Wääääh!

Fermentiertes Haifleisch, stinkender Tofu, Affenhirn: Das gehört noch zu den harmloseren Dingen, die im schwedischen Museum of Disgusting Food serviert werden. Ekel ist eines der stärksten Gefühle überhaupt. Aber was wir zum Kotzen finden, hat oft wenig mit Geschmack zu tun – und viel mit Politik.

Eine Reportage von Jiayang Fan (Text), Tobias Haberkorn (Übersetzung) und Maisie Cousins (Bild), 01.01.2022

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Wenn Sie Glibber mögen … guten Appetit!

Im Frühling 2019 besuchte der 29-jährige belgische Journalist Arthur De Meyer das Disgusting Food Museum im schwedischen Malmö. 80 kulinarische Schrecken – Delikatessen und gewöhnliche Nahrungs­mittel aus 30 Ländern – sind dort zu besichtigen, zu jeder Führung gehört die Verkostung von einem Dutzend Speisen. De Meyer, Sohn eines Kochbuch­autors und einer Lebensmittel­fotografin, sagte mir, er sei immer schon ein experimentier­freudiger Esser gewesen. Stolz sei er auch darauf, dass er als Reporter nie die Fassung verliere. «Aber diese Verkostung war wie ein Krieg», meinte er. «Und zwar einer, in dem man völlig wehrlos ist, weil die Bomben unsichtbar in einem selbst explodieren.»

Der erste Angriff auf seinen Magen war eine isländische Spezialität aus Haifleisch, Hákarl. «Das schmeckte wie ein alter Käse, der drei Wochen in der Mülltonne lag und auf den sämtliche Hunde der Nachbarschaft gepinkelt hatten», sagte er. Es folgte eine Durian, eine stachlige Frucht von pudding­ähnlicher Konsistenz aus Südost­asien, die «wie ein mit Terpentin getränktes Knäuel stinkiger Sportsocken» gerochen habe. Am schlimmsten aber sei Surströmming gewesen, ein in Nord­schweden beliebter fermentierter Hering. «Wie ein Bissen von einer Leiche» habe der geschmeckt, so De Meyer.

De Meyer übergab sich zehnmal und schlug damit den vorherigen Museums­rekord von sechsmal. Freundlicher­weise werden die Eintritts­karten auf Spuck­beutel gedruckt, wie man sie aus Flugzeugen kennt.

Das Disgusting Food Museum öffnete seine Pforten im Jahr 2018. Die Idee dazu hatte der gebürtige Kalifornier Samuel West, ein heute 47-jähriger Psychologe, der seit über zwanzig Jahren in Schweden lebt. 2016 besuchte West in Zagreb das Museum der zerbrochenen Beziehungen. Während er die Überbleibsel gescheiterter Liebschaften fremder Leute betrachtete – Fotos von romantischen Treffpunkten oder einen Diät­ratgeber, den eine Frau von ihrem Verlobten geschenkt bekommen hatte –, kam West die Idee zu einem Museum, das sich gescheiterten Produkten und Dienst­leistungen widmet. Ein Jahr später öffnete er in Helsingborg das Museum des Scheiterns, dessen Botschaft eindeutig war: Fehlschläge sind die Mutter des Erfolgs. Das Museum war ein durchschlagender kommerzieller Erfolg, zog Besucher aus aller Welt an, sorgte international für Schlagzeilen und war bereits an verschiedenen Orten zu sehen.

Zur Autorin

Jiayang Fan ist gebürtige Chinesin und im Alter von acht Jahren in die USA eingewandert. Als Autorin schreibt sie regelmässig über Ernährung, aber auch über politische und kulturelle Themen. Seit 2016 gehört sie zum Autorinnen-Team des US-Magazins «The New Yorker». Dort ist dieser Beitrag im Mai 2021 auf Englisch erschienen.

Schon 2018 machte sich West an sein nächstes Projekt. Auf dieses kam er nach der Lektüre eines Artikels, der erklärte, der Klimawandel liesse sich durch eine Verringerung des Rindfleisch­konsums bremsen. Für dieses schwerwiegende Problem gebe es also eine einfache Lösung, behauptete der Beitrag: den Verzehr eiweiss­reicher Insekten. Doch die westliche Welt lehne diese Vorstellung aus Ekel ab. Erfahrungen des Scheiterns mögen die menschliche Innovations­kraft vorangetrieben haben, dachte West, das Empfinden von Ekel jedoch schien die Menschheit zu blockieren. Liess sich daran nichts ändern? «Ich wollte einfach wissen: Warum stehen mir schon die Haare zu Berge, wenn ich von bestimmten Speisen nur höre?», sagte er mir in einem Zoom-Meeting.

Die Planung des Museums begann mit einer Grundsatz­frage: Was gilt überhaupt als eine Speise? West wandte sich an seinen Freund Andreas Ahrens, einen ehemaligen IT-Unternehmer und Foodie, der ihn bei der Auswahl der Ausstellungs­stücke beraten sollte. Einiges schlossen die beiden Männer von vornherein aus, Scherz­geschenke mit künstlichen Geschmacks­stoffen etwa – zum Beispiel die Barf Soda von Rocket Fizz (Limonade, die nach Erbrochenem schmeckt) und Jelly Beans mit Popel­geschmack. Ebenso Novel Foods, das heisst neuartige Lebensmittel wie frittierte Oreo-Kekse oder ein polnisches Bier, das aus vaginalen Hefepilzen gebraut wird.

Ein Wettstreit im Übergeben

In einer ersten Vorauswahl entschieden sie sich für 400 Gerichte. Dann stellten sie die endgültige Sammlung nach vier Kriterien zusammen: Geschmack, Konsistenz, Geruch, Produktions­weise. Foie gras fiel gewissermassen durch den Geschmacks-, Konsistenz- und Geruchs­test, in dieser Hinsicht empfanden West und Ahrens das Gericht nicht als bedenklich. Allerdings brachte ihm seine Produktions­weise einen Platz im Museum ein, denn für Foie gras werden Gänse oder Enten in der Regel so lange zwangs­ernährt, bis ihre Leber auf ein Zehnfaches der ursprünglichen Grösse anschwillt. (Laut Ahrens schwören viele Besucherinnen, nie wieder Foie gras zu essen, wenn sie das erfahren.)

Die Selektion der Speisen war ein heftiger Wettstreit. West erwies sich als der grössere Schwächling: Er musste sich so oft übergeben, dass er irgendwann nicht mehr mitzählte. Ahrens ekelte sich zwar vor vielen Gerichten, übergeben musste er sich aber erst nach einem Balut, einem auf den Philippinen verbreiteten Snack: ein angebrütetes Ei mit einem Vogel­embryo, der direkt aus der Schale gegessen wird, mitsamt Federn, Schnabel und Blut.

Nachdem die beiden eine endgültige Auswahl getroffen hatten, mussten sie sich mit Zoll- und Liefer­bestimmungen auseinander­setzen. Svið, ein halbierter und gekochter Schafs­kopf – in Island ein traditionelles Gericht –, war laut Ahrens «aus logistischen Gründen» nicht zu beschaffen. Deshalb ziert nun ein Foto eines solchen Schafskopfs einen Teller mit Kartoffel­brei und püriertem Wurzel­gemüse. Dasselbe gilt für den Ortolan, einen fast ausgestorbenen französischen Singvogel. Für seine Zubereitung wird er bis zu drei Wochen in einer dunklen Kiste gehalten (zwei Löcher dienen der Zufuhr von Wasser und Rispenhirse, an der er sich überfrisst) und dann in Armagnac ertränkt. In der EU ist dies inzwischen verboten.

Anstelle des rohen Affenhirns, das angeblich auf kaiserlichen Banketten in China serviert wurde, steht im Museum stellvertretend eine Art Holztisch. Auf diesem sollen in China die lebenden Affen fixiert worden sein, während ihre Schädel aufgeschnitten und ausgelöffelt wurden. («Ob es sich hierbei um eine urban legend handelt oder ob dies in China immer noch so gegessen wird, ist unklar», steht auf der Beschriftung.)

Selbst die Speisen, die in echt im Museum ausgestellt werden, stellten die Gründer vor Heraus­forderungen. Um Cuy herzustellen, ein peruanisches Gericht, musste sich West einige Youtube-Videos zu Gemüte führen, in denen Meer­schweinchen gehäutet und gekocht wurden. «An diesem Tag habe ich meine Frau und meine Kinder weggeschickt», erinnert er sich. «Es fühlte sich so falsch an, fast schon kriminell.»

Für einen südkoreanischen Wein, zu dessen Zutaten «frische Kinder­fäkalien» gehören, musste Ahrens die Exkremente seiner achtjährigen Tochter sammeln und mit Reiswein fermentieren. Das Endprodukt wird in einer Karaffe im Museum ausgestellt, doch Ahrens konnte bisher nicht den Willen aufbringen, es zu probieren.

Stinkwanzen und zermatschte Fliegen

Bei Tripadvisor steht das Disgusting Food Museum auf Platz eins einer Liste von 113 Unternehmungen in Malmö, der drittgrössten Stadt Schwedens. Die Besucher wundern sich oft, dass das Museum im Erdgeschoss eines Einkaufs­zentrums zwischen einem Möbel­geschäft und einer Kunstgalerie liegt. Laut Museums­direktor Ahrens, der mich via Zoom durch das Museum führte, liegen die geruchs­intensivsten Speisen unter Glasglocken. Die meisten Gerichte – Kale Pache zum Beispiel, eine iranische Suppe aus Schafs­füssen und -köpfen, die eine Nacht lang gekocht wird, um ihren Geruch zu eliminieren – standen in Schüsseln oder Töpfen auf weissen Tischen, die von Bogen­lampen beleuchtet wurden.

Einige Gerichte werden wöchentlich frisch zubereitet, andere, etwa der Kotwein, stehen dort etwas länger. Das Museum wirkt mit seinen hellen und schmucklosen Wänden so steril wie ein Labor. Jedenfalls so lange, bis Ahrens auf eine Tafel mit der Aufschrift «2 Tage seit dem letzten Brechanfall» zeigte. «Das ist unsere Resultat-Anzeige­tafel», sagte er grinsend.

Wir schauten uns die Ausstellungs­stücke an; neben jedem hing ein Schild, auf dem in Englisch und Schwedisch etwas zu Geschichte und Herkunfts­land des Gerichts erklärt wurde. Erste Station: getrocknete Stinkwanzen aus Zimbabwe, die eine vage Ähnlichkeit zu Kresses­prossen aufweisen. Dann zeigte er mir Kungu-Kuchen (Ostafrika), eine Nachspeise aus Millionen zermatschter Fliegen; gebratene Heuschrecken (Israel), das einzige Insekt, das in der Thora als koscher gilt; Frosch­saft (Peru), ein schaumiges grünes Getränk aus Fröschen und Wachtel­eiern; und Mauswein (China), ein in einer Kanne mit 200 Mäuse­babys aufgegossener Reiswein.

Als Letztes führte mich Ahrens zu einer Wand mit roten und gelben Konserven­dosen, die an Andy Warhol erinnerte. «Unser begehrtester Ort für Selfies», sagte er und fügte hinzu, dass die Dosen, die allesamt mit dem fermentierten Hering namens Surströmming gefüllt waren, öfter zu Brech­anfällen geführt haben als jedes andere Lebens­mittel des Museums. («Surströmming gilt als eine der am schlimmsten stinkenden Speisen der Welt», steht auf einem Schild.)

In diesem Teil der Ausstellung gibt es auch ein Geruchs­glas, dessen Deckel die Besucher abnehmen können. Vor der Pandemie war eines der Highlights des Museums eine Fotokabine, die den Besucherinnen verschiedene Gerüche – etwa von Durian oder stinkendem Tofu (einem fermentierten Sojabohnen­quark) – ins Gesicht blies und dabei ihre Gesichts­ausdrücke einfing. «Instagram», erklärte Ahrens.

Wenn wir doch wie Koalas wären

Der Begriff disgust fand vor etwa 400 Jahren Einzug in die englische Sprache und leitet sich vom Altfranzösischen desgouster ab, «jemandem den Appetit verderben». Der deutsche Begriff «Ekel» ist seit dem 16. Jahr­hundert belegt und leitet sich vom Früh­neuhochdeutschen «ekel» bzw. «eckel» her, was «Gräuel» bedeutet. Erst 1872 wurde der Ekel als einer wissenschaftlichen Betrachtung würdig erachtet: Der Natur­forscher Charles Darwin beschrieb ihn in seinem Buch «The Expression of the Emotions in Man and Animals» («Der Ausdruck der Gemüts­bewegungen beim Menschen und den Tieren») als Reaktion gegenüber «etwas Widerlichem, vor allem in Zusammen­hang mit dem Geschmacks­sinn (…), ausserdem gegenüber allem, was ein ähnliches Gefühl hervorruft über Geruch, Berührung oder den Anblick». Darwin stellte die Theorie auf, dass Ekel eine grundlegende menschliche Emotion ist – wie auch Wut, Angst oder Traurigkeit – und er durch einen universellen «Ekel­gesichts­ausdruck» gezeigt wird.

Wenn man jemandem ein Glas saurer Milch unter die Nase hält, wird er höchst­wahrscheinlich die Nase rümpfen, den Mund verziehen und durch seine zusammen­gebissenen Zähne ein Geräusch wie «bah» oder «wäh» hervor­pressen. Wenn man ihn nun zwänge, die Milch zu trinken, würde er vermutlich den Mund weit öffnen, die Stirn verkrampfen und die Oberlippe zurückziehen, um nicht allzu stark einzuatmen. Kurzum: Er würde wie das Kotz-Emoji aussehen (all diese Reaktionen gehen dem Erbrechen ja meist voraus).

Es gibt einen Grund dafür, dass wir bestimmte Nahrungs­mittel abstossend finden. Wenn Steinzeit­menschen sich mit verrottendem Fleisch oder bakteriell verseuchten Exkrementen vollgestopft hätten, hätten sie nicht lang überlebt. «Das Leben wäre viel einfacher, wenn wir alle Koalas wären», sagt Daniel Fessler, ein evolutionärer Anthropologe an der University of California, Los Angeles. Koalas ernähren sich ausschliesslich von Eukalyptus. Grosse Diskussionen über das Abend­essen gibt es bei ihnen also nicht.

Doch Menschen sind in der Evolution viel weiter voran­gekommen als Koalas, und das ist auch unserer Ernährung geschuldet. Fleisch­konsum führte dazu, dass unsere Verdauungs­trakte sich verkleinerten und unsere Gehirne im Verhältnis zum Körper enorm gross wurden, denn die Tiere, die wir essen, hatten die wichtigen Nährstoffe bereits aus der Natur extrahiert. Allerdings hat der Fleisch­konsum unsere Spezies auch in das Allesfresser-Dilemma verwickelt: Wir brauchen abwechslungs­reiche, flexible Kost, müssen Neuem aber zugleich sehr vorsichtig begegnen, denn wir könnten versehentlich daran sterben.

Evolutionspsychologinnen nutzen oft das Schweizer Taschen­messer als Analogie für den menschlichen Verstand: Allzweck­werkzeuge, mit der sich die Unberechenbar­keit der Welt bezwingen lässt. Der Ekel ist hierbei nur eine von vielen Klingen. Wenn man sie nicht abstumpfen lässt, hilft sie einem, Krankheiten zu vermeiden. Schärft man sie jedoch zu sehr, dann läuft man Gefahr, nicht genug Kalorien zu sich zu nehmen. «Die Evolution hat diese Abwägung so optimiert, dass das wichtigere Ziel Vorrang hat», sagt Fessler. Wenn man am Verhungern ist, stumpft die Klinge ab: Es wird wahrscheinlicher, dass man etwas zu sich nimmt, was man sonst eklig fände, schimmelnde Essens­reste zum Beispiel. (Schon Cervantes schrieb in «Don Quijote»: «Das beste Gewürz von der Welt ist der Hunger.») «Der Kernpunkt hierbei ist, dass der Mensch diese Abwägungen nicht bewusst treffen muss», sagt Fessler. Diese Arbeit übernehmen internalisierte psychologische Mechanismen.

Die Kakerlake im Saftglas

Der Ekel mag als System zur Ablehnung von Nahrung entstanden sein, sagt Paul Rozin, Psychologie­professor an der University of Pennsylvania, «er hat sich aber zu einer Art Brille entwickelt, durch die wir die soziale und moralische Welt wahrnehmen». Rozin ist ein Pionier in den sogenannten disgust studies, einem Zweig der Psychologie, der sich mit dem Ekel beschäftigt. Für sein Lieblings­experiment lässt Rozin eine Kakerlake in ein Glas mit Saft fallen. Natürlich weigern sich die meisten Menschen, den Saft zu trinken, und begründen das mit dem Schmutz an der Kakerlake. «Erstaunlich ist aber, dass die Leute den Saft auch dann nicht trinken wollen, wenn man die Kakerlake vorher desinfiziert und überzeugend dargelegt hat, dass der Saft harmlos ist», sagt Rozin. Der Saft sei unwiderruflich verunreinigt.

Am Konzept der Verunreinigung lässt sich erkennen, wie sich die Biologie in kulturelle Systeme einschreibt. Sowohl im Islam als auch im Judentum ist der Verzehr von Schweine­fleisch untersagt, und auch andere Kulturen verschmähen gewisse Fleisch­sorten. Diese Tabus mögen auf Ekel beruhen (Schweine gelten als schmutzig, rohes Fleisch ist oft schleimig und unappetitlich, bei falscher Zubereitung kann es zu Krankheiten führen). Ekel kann jedoch durch Tabus gestärkt und aufrecht­erhalten werden. Libanesische Christen dürfen zwar Schweine­fleisch essen, doch viele tun es nicht, was sicherlich mit den Speise­geboten ihrer Mitbürgerinnen in diesem mehrheitlich muslimischen Land zusammenhängt.

Wie ein Dialekt oder ein bestimmter Kleidungs­stil können auch Nahrungs­tabus die Zugehörigkeit zu einer Gruppe unterstreichen. Menschen haben sich in Stämmen entwickelt, und Nahrungs­tabus halfen dabei, Grenzen zwischen den Gruppen zu ziehen. In der Vorstellung des frühneuzeitlichen Philosophen Thomas Hobbes hatte ein in sich geschlossener Stamm gute Aussichten auf Vorherrschaft. Das wissen Schimpansen ebenso gut wie Teenager-Cliquen. Kollektive Macht­demonstrationen schüchtern Einzelgänger ein, die sich dann wie Verlierer vorkommen.

Es sei kein Zufall, dass wir Minderheiten mit uns unbekannten Bräuchen argwöhnisch betrachten, sagt Mark Schaller, Sozial­psychologe an der University of British Columbia. Unser Verhaltens­immunsystem sei ebenso wie unser biologisches Immun­system darauf ausgelegt, Gefahren auszumachen. Es könne aber auch übersteuern. Schaller vergleicht das mit einem Rauchmelder: «Nicht ohne Grund ist das System überempfindlich», sagt er. «In der Wildnis passiert ja nichts Schlimmes, wenn man einmal eine Gefahr überschätzt. Aber wenn man sie unterschätzt, dann stirbt man.»

Der grosse Einfluss des Hungers

Als ich in den 1980er-Jahren in Chongqing, einer Stadt im Südwesten Chinas, aufwuchs, bestimmte das Essen die Regeln und die Sprache des Daseins. Etwas zu essen zu bekommen, hiess, dass man geliebt wurde, und zu leben hiess, dass man die Welt schmeckte. (Im Chinesischen enthält das Schrift­zeichen für «Leben» 生活 das Zeichen für «Zunge» 舌头.) Ich bin auf einem Militär­gelände aufgewachsen – meine Mutter war beim Militär –, und die Erwachsenen dort hatten die Angewohnheit, den Kindern in den Po zu zwicken und sie als «schöne, saftige Fleisch­stücke für Jiaozi-Dumplings» zu bezeichnen. Viele dieser Erwachsenen, auch mein Vater, hatten die schlimmste Hungersnot der Geschichte durchlebt, während deren einige Menschen dem Kannibalismus verfielen. Als ich mich im Alter von vier Jahren fragte, ob Menschen­fleisch wohl so ähnlich schmeckt wie Schweine­fleisch, kam mir dieser Gedanke nicht ekelhaft vor.

Als meine Mutter als junge Rekrutin einen Getreide­speicher bewachen musste, ass sie die Ratten, die dort herum­streiften, und über Jahre hinweg ass sie auch Reiskörner vom Boden – andere Erwachsene sagten mir, das dürfe ich niemals tun. Ich war die Erste in meiner Familie, die keine Schmerzen vor Hunger leiden musste, und das hiess, dass ich einer epochalen Veränderung beiwohnte, die einem Kultur­wandel glich. Dennoch hing die Bedrohung des Mangels über unseren Köpfen wie die baumelnden Tierkadaver auf dem dörflichen Frischmarkt.

Auf solchen Märkten tauschte meine Mutter ihre zusätzlichen Getreide­marken, die sie regelmässig bekam, seit sie Militär­ärztin geworden war, gegen Eier ein, eine teure Protein­quelle in der Ernährungs­pyramide. Kurz vor meiner Einschulung gab meine Mutter mir zum Frühstück keinen Reisbrei und kein eingemachtes Gemüse mehr – das assen sie und meine Grossmutter immer –, sondern eine eigens zubereitete «Hirnnahrung», wie sie sagte: warme, dickflüssige Milch, in der Tropfen rohen Eigelbs schwammen. Mein Schweizer Taschen­messer wurde geschärft. Ekel stieg in mir auf, wurde aber von zwei anderen lebens­notwendigen Klingen unterdrückt: von der Scham, undankbar zu wirken; und von der Angst, nicht gehorsam zu sein. Zwei unendlich scheinende Jahre lang habe ich jeden Morgen diese Hirnnahrung zu mir genommen.

Dennoch hinterliess der Ekel erst 1992 einen bleibenden Eindruck in meiner Psyche, als ich im Alter von acht Jahren mit meiner Mutter nach Amerika flog und mir die erste nicht­chinesische Mahlzeit meines Lebens serviert wurde. In einer mit Alufolie bedeckten Schale lag etwas, das aussah wie Jiaozi, aber quadratisch war. Ich biss in eine der Teigtaschen und erwartete eine Fleisch­füllung. Stattdessen fand ich darin eine schmierige, cremige Substanz. Es musste sich um eine Nachspeise handeln. Warum sonst würden diese quadratischen Dinger in einer dicken weissen Sauce schwimmen? Das Gericht widerte mich an, doch ich ass es auf, denn so war es mir mein Leben lang eingebläut worden. Wochenlang drängte sich der Geschmack immer wieder in meine Gedanken und liess mich würgen. Jahre später erfuhr ich, dass es sich bei diesen seltsamen Quadraten um Käseravioli gehandelt hatte.

Ein weiteres Rätsel stellten für mich Oliven dar. In Chongqing hatte ich sie als getrockneten oder geräucherten feigen­artigen Snack mit süss-säuerlicher Note kennengelernt. Als ich in den USA eine solche dunkelgrüne Kugel auf meine Zunge legte, spuckte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas Essbares in meine Hand zurück. Salzig und ölig, das war nicht, was ich erwartet hatte. Meine Reaktion umfasste sowohl den Ekel als auch das Gefühl, dass ich hintergangen worden war.

Pizza? Dann lieber das Bein eines Ochsenfroschs

Wenn man gerade in ein anderes Land eingewandert ist, ist man sozusagen dauerhaft in einem Disgusting Food Museum gefangen, verwirrt von den Speisen, die man nicht kennt, und verunsichert von jenen, die man doch zu kennen glaubte. Die festen, krümelig-weissen Blöcke, die wie Tofu aussehen, heissen nun Feta. Die Vanille­sauce, die verdorben schmeckt und über Kartoffeln gegossen wird, nennt sich Sour Cream. Irgendwann lässt das Gefühl des Betrugs nach. Ekelhafte Speisen werden zum alltäglichen Menü, in der Cafeteria, aber auch am eigenen Abendtisch.

Vor kurzem traf ich mich mit ein paar asiatisch-amerikanischen Freundinnen in einem Restaurant im New Yorker Stadtteil Queens. Wir assen Hot Pot, ein dem Fondue ähnliches Gemeinschafts­gericht, bei dem Zutaten in einen geteilten Topf voll kochender Brühe in der Tischmitte getaucht werden. Als ich ankam, standen bereits Schüsseln mit Stücken von geschnittenen Schweins­arterien und -därmen, Kuhmagen, Entenfüssen und blassrosa Gehirnen von unbestimmter Herkunft um einen blubbernden Bottich mit Brühe, Gewürzen und Chiliöl. All das hätte ohne Weiteres in einer westlichen Enzyklopädie für ekelhaftes Essen einen Platz gefunden. Doch jeder an diesem Tisch wusste, dass uns der Genuss einte, mit dem wir diese Eingeweide und Innereien verspeisen würden.

Ich fragte meine Freunde, ob sie schon einmal unvergessliche Erfahrungen mit ekelhaftem Essen gemacht hätten. Fast jeder von ihnen nannte ein Milch­produkt, das sie erstmals in den USA probiert hatten. Eine meiner Freundinnen, die aus der chinesischen Stadt Chengdu stammt, erinnerte sich an den kreidigen Geschmack eines Protein­drinks und machte dabei den typischen Ekel­gesichts­ausdruck.

«Meine erste Pizza war schrecklich», meinte Alex, ein 44-jähriger Netzwerk­techniker. Es sei eine Pizza Margherita gewesen, und die kleinen weissen Burrata-Kleckse habe er für frisch Erbrochenes gehalten. «Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Leute das wirklich regelmässig essen», sagte er. «Aber die Amerikaner meinten, das sei ein weitverbreitetes Gericht», erzählte er weiter – während er in das muskulöse Bein eines Ochsen­froschs biss.

«Und dann?», fragte ich.

«Dann hab’ ich mich eben dran gewöhnt.»

Knapp 30 Jahre zuvor hatte ich fast dasselbe Erlebnis mit einer Pizza. Sich anzupassen bedeutet, dass man neue Sprachen und Regeln lernt – auch kulinarische. Wenn man nur die Wahl zwischen Auslöschung und Anpassung hat, entscheidet man sich natürlich für Letztere. Das galt für Steinzeit­menschen ebenso wie für mich als junge, entwurzelte chinesische Einwanderin in den USA. Einer der vielen erstaunlichen Aspekte unseres Geschmacks­sinns ist seine Anpassungs­fähigkeit. Man erwirbt neue Geschmäcke, die sich in die Palette der eigenen kulinarischen Vorlieben aufnehmen lassen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, seit wann mir westliche Oliven gut schmeckten, doch der Übergang fühlte sich ganz natürlich an: Mit jeder neuen Erfahrung kommt ein neuer Farbton auf der persönlichen Palette hinzu.

Und dann schmeckt es besser, als es aussieht

Kurz vor meinem digitalen Rundgang im Disgusting Food Museum erhielt ich ein gekühltes Paket. Darin waren in Ziegen­magen gereifter Käse, fermentiertes Haifleisch, Surströmming und einige andere Ausstellungs­stücke. Ich richtete das Essen auf kleinen Tellern um meinen Laptop an und startete Zoom, wo mich Museums­direktor Andreas Ahrens bereits erwartete. Bevor ich mir den Bauch vollschlug, sollte ich prüfen, ob alle Produkte ihre trans­atlantische Reise gut überstanden hatten. «Vielleicht mal dran riechen, um sicherzugehen, dass nichts verdorben ist?» Moment mal, sagte ich, soll das nicht alles schlecht riechen? Er lachte. «Tja, dann viel Glück.»

Ich öffnete ein Päckchen mit deutschem Sauerkraut­saft. Seine faulige graue Farbe liess mich an Abwasser denken. Als Ermunterung sagte Ahrens: «Die wenigsten Leute probieren gar nichts, und die meisten probieren mehr, als sie vorher gedacht hätten.» Zur Vorbereitung auf die Verkostung hatte ich aufs Frühstück verzichtet, und mein Magen knurrte so laut, dass ich mich zu einer Entschuldigung genötigt sah.

Der Saft schmeckte kühl und erfrischend, wie eine Mischung aus Essig­gurken und Kimchi. Als Nächstes war Bagoong dran, eine fermentierte Garnelen­paste von den Philippinen, die geschmacklich so sehr meiner geliebten chinesischen Fischsauce ähnelte, dass ich sie löffelweise über meinen Reis vom Vortag kippen wollte. Beim Hákarl angekommen, dem isländischen Hai, schien es erst richtig loszugehen. Der Ammoniak­geschmack liess mich zurückzucken, doch die zähe Konsistenz erinnerte mich angenehm an Tintenfisch.

Ich machte mit den Insekten weiter, zuerst probierte ich Grashüpfer aus dem mexikanischen Oaxaca, die mit getrockneten Chilis mariniert waren. Köstlich. Knusprig, sauer und würzig, wie Tortilla-Chips mit Limetten­geschmack. Eine Tüte mit einer Mischung getrockneter Insekten enthielt unter anderem Maulwurfs­grillen und Sago-Würmer. Das Schwierigste daran war zu wissen, dass man etwas ass, was man zuletzt hatte über die Badezimmer­fliesen krabbeln sehen.

Ich stellte fest, dass die Schmackhaftig­keit eines Insekts ganz wesentlich von seiner Knusprigkeit abhing: Diese Grillen hätten auch als salziges Knusper­müesli durchgehen können. Die Würmer, die wie unförmige Pflaumen aussahen, waren dichter und nussiger. Alles schmeckte weitaus besser, als es aussah.

Während ich so schnupperte, kaute und gelegentlich auf dem Bildschirm meine Gesichts­züge entgleisen sah, fiel mir De Meyer wieder ein, der vom kulinarischen Pech verfolgte belgische Reporter. Ich kam mir vor, als würde ich schummeln, weil ich keinen Ekel verspürte. Das Tausend­jährige Ei aus China – ein in Lehm haltbar gemachtes Ei von sumpfiger, blaugrüner Farbe – ist schon seit meiner Kindheit mein Comfort-Food.

Beim Gedanken an stinkenden Tofu läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Die Durian ist da schon etwas schwieriger. Ihren Geruch, den manche als eine Mischung aus Terpentin und Zwiebeln beschreiben, mag ich nicht. Aber ich habe in meinem Leben schon so viele Nachspeisen mit Durian­geschmack gegessen, dass ich den Geruch ganz automatisch vom Geschmack trennen kann, der zugleich cremig, süss und herzhaft ist, wie eine Butter aus Schnittlauch, Knoblauch und Caramel.

Fischpökel­brühe beendet Mietverhältnis

Jetzt war der Surströmming an der Reihe, den Ahrens vakuum­verpackt hatte. Mit einem Teelöffel schaufelte ich einen feuchten, gräulichen Bissen heraus. Er war so salzig, dass er schon bitter schmeckte. Doch es war der Geruch – nach in Abwasser eingelegten, verrotteten Eiern –, der mich mit dem ganzen Oberkörper zusammen­zucken liess. Laut Ahrens ist der Gestank des Fischs so widerwärtig, dass einmal einer Mieterin in Deutschland fristlos gekündigt worden war, nachdem sie Surströmming im Treppen­haus verteilt hatte. Sie habe damit die Nachbarn ärgern wollen, mit denen sie Streit hatte. (Die Frau zog gegen ihre Vermieterin vor Gericht, doch der Kündigung wurde stattgegeben, weil «der üble Geruch der Fischpökel­brühe das für die Mitbewohner des Hauses zumutbare Mass bei weitem übersteigt».)

Ahrens meinte, dass er von allen Speisen der Verkostung den Geruch von Surströmming am ekel­haftesten findet. Dass zwei Menschen – ein Schwede und eine Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln – in dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit spürten, fand ich befriedigend. Der Ekel konnte, zumindest in diesem Fall, eher verbinden als spalten.

Bei der letzten Speise handelte es sich um Lakkris Djöflar, eine Salmiak- oder Salz-Lakritze, wie sie in Skandinavien gerne gegessen wird. Ein Kinder­spiel, dachte ich. Ich habe nicht viel für Lakritze übrig, doch sein Kräuter­geschmack erinnert mich immer an die medizinischen Suppen, die meine Mutter mir als Kind zubereitete. Kaum hatte ich mir die Süssigkeit jedoch in den Mund gesteckt, spuckte ich sie so heftig wieder heraus, dass sie einen klebrigen Fleck auf meinem Bildschirm hinterliess, auf dem Ahrens’ lächelndes Gesicht zu sehen war.

Neben ihm stand eine Schüssel voll von dieser abscheulichen Süssware. Er ass zwei davon, und während er kaute, entfuhr ihm ein zufriedenes «Mmm». «Eins meiner Lieblings­essen», sagte er.

«Aber das ist doch furchtbar salzig und bitter?», fragte ich ungläubig und klammerte mich an mein Wasserglas. Als ich die Süssigkeit im Mund hatte, fühlte ich mich, als würde ich in brackigem Meerwasser ertrinken.

«Deshalb ist es doch so gut», antwortete er. «Die Menschen mögen meist die Speisen, mit denen sie aufgewachsen sind.»

Es braucht Mut zur Horizont­erweiterung

Nach der Verkostung rief ich den belgischen Reporter De Meyer an. Sein Museums­besuch war zwei Jahre her, und soweit ich es über Zoom beurteilen konnte – er fläzte sich auf dem Sofa und rauchte eine Camel nach der anderen –, hatte er sich von der Erfahrung weitgehend erholt. «Ich bin froh, dass ich das erleben durfte», sagte er. Es sei «mal was Neues» gewesen, seine Komfort­zone auf diese Weise zu verlassen, auch wenn dabei ein gutes Dutzend Spuck­tüten zum Einsatz kamen.

Nach einer Pause erzählte er mir, wie er für seine sechs­jährige Nichte kurz zuvor Zwiebeln in Miso-Butter angebraten hatte. «Zuerst fand sie das ganz furchtbar», meinte er. Doch er sagte immer wieder, dass es nichts Komisches sei, und ermutigte sie so, es zu probieren. Beim vierten Bissen war sie begeistert. «Deshalb war der Besuch im Museum für mich ein Privileg. Die meisten Menschen brauchen zehn Anläufe, um etwas Neues zu mögen. Aber wie will man seinen Horizont erweitern, wenn man nirgendwo anfängt? Wie sonst hätte meine Nichte herausfinden sollen, dass sie Miso-Butter total gern mag?»

Andreas Ahrens’ Ziel ist, solche Erfahrungen grossflächig möglich zu machen. Seit kurzem ist er der Direktor des Disgusting Food Museum. 2021 hat er in Bordeaux und in Berlin je einen Ableger eröffnet, wo es orts­spezifische Speisen gibt, zum Beispiel Berliner Schnitzel aus Kuheuter.

Das Museum in Malmö kommt bei Touristinnen meist gut an, doch viele Menschen sehen das Konzept kritisch und erheben den Vorwurf, es sei kulturell unsensibel, wenn nicht gar offen rassistisch. In einem Artikel aus dem Jahr 2018 behauptete Lucas Kwan Peterson, Kolumnist der «Los Angeles Times», das Museum stärke Vorurteile, indem es Bräuche aus anderen Ländern vereinfache und ihre Speisen auf Klischees reduziere. Das Wort disgusting im Namen des Museums zeige an, dass dies ganz bewusst geschehe.

Als ich Ahrens fragte, warum er sich für das Wort disgusting, «ekelhaft», entschieden hatte und ob er auch über einen anderen Namen für die beiden neuen Museen nachgedacht habe, nickte er. «‹Ekelhaft› ist ein streitbares Wort, aber wenn wir es ‹ungewöhnlich› oder ‹seltsam› genannt hätten, wäre das einfach nicht dasselbe.»

«‹Ekelhaft› erregt ja an sich schon Aufmerksamkeit», meinte ich.

«Ganz genau», sagte er. «Und unser Museum ist auf Publikum angewiesen. Sonst geht es pleite.»

«Das Museum will beides haben: erst absichtsvoll provozieren und sich dann die Hände in Unschuld waschen», schrieb Peterson. Auch jene, die der offiziellen Absicht des Museums glauben, zweifeln, dass sie sich verwirklichen lässt. Für den Kommunikations­wissenschaftler Casey R. Kelly, den Autor des Buchs «Food Television and Otherness in the Age of Globalization», liegt das Problem von Kultur­institutionen darin, dass ihre Betreiberinnen nicht immer kontrollieren können, was nach aussen kommuniziert wird: «Einerseits führt das Museum seine Besucher an unbekannte Speisen heran, andererseits vollführt es deren kosmo­politische Sterilisierung.» Speisen würden aus ihrem kulturellen Kontext gerissen und dann in einem Museum ausgestellt, das mitzählt, wie viele Menschen sich ihretwegen übergeben müssen.

Ekel versus Heimat­gefühle

Im Disgusting Food Museum kam ich mir zugleich wie eine Touristin und wie eins der Ausstellungs­stücke vor. 29 der 80 ausgestellten Gerichte kommen aus Asien, 12 davon aus China. Obwohl Ahrens daran erinnerte, dass Asien gemessen an seiner Einwohner­zahl im Museum unter­repräsentiert ist, versetzte es mir einen Stich, dass dort stinkender Tofu, Tausend­jährige Eier und andere Grund­nahrungsmittel aus meiner Kindheit als «ekelhaft» gebrandmarkt wurden. All diese Speisen lagen zu diesem Zeitpunkt in meinem Kühlschrank. Schildkröten­suppe und Hunde­fleisch, ebenfalls Teil der Ausstellung, hatte ich in Chongqing gegessen.

Auch wenn ich so etwas vermutlich nicht noch einmal essen möchte, waren sie mir von meinen Urlaubs­reisen in die Heimat gut bekannt. Gleichzeitig waren mir Mauswein, Affenhirn und Tongzidan (im Urin kleiner Jungen gekochte Eier) ebenso fremd wie Surströmming. Die Entscheidung von Ahrens und West, all das in der Kategorie «China» einzuordnen, kam mir sowohl entfremdend als auch angemessen vor: Die Westlerin in mir konnte nachvollziehen, dass nicht genauer differenziert wurde, während die Chinesin in mir es ablehnte, all das in einen Topf zu werfen.

Genau wie Michelangelos David die Blütezeit der Renaissance und Blau-Weiss-Porzellan den Höhepunkt der chinesischen Ming-Dynastie verkörpert, stehen die nach ihrer geografischen Herkunft geordneten Ausstellungs­stücke des Disgusting Food Museum für einen bestimmten Ort oder für ein bestimmtes Volk. Als Ausstellungs­logik ergibt das durchaus Sinn, es kann aber auch das Offensichtliche verschleiern: Vormoderne Speisen sind, zumindest für uninitiierte Zungen, häufig ekelhaft gewesen, aber sie waren eben auch erfindungs­reich. Warum gilt Hákarl als die typische isländische Speise? Weil die Wikinger einen Weg gesucht haben, den nährstoff­reichen, aber giftigen Grönland­hai zu essen. Also fanden sie ein Verfahren, um die tonnen­schweren Tiere geniessbar zu machen.

Wenn bestimmte Nahrungs­mittel nur für einen kleinen Kreis von Menschen verfügbar sind, symbolisieren sie eine gesellschaftliche Stellung. Dass französische Aristokratinnen den Singvogel Ortolan assen, hat vermutlich einen ähnlichen Grund wie die Tatsache, dass an Chinas kaiserlichen Tafeln Affenhirn verköstigt wurde. In allen Kulturen neigt die Elite dazu, Nahrungs­mittel zu sich zu nehmen, die für die breite Masse aufgrund ihres Preises, ihrer Knappheit oder ihrer komplizierten Zubereitungs­weise unerreichbar sind.

Die Jagd nach «exotischen» Gewürzen hatte einen grossen Anteil daran, dass westliche Staaten Teile Afrikas und Ostasiens eroberten. Die ungleichen Macht­verhältnisse, die daraus entstanden, spiegeln sich im modernen soziologischen Konzept des «Geschmacks» und in der Vorstellung einer weltläufigen Kultiviertheit wider, die sich aus der Erkundung gastronomischer Riten verschiedener Kulturen und sozialer Klassen speist. (Wenn wir etwas «geschmackvoll» nennen, nutzen wir einen gastronomischen Begriff, um etwas als gesellschaftlich anerkannt zu beschreiben.)

Im 20. Jahr­hundert schienen die mächtigen Nationen das Essen neu zu erfinden, indem sie den Ekel aus ihm heraus­produzierten. Im Disgusting Food Museum sind die USA hauptsächlich durch nährstoff­arme Kalorien­bomben vertreten, etwa Twinkies, Spam und Pop-Tarts. Das Element des Ekels – so steht es auf den Hinweis­schildern im Museum – steckt vor allem in den Betrieben der Massen­tierhaltung, den Ökonomien der Verschwendung, dem Missbrauch von Wachstums­hormonen und der Ausbeutung, die zur Produktion notwendig sind. Buchautor Kelly glaubt, dass sich Amerikaner allgemein nicht allzu sehr für die Herkunft ihres Essens interessieren. «Diese vorsätzliche Ignoranz bezeugt auch ein Überlegenheits­gefühl: Wir müssen uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie man Vogelfüsse oder Schnäbel geniessbar macht.»

Wenn der Ekel persönlich wird – und gefährlich

Die Pandemie führte vielen Amerikanerinnen erstmals vor Augen, wie fragil unsere Nahrungsmittel­versorgung sein kann. Das Virus zeigte die Anfälligkeit von Lieferketten. Restaurants mussten schliessen, Trinkwasser wurde rationiert, die Preise für Eier stiegen um das Dreifache. Ich habe Ahrens gefragt, ob sich seine Sicht auf den Ekel oder das Museum während der Pandemie geändert hat (einen Lockdown gab es zwar nicht in Schweden, aber das Museum war trotzdem wie leer gefegt). «Je mehr ausländische Speisen ich kennenlerne, desto bewusster wird mir, wie wenig ich von meinem Essen weiss, und desto mehr will ich wissen», sagte er. Das Museum plant derzeit eine Sonder­ausstellung über den Einfluss von Essen auf die Gesundheit, über «gefährliches Essen». Gefahr wird dabei definiert als «alles, was mit Giftstoffen und Toxinen wie Pilzen zu tun hat, aber auch mit Verarbeitungs­fehlern, die das Endprodukt gesundheits­schädlich machen». Gefährlich ist das, was wir nicht kennen, sagt Ahrens. Die Hufeisen­nase wird in dieser Ausstellung eine zentrale Rolle spielen, es ist die Fledermaus­gattung, die zu Beginn der Pandemie für die Übertragung des Corona­virus in China verantwortlich gemacht wurde.

Kurz nachdem Donald Trump im Frühling 2020 Covid-19 als «China-Virus» bezeichnet hatte, erhielt ich von einem Fremden eine Twitter-Nachricht: «Ihr Chinaleute fresst Fledermaus­suppe und lebendige Mäuse, und deshalb hat das dann mit dem Corona­virus angefangen, weil ihr Ekel­pakete nur Tollwut­scheisse fresst», schrieb er. «Verpisst euch aus den USA zurück nach China, dann seid ihr unter euch und könnt noch mehr lebende Tiere fressen.» Damals bekam ich auch die ersten Nachrichten mit Bildern von Fleder­mäusen auf meinen Social-Media-Kanälen.

Einmal habe ich im Supermarkt telefoniert; jemand hörte mich Mandarin sprechen und zischte «widerliche Chinesen». Später, als ich zum ersten Mal seit Monaten mit der U-Bahn fuhr, bezeichnete mich ein Mann immer wieder als «ekelhaftes Schlitzauge», bis er endlich ausstieg.

Wenn man feststellt, dass man selbst als «ekelhaft» gilt, lässt einen das nicht kalt. Es ist unerheblich, ob man das selbst auch von sich denkt oder nicht. Ebenso unwillkürlich wie beim Ekel­gesichts­ausdruck fluten Scham und Angst den Körper, bis sich eine Art Selbstekel breitmacht. Der Ursprung des Selbstekels ist noch nicht vollständig ergründet, aber Forscher gehen davon aus, dass er vermutlich dadurch entsteht, dass man den Ekel anderer Menschen internalisiert. Er ist auch eine spezifische Art von Folter: Als abscheulich empfunden zu werden, bedeutet, dass man innerhalb dieser Abscheu lebt und verzweifelt aus sich selbst fliehen will.

«Waren die Amerikaner schon immer so?», fragte mich Ying, die chinesische Pflegerin meiner Mutter, als sie mir vor kurzem eine Nachrichten­meldung zeigte: Schon wieder war eine ältere Asiatin in Chinatown grundlos angegriffen worden. Ying trug einen Hut und eine Maske; nicht nur zum Schutz vor Covid, wie sie sagte, sondern auch weil sie Angst davor hatte, als Asiatin erkannt zu werden, ein diffuses Gefühl, das sich in den vorangegangenen Wochen zu einer akuten Angst entwickelt hatte.

Vielleicht ist das der furcht­erregendste Aspekt des Ekels: seine Fähigkeit, das Bauch­gefühl in eine Waffe gegen das Fremde zu verwandeln. Es ist ein lachhafter Gedanke, dass alle Chinesinnen das Virus in sich tragen, weil es möglicher­weise auf den Konsum von Fleder­mäusen zurückzuführen ist. Doch die Unsichtbarkeit des Corona­virus gab dem tribalistischen Glauben Vorschub, dass diese Asiaten, die ja nur ekelhafte Sachen essen, dieses Virus mit sich rumtragen und verbreiten mussten.

Das Geruchs­system wird in der Pandemie zum Beschützer

Tja, wenn die Natur sich immer so einfach verhalten würde. Wenn etwas komisch riecht, sollte man es vielleicht nicht essen. Aerosole, die eine asymptomatisch Infizierte beim Sprechen ausatmet, senden kein solches Warnsignal. Vor diesem Virus kann uns das Ekel­empfinden nicht schützen. Eher macht es uns noch verwundbarer. Viele Menschen, die sich mit dem Virus anstecken, verlieren ihren Geruchs- und Geschmacks­sinn. Eine Freundin von mir, die sich im März 2020 ansteckte, kann inzwischen zwar wieder riechen und schmecken, aber sie kann kein Fleisch mehr essen. «Hamburger, Puten­hackfleisch» – Speisen, die sie vorher regelmässig zu sich nahm –, «das schmeckt jetzt alles eklig», sagt sie.

Pamela Dalton, eine Experimental­psychologin, die zum Zusammenhang von Emotionen und Geruchs­wahrnehmung forscht, sagte mir, dass viele Covid-Patienten während ihrer Genesung von einer Verzerrung ihres Geruchs- und Geschmacks­sinns berichten, die zu Ekel­gefühlen führt. «Das Geruchs­system spielt hier eine Beschützer­rolle», sagte Dalton. «Wenn Teile des Systems stillgelegt werden, ist es nicht überraschend, dass danach die Standard­einstellung so ausgerichtet wird, dass Gerüche und Geschmäcke uns zum Schutz vor gefährlichen Nahrungs­mitteln anwidern.» Fleisch zum Beispiel.

Unser Ekelempfinden ist also am Corona­virus gescheitert und hat durch es zugleich neue Ziele bekommen. Die Frage ist – ähnlich wie jene, die West zur Eröffnung des Disgusting Food Museum inspirierte –, ob man diesen Ekel, vor allem wenn er auf andere Menschen zielt, im Sinne des Allgemein­wohls unterdrücken kann. Kevin Arceneaux, Politik­wissenschaftler an der Temple University, sagte mir: «Ihre Intuition sagt Ihnen vielleicht, dass der Einwanderer auf der anderen Strassen­seite komisch riecht, komisches Essen kocht und deshalb hier nicht hingehört. Doch wir können auch vernunft­begabt reflektieren und uns über solche Intuitionen hinweg­setzen. Das ist nicht ganz einfach, aber diese Fähigkeit zeichnet uns als Menschen aus.»

Sich zu ekeln, ist natürlich, aber um zu verstehen, warum wir uns ekeln, müssen wir manchmal unsere Perspektive ändern. «Menschen sind es gewohnt, sich selbst und ihre Nächsten zu beschützen», meinte Arceneaux. «Eine Pandemie ist aber genau die Sorte Ereignis, die zu einer ganz neuen Risiko­bewertung führen muss.» Eine Maske dient nicht so sehr dem eigenen Schutz als dem Schutz der Mitmenschen. «Nur wenn man die Fremden schützt, die einen vielleicht anwidern, kann man sich auch selbst vor einer Ansteckung schützen», sagte Arceneaux.

Als letzten Winter einmal das Pflegeheim meiner Mutter im Lockdown war, stand ihre Pflegerin Ying mit einer raschelnden Tüte vor meiner Tür. Darin wand sich ein Dutzend Krabben. Meine Mutter hatte Ying (richtigerweise) erzählt, dass ich mich schon seit einer ganzen Weile von Ramen und Essens­bestellungen ernährt hatte und sehr gern gedämpfte Krabben ass, sie aber fast nie zu Hause zubereitete.

Beide gingen davon aus, dass es mir einfach zu aufwendig war, aber der eigentliche Grund ist etwas komplizierter: Der Gedanke, die Krabben lebendig kochen zu müssen, wie meine Mutter es in meiner Kindheit getan hatte, ekelte mich an. Ying hätte es nicht verstanden. Hätte ich die Krabben abgelehnt, hätte sie das vermutlich als kaltherzig und unhöflich empfunden. Ich dankte ihr und nahm die Krabben entgegen. «Die musst du schnell kochen, sonst sterben sie und sind nicht mehr frisch», mahnte sie.

Als ich einige Minuten später in meiner Küche stand und grübelte, was ich machen sollte, wurde ich mir meiner eigenen Scheinheiligkeit bewusst: Es machte mir nichts aus, die Krabben zu essen, wenn jemand anders sie zubereitete, aber ich konnte sie einfach nicht selbst töten. Wenn ich sie aber in der Tüte auf meinem Küchen­boden liegen liesse, würden sie sterben, und Ying hätte sich umsonst bemüht.

Widerwillig warf ich die sich windenden Krabben in einen Topf, legte einen Deckel darauf und schaltete die Herdplatte an. Ich goss Essig dazu, schnitt Ingwer klein und versuchte, nicht an die Krusten­tiere zu denken. Egozentrischer Schmerz. So würden Evolutions­biologen mein Unbehagen nennen. Wie viel wir mit Tieren fühlen, hängt davon ab, wie nah sie uns phylogenetisch sind. Die Gefühle eines Hundes sind für uns leichter nachzuempfinden als die einer Krabbe. Trotzdem waren mir die Scharr- und Kratz­geräusche aus dem Topf unerträglich – ein krasser Überlebenskampf.

Mir fiel auf, dass ich mich weniger vor den Krabben oder ihrer Zubereitung ekelte als vor mir selbst und vor dem, was zu tun oder zu lassen ich mächtig war. Ein zum Scheitern verurteilter Überlebens­kampf, das war es, was mich mit diesen Krabben verband. Wasser­dampf und Meeres­geruch füllten allmählich meine Küche, als das Telefon klingelte. Es war Ying. In ihrer Stimme lag eine unglaubliche Sanftheit, als sie nach dem Abend­essen fragte: Ob ich es schon zubereitet hatte?

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