich die epidemiologische Entwicklung in den nächsten Wochen bewegen dürfte. Die Ungewissheit ist weiterhin riesig.

Bei den Hospitalisierungen kommen die Wissenschaftlerinnen je nach Szenario zur Prognose, dass auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle zwischen 1500 und 10’000 Menschen in einer Woche Spital­pflege brauchen werden. Die Einweisungen in Intensiv­stationen werden gemäss diesem Modell bei zwischen 80 und 300 pro Woche liegen. Das sind ungemütliche Perspektiven.

Auf dem dramatischen bisherigen Höhepunkt der Pandemie im November 2020 wurde gemäss Taskforce der Rekord von 1800 Hospitalisierungen in einer Woche aufgestellt. Die Reserven der Spitäler liegen nach Aussage des Bundes­rats momentan bei 4500 Betten. Will sagen: Es kann sein, dass die Schweiz mit ihren Spital­kapazitäten relativ gut durch die Omikron-Welle kommt. Es kann aber auch sein, dass diese Kapazitäten bei weitem nicht ausreichen werden und dass der Zwang entsteht, stark zu triagieren. Man ist verblüfft, mit welcher Unbekümmertheit unsere Landes­regierung bereit ist, dieses Risiko auf sich zu nehmen.

Es entsteht der Anschein, als sei der Bundesrat ein Club der Hasardeure. Faites vos jeux, rien ne va plus: Kann sein, dass wir Glück haben – kann sein, dass nicht.

Den Tiefpunkt der bundes­rätlichen Kommunikation stellte das Interview dar, das die SRF-Journalistin Nathalie Christen am Mittwoch mit Alain Berset führte. Auf die bedrohlichen Hospitalisierungs­zahlen angesprochen, entgegnete der Bundesrat schlicht: «Wir können mit Prognosen nicht arbeiten.» Natürlich sei es interessant, was die Experten sagen, aber der Bundes­rat entscheide kurzfristig und werde strengere Massnahmen nur ergreifen, falls es wirklich unausweichlich werde.

Die bange Frage ist: Wenn nicht mit wissenschaftlichen Prognosen, womit arbeitet die Landes­regierung dann? Bauch­gefühl? Kaffee­satz? Nur auf Sicht? Die Aussage des Gesundheits­ministers, man werde eben erst reagieren, wenn es nötig sei, ist wenig glaub­würdig. Falls die Spitäler zu überlaufen drohten, müsste der Bundesrat die Überlastung antizipieren und sehr schnell handeln, da verschärfte Massnahmen auf die Hospitalisierungs­zahlen frühestens nach über zwei Wochen einen Einfluss haben. Gemäss den Prognosen wird die Zahl der bestätigten Fälle jedoch schon in etwa drei Wochen ihren Peak erreichen – das heisst, das Zeit­fenster, um die Welle noch abzuflachen, dürfte sich schon sehr bald schliessen.

Aber hätte es überhaupt einen Sinn, das Infektions­geschehen mit kosten­intensiven Massnahmen abbremsen zu wollen, wenn Omikron doch so ansteckend ist, dass ein grosser Teil der Bevölkerung sich ohnehin infizieren wird? Es gäbe dafür exzellente Gründe – und nicht «nur» das Risiko, dass die Spital­kapazitäten mit einer zu steilen Welle nicht mithalten können.

Zum einen dürfte es sich lohnen, Zeit zu gewinnen, damit noch möglichst viele Bürger geboostert werden können, bevor sie mit dem Virus in Kontakt kommen. Dass der Booster den Immunitäts­schutz entscheidend erhöht, ist erwiesen. Die Schweiz hat auch bei der dritten Spritze gegenüber anderen Ländern einen grossen Rückstand. Nur rund 33 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind geboostert, ein im internationalen Vergleich sehr tiefer Wert. Allerdings erhalten momentan jeden Tag etwa 60’000 Bürgerinnen den Zusatz-Shot.

Die Erhöhung der Gesamt­impfquote ist schwierig, weil die bisher gar nicht Geimpften zum grössten Teil auch weiterhin nicht mitmachen wollen. Bei den Ungeboosterten ist das nicht der Fall: Wenn man die Omikron-Welle noch einmal drei Wochen lang signifikant abbremsen könnte, liesse das Zeit, um gegen 1,2 Millionen Menschen eine dritte Impfung zu geben. Die Hospitalisierungs- und Todesfall­raten dürften entsprechend sinken.

Ähnliches gilt für die Impfung der Kinder zwischen 5 und 12 Jahren. In den meisten Kantonen startete die Kinder­impfung in der ersten Januar­woche. Schon die erste Dosis verbessert die Immunität, aber erst nach der zweiten Impfung im Februar wird sich der Impfschutz vollständig aufbauen. Auch die Kinder bräuchten noch ein paar Wochen, um bei einer Ansteckung möglichst gut gewappnet zu sein.

Natürlich haben die unter 12-Jährigen ein sehr geringes Risiko, an Covid schwer zu erkranken, und obwohl es in den USA zu einem beunruhigenden Anstieg der Hospitalisierungen von Kindern gekommen ist, muss die Entwicklung in der Schweiz nicht zwingend dieselbe sein. Auch das wissen wir noch nicht. Sicher ist nur, dass es für die Kinder besser wäre, durch eine Impfung geschützt zu sein, bevor sie mit dem Virus in Kontakt kommen. So wie die Impf­kampagne und die Omikron-Welle zeitlich zueinander­stehen, wird für viele unter 12-Jährige die Impfung nun zu spät kommen. Der Bundes­rat scheint sich damit abzufinden.

Die Gefahr einer starken Zunahme der Long-Covid-Fälle schliesslich geht in die Entscheidungen erst gar nicht ein. Es kann zwar sein, dass Omikron deutlich seltener zu Long Covid führt als ältere Varianten. Aber auch das wissen wir nicht. Faites vos jeux!

Warum wurden nicht wenigstens Gross­veranstaltungen für drei, vier Wochen untersagt? Warum hat man nicht wenigstens Nacht­clubs und Fitness­center für kurze Zeit geschlossen? Warum haben viele Kantone offenbar gar keine Vorsorge getroffen, um auch bei schnell steigenden Fallzahlen über ein Minimum an PCR-Test-Reserven zu verfügen? Dass dies möglich gewesen wäre, hat Österreich demonstriert. Es entsteht der Eindruck, als hätten die Verantwortungs­träger ganz einfach kapituliert.

Alain Berset unterstrich in seinem Interview, der Bundesrat wolle auf reine «Symbol­massnahmen» verzichten. Das ist eine verstörende Aussage. Natürlich trifft es zu, dass man eine starke Ausbreitung des Omikron-Virus nicht abwenden kann und dass ein grosser Teil der Bevölkerung sich früher oder später damit infizieren wird. Aber dass die Massnahmen, die einem zu Gebote stehen, eine begrenzte Wirksamkeit haben, bedeutet nicht, dass sie nur symbolisch sind. Für Risiko­patientinnen wird es in den kommenden Wochen sehr schwierig werden, sich wirkungs­voll zu schützen. Die Frage, ob die Gesellschaft sie damit alleinlässt, ist alles andere als symbolisch. Die Antwort haben wir jetzt.

Illustration: Alex Solman

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