Aufruf zum Aufruhr

Unsere Autorin war dieses Jahr mal wieder besonders überfordert vom Welt­geschehen. Zuerst wollte sie etwas dagegen unter­nehmen. Jetzt nicht mehr.

Ein Essay von Theresa Hein (Text) und Annette Apel (Bilder), 31.12.2021

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Wenn ein Kind an einem Obdach­losen vorbeigeht, kann es noch stunden­lang darüber nach­denken, warum es zu Hause ein Bett und eine warme Decke hat und der Mensch, der auf der Strasse sitzt, nicht.

Meistens werden diese Gedanken mit dem Alter dann seltener, bis man irgend­wann die Ungerechtigkeit auf der Welt akzeptiert oder verdrängt, weil man schliesslich seine eigenen Probleme hat.

Dass das bei mir nicht funktioniert, fiel mir erst sehr spät auf. Vielleicht sogar erst mit der Arbeit an diesem Text.

Verdrängen ist nicht. In der Welt draussen passiert etwas, und von drinnen bekomme ich umgehend die Quittung. Die Folge ist, dass ich sehr viel heule. Bei Büchern von Hanya Yanagihara. Bei der letzten Szene des Films «Smoke» mit der alten Frau, wo dieses Tom-Waits-Lied läuft. Nach dem Anschauen von «Für Sama», einer Dokumentation aus dem Syrienkrieg. Und bei der Stelle, wo der Gnom explodiert in Christian Krachts «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» (dabei war der ja wirklich kein Sympathie­träger). Ich weine, wenn meine beste Freundin am Telefon gerade erzählt hat, dass sie einsam ist, und wenn ich Babys mit Schläuchen in der Nase sehe. Manche Menschen müssen sich übergeben, wenn andere sich übergeben. Ich weine, wenn andere weinen.

Ach so, und Lachen passiert genauso häufig, kann ich aber ebenso wenig zurück­halten wie mein Weinen; Wut (die allerdings seltener auftritt) nur sehr, sehr schwer. Und nein, bitte nicht unnötig pathologisieren, ich habe nur das Gefühl, ich muss das vorab kurz erklären.

Der Krisen­modus ist meine Werks­einstellung, am besten die grosse Krise, von der Captain Black­adder in der gleich­namigen Serie spricht, «mit einer herrlichen Eingangs­halle, Teppich­boden überall, 24-Stunden-Portier­service und einem riesen­haften Schild auf dem Dach, auf dem steht: Dies ist eine grosse Krise». Die Welt über­fordert mich, und im nun fast vergangenen Jahr tat sie das ganz besonders.

Ich habe mehr als einen Grund zur Annahme, dass es gerade sehr vielen Menschen so geht. Ich fürchte aber auch, dass wir damit nicht gerade gut umgehen.

In einer Umfrage des Europa­parlaments im Frühjahr 2021 waren die häufigsten Antworten auf die Frage, wie die Teil­nehmerinnen ihre Gefühls­lage nach dem ersten Pandemie­jahr beschreiben würden: Unsicherheit, Hoffnung, Frustration, Hilflosigkeit, Ärger. Und in dieser Studie des Bundesamts für Gesundheit aus dem letzten Sommer heisst es, der verlängerte Krisen­modus habe in der Bevölkerung mehr an den Kräften gezehrt als der erste Lockdown (bei dem man noch dachte, das alles gehe schnell vorbei). Der amerikanische Neurologe Adam Gazzaley stellte – allerdings schon vor einigen Jahren – die These auf, dass wir uns in einer Kognitions­krise befinden, die ihre Ursache unter anderem in einer Zeit hat, die sich zu schnell für unsere Gehirne entwickelt hat, um hinterher­zukommen. Der Soziologe Armin Nassehi hat erst diesen Herbst ein Buch heraus­gebracht, das die «überforderte Gesellschaft» im Titel trägt. Und jetzt sind wir in einem neuen Pandemie­winter.

Ich fragte Freunde, ob es ihnen ähnlich ginge mit diesem Gefühl, als stünde man kurz vorm Platzen, Kolleginnen, ob sie wüssten, was ich meine. Ich rief meinen besten Freund aus Schul­zeiten an und fragte, wie es sei, sich so verzweifelt zu fühlen und ein Kind zu haben. Seine Antwort: gar nicht gut. Er sagte, als wir über das vergangene Jahr sprachen, er habe das Gefühl, diesmal stünden wir «wirklich am Abgrund».

«Abgrund» ist ein starkes Wort, es klingt nach Klettern ohne Sicherungs­seil, nach Schwindel, vor allem aber nach Fallen. Und natürlich kommt sofort im Kopf die Gegen­frage: Darf man sich überhaupt «am Abgrund» fühlen, wenn man in Mittel­europa wohnt, einen einiger­massen sicheren Job hat und in einer Stadt lebt, in der man weder die Taliban noch einen Tsunami fürchten muss? In der man frei wählen kann und eine Sozial­versicherungs­nummer hat?

Die jüngeren Menschen, mit denen ich sprach, fühlten sich noch eher über­fordert als die Älteren, die in ihrem Job mit Nach­richten und Welt­politik zu tun haben, diese wiederum etwas mehr als Menschen, die jeden Tag in ihrem Job vor ganz anderen Problemen stehen.

Dass das Überforderungs­gefühl etwas mit unserem Nachrichten­konsum zu tun hat, ist kein Geheimnis. Der Kognitions­forscher Adam Gazzaley vergleicht den Nachrichten­überfluss, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, mit ungesunder Ernährung: «Wir wissen, dass exzessives Essen nicht gesund ist», sagt er, als ich ihn in San Francisco anrufe. «Es ist okay, ein bisschen Junkfood zu essen. Genauso okay ist es, ein paar Nachrichten zu lesen, denen es an Tiefe und Hinter­grund mangelt. Aber wenn dieser Konsum dominant wird, müssen wir Entscheidungen darüber fällen, was für uns nahrhaft ist und was nicht.» Gazzaley sagt, die Masse an Nachrichten treffe uns wie die Fontäne eines Feuerwehr­schlauchs. Überall Nachrichten, die meisten ohne Substanz und Tiefe. Hauptsache doom, das Gefühl, an der Situation etwas ändern zu können: gleich null.

Als Reaktion auf das Katastrophen-Domino dieses Jahres brachten die Zeitungen und Magazine über den Sommer hinweg dann auch Artikel über den «Sommer der kollektiven Überforderung», über eine Jugend, die Angst hat, dass alles immer schlimmer wird, oder ein Interview mit einem buddhistischen Mönch, der Tipps gibt, wie man gelassen bleiben kann. Das Gefühl der Überforderung wurde allseits erkannt. Und dort, wo die Beschreibung nicht ausreichte, wurde versucht, es in den Griff zu bekommen: Mach diese Konzentrations­übung, nimm dir jene zehn Minuten, und dann wird die Welt allein schon dadurch besser, weil du dich besser zu ihr verhalten kannst.

Wer sich heute überfordert fühlt, der kann sich mit Achtsamkeits-Apps oder Apps für Selbst­therapie helfen, mit einem Optimierungs-Podcast (ja, der heisst wirklich so), mit Leitfäden in Lifestyle- und Nachrichten­magazinen, die einem sagen, wie man damit umzugehen hat, wenn man von der Welt über­fordert ist. Oder wie man besser atmet.

Na, heureka. Es gibt also Abhilfe gegen das Gefühl des «Abgrunds», natürlich gibt es die; und im besten Fall brauche ich nicht einmal länger dafür, sie umzusetzen, als einen Newsletter im Tram zu lesen.

Und eigentlich wollte ich so etwas auch schreiben. Einen Leitfaden, der dabei helfen sollte, wie ich mit der eigenen Über­forderung angesichts der Nachrichten­lage auf der Welt, des Klima­wandels, der ungewissen Zukunft meiner ungeborenen Kinder, der rechten Netz­werke in meinem Heimatland Deutschland und der Corona-Unsicherheit besser umgehen kann. Ich wollte die Lösung auf die Frage, wie man das alles besser wegsteckt.

Beim Lesen all dieser Listicles, der Newsletter und Titel der Achtsamkeits­bücher verstärkte sich bei mir allerdings der Eindruck, dass es merkwürdig ist, wenn man auf schlimme Nachrichten mit dem Impuls reagiert, dringend ein Yoga-Retreat buchen zu müssen. Und dass der Wunsch nach einer schnellen Lösung, die Suche nach der flotten Abhilfe, keine angemessene Reaktion sein kann. Sondern nur ein Symptom.

Erst diesen Sommer las ich die «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» des gefeierten und von mir sehr geschätzten Historikers Yuval Noah Harari. Ziemlich am Ende des Buches schreibt er, auch er fühle sich angesichts der Nachrichten­lage, des Klima­wandels und des Turbo­kapitalismus überfordert. Wie es ihm gelinge, trotzdem morgens freudig aufzuwachen? Meditation, natürlich. Jedes Jahr, schreibt Harari, begebe er sich ein paar Tage in ein Meditations­retreat. Er nimmt die Kritik dann auch gleich vorweg und sagt, das sei keine Flucht, sondern eine Möglichkeit, mehr mit der Wirklichkeit in Kontakt zu kommen.

Ich überflog noch Hararis Relativierung, natürlich sei das keine Lösung für die Probleme des Planeten, aber da fühlte ich mich schon verarscht. Ich weiss, Meditation kann sehr wohl hilfreich dabei sein, Menschen von Angst­zuständen zu befreien; vielen helfen body scans oder autogenes Training beim Einschlafen. Achtsamkeit kann nach­weislich helfen, sich weniger in Sorgen­spiralen zu verstricken, die wiederum Depressionen verstärken können.

Und trotzdem: Wo hört die schnelle Beruhigung auf, und wo beginnt die Flucht?

Denn auch wenn es vielleicht einigen Menschen wie Yuval Noah Harari gelingen mag, sich nach einer Auszeit vom Welt­geschehen umso konzentrierter und differenzierter mit ebenjenem auseinander­zusetzen, wage ich zu bezweifeln, dass alle das tun.

Vielmehr habe ich den Verdacht, man gerät durch den Impuls des Sich-selbst-Helfens (vermeintlich um des grossen Ganzen willen) in die Situation, dass man sich zwar nach einem Meditations­kurs oder einer Achtsamkeits­übung psychisch erleichtert fühlt. Dem Welt­geschehen aber steht man immer noch genauso ratlos gegenüber. Vielleicht, im schlimmeren Fall, sogar ein bisschen gleichgültiger.

Dabei sind die Grund­fragen, die sich so viele Menschen stellen – was tun mit der allgemeinen Über­forderung, wie kann das sein, was zur Hölle? –, nicht nur legitim, sondern weitverbreitet. In «Theorie der überforderten Gesellschaft» erzählt Armin Nassehi von einer Frage, die ihm von Studenten immer wieder gestellt wird:

Die Gesellschaft hat fast alles Wissen, fast alle Ressourcen, die meisten Mittel und auch die Gelegenheit, die grossen Probleme der Welt zu lösen – von sozialer Verelendung über schreiende Ungerechtigkeit bis hin zum Klimawandel oder der ökologischen Zerstörung. Und doch sieht es so aus, als sei genau das nicht möglich, obwohl es doch offen­kundig möglich ist. Die Frage lautet: Wie können die Menschen, kann die Menschheit so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint?

Aus: Armin Nassehi, «Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft».

Nun geht es bei Nassehi zwar nicht um das Individuum, sondern um die Gesellschaft als Ganzes, die aufgrund ihrer Strukturen unfähig ist, die selbst erschaffenen Krisen zu lösen (selbst wenn das, so Nassehis Diagnose, auch eine Stärke sein kann). Die Frage, die er zitiert, stellt sich aber nicht nur im Kollektiv, sondern auch für den Einzelnen. Und auch im religiösen Kontext taucht sie ganz ähnlich auf, dort heisst sie Theodizee­frage: Warum lässt Gott zu, dass es den Dreissig­jährigen Krieg, Hitler, Cholera, Apartheid, Hiroshima, Völker­morde, Straflager und Feuerwalzen gibt?

Meine Eltern haben mich christlich erzogen, und als ich klein war, wuchs ich mit der Idee eines «lieben Gottes» auf, nicht mit der Idee eines Gottes, der als der «grosse Verflucher» auftritt (eine lustige, weil oft treffende Beschreibung aus diesem Podcast). Ich weiss nicht mehr, was meine Mutter mir geantwortet hat, als ich sie fragte, warum so viel Schlimmes passiert (damals mit der kindlichen Formulierung vom «lieben» Gott). Ich glaube, das war der Moment, in dem ich gelernt habe, dass es Antworten gibt, die nicht zufrieden­stellen, was wiederum keine sehr zufrieden­stellende Erkenntnis ist. Daraufhin habe ich mir Gott als netten, aber überforderten Typen vorgestellt, der angesichts dessen, was die Menschen auf der Erde so treiben, nur den Kopf in die Hand stützen und zuschauen kann, und der, wenn man ihn persönlich fragen würde, warum er das alles zulässt, die Hände in die Luft werfen und sagen würde: «Ich weiss es doch auch nicht, ich dachte, ihr habt das im Griff.» Und dass er oft weint.

Als ich dann in der Journalistinnen­ausbildung war, arbeitete ich mit Kolleginnen an einem Artikel über Wohnungen in München, die von ihren Eigentümern für horrendes Geld an geflüchtete Familien vermietet werden. Wir besuchten mehrere dieser Wohnungen, aber sie verdienten den Namen nicht. Einmal trafen wir kurz vor Weihnachten eine Familie, die am Stadtrand in einem herunter­gekommenen Haus zu acht in einem einzigen Zimmer auf fünfzehn Quadrat­metern lebte. Sie zahlte dafür mehr als doppelt so viel wie wir für unsere WG-Zimmer von ähnlicher Grösse. Als die beiden Kolleginnen und ich nach dem Treffen nach Hause gingen, sprachen wir kaum. Kürzlich sagte mir eine der Kolleginnen, sie war damals dabei und erinnerte sich an den Abend, sie merke, dass sie einfach nicht so emotional sei. Die Situation habe sie schon auch berührt, aber nicht so fertiggemacht und langfristig beschäftigt wie mich. Sie habe sich damals gefragt, was mit ihr verkehrt sei.

Ich habe mich ironischer­weise genau das Gleiche gefragt – und noch dazu, ob ich «tough genug» bin für den Job, ob mein Fell «dick genug» ist, wie ich mich ändern kann, um die emotionale Wucht, die mich nach dieser Begegnung traf, loszuwerden.

Ich habe aufgehört, mich das zu fragen, auch weil ich glaube, dass wir viel zu sehr in diese Richtung denken.

Unglücklichsein als Dauer­zustand ist bestimmt nicht empfehlens­wert, das fordere ich auch nicht. Ich verlange nur ab und zu, dass ich meine Überforderung aushalten und auf sie reagieren darf, vor mir selbst und vor Freunden oder meiner Familie (im besten Fall sogar bei der Arbeit), bevor ich mir reinziehe, wie ich schnell aus dem Zustand rauskomme, den ich mir nicht erlaube. Weil ich entweder Sorge habe, anderen damit auf die Nerven zu fallen, oder weil ich denke, ich würde damit im System nicht gut genug funktionieren.

«Also gut», ruft der verzweifelte Wilde am Ende von Aldous Huxleys «Schöne neue Welt», «dann fordere ich eben das Recht auf Unglück.» Die Welt, in der er ankommt, nachdem er aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wird, in der sich die Menschen beim geringsten Anflug von Verstimmung mit Drogen ins Abseits schiessen und keine Unannehmlichkeiten kennen, kommt ihm stumpf vor, abstossend. Wäre der Wilde im Hier und Jetzt gestrandet, würde er angesichts der zahnpasta­grinsenden, perfekten Parallel­welten auf Instagram und Tiktok, angesichts der Vorstellung, das Leben sei nur lebenswert, wenn es perfekt ist, vermutlich genauso verzweifelt rufen: In einer Welt, die die Imitation von Gefühl perfektioniert hat, wird die Fähigkeit, zu fühlen, langsam aber sicher zur Mangelware.

Huxley prophezeite in einem Vorwort zu «Schöne neue Welt» einen «über­nationalen Totalitarismus», der sich aus dem «Bedürfnis nach Leistungs­fähigkeit» ergebe und dem «sozialen Chaos», das der rasche technische Fortschritt mit sich bringe. Wer das heute liest, dem kommen diese vor mehr als siebzig Jahren geschriebenen Worte beängstigend bekannt vor. Die grössten Triumphe der Propaganda, schrieb Huxley zurück­blickend auf die faschistischen Regime des zwanzigsten Jahrhunderts, «wurden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht».

Ich glaube, dass, wer sich nicht vertieft, viel eher zur Unter­lassung neigt als jemand, der es auf sich nimmt, einen unangenehmen Gefühls­zustand wie den der Überforderung zu hinter­fragen. (Man merkt das am eigenen Nachrichten­konsum: Es gibt Newsfeeds, die einen schon beim Durch­scrollen resignieren lassen. Es gibt aber auch solche Nachrichten, die etwas am eigenen Verhalten ändern. Auch sie überfordern, aber sie stumpfen nicht so ab. Bei mir war das zum Beispiel ein Text über ein Massentierhaltungs-Schwein, das auf einen Bauernhof gebracht wird; ein Text, der mich so berührt hat, dass ich Schweine­fleisch von meinem Speiseplan gestrichen habe.)

Statt jene Gefühle zu ertragen, die man nicht unbedingt auf Instagram ausbreiten kann – Wut, Trauer, Hilflosigkeit, Über­forderung –, haben wir es mit der ganzen Selbst­optimiererei des vergangenen Jahrzehnts so weit gebracht, dass wir uns in immer enger gezogenen Kreisen um uns selbst bewegen. Eine allgemein anerkannte Reaktion auf die Über­forderung von heute ist es, sich vom Welt­geschehen zu isolieren und es sich mit schnellen Tipps möglichst bequem in der eigenen Seifen­blase zu machen.

Wenn man das konsequent zu Ende denkt, wäre das Ergebnis eine Welt, in der niemand mehr ein Gegenüber braucht, weil er sich selbst völlig genügt und damit belügt, er habe «ja eh schon genug» für seine Umwelt getan. Das Ergebnis wäre auf zwischen­menschlicher Ebene das, was man schon vor Donald Trump auf politischer Ebene in vielen Staaten beobachten konnte – Menschen, die sich verhalten, als seien sie kleine Mikrokosmen, niemandem Rechenschaft schuldig.

Das Herz des Eich­hörnchens

Es spricht absolut nichts dagegen, Pausen vom Welt­geschehen einzulegen. Oft ist es nicht nur unbedingt nötig, sondern eine gesunde Reaktion. Würde man versuchen, jede Sekunde die ganze Welt auf einmal auszuhalten, es würde einen vermutlich in eine lähmende Starre versetzen, und dann könnte man auch gleich das Dauer-Yoga-Retreat buchen. Oder, um George Eliot zu paraphrasieren: Wer so viel wahrnimmt und fühlt, dass er das Gras wachsen und die Herzen von Eichhörnchen schlagen hört, der stirbt irgendwann an dem ganzen Lärm.

Aber: Wer dem Gefühl der Über­forderung ein bisschen Platz einräumt, der hat eine Chance auf einen gedanklichen Prozess. Und zwar mehr als beim Wegschieben. Leitfäden und Lebens­tipps sind auch deswegen so perfide, weil wer sie liest sich dann mit dem Glauben betrügen kann, er oder sie habe ja schon etwas Sinnvolles getan (weil: sich selbst optimiert, immerhin, am Rest kann man ohnehin nichts ändern).

Ein Beispiel für diesen gedanklichen Prozess ist das Aushalten der Über­forderung selbst. Klingt schon mal einfacher, als es ist. Zumal wir schon als Kinder darauf trainiert werden, Schmerz zu verdrängen («Ist doch nicht so schlimm»). Eine US-amerikanische Psycho­therapeutin sagte mir in einem Interview einmal, bei Kindern, die Schmerzen haben, sei es ganz wesentlich, unbedingt zuerst Mitgefühl zu zeigen – also, dass man den Schmerz wahrnehme («Das tut sicher weh») – und dann erst zu trösten («Wir suchen dir ein Pflaster») und als Erwachsene dem Impuls des «Beiseite­wischens» zu widerstehen. Nur dann fühlt sich das Kind ernst genommen. Und kann reagieren – indem es aufhört zu weinen, indem es aus der Erfahrung lernt.

Ein anderes Beispiel, wie dieser gedankliche Prozess aussehen kann, ist der Vorgang des Tröstens. Denn wer etwas erträgt, der braucht Trost. Die Kultur­wissenschaftlerin Hanna Engelmeier hat ihm ein ganzes Buch gewidmet. «Natürlich kann man andere Personen um Trost bitten, aber eigentlich kommt er als Spende», schreibt sie, und weiter:

Es ist nicht unbedingt angenehm, sich als trost­bedürftig zu zeigen, schliesslich geht es dann darum, seinen Kummer einzu­gestehen, die Wunde zu zeigen, Schmerz zuzugeben, die eigene Hilflosigkeit anzu­erkennen. Wendet man sich statt­dessen an ein unbelebtes Objekt, das Trost verspricht – ein Stofftier, eine Decke, einen Holzklotz, eine Platine, ist es viel einfacher. Es sind dann keine unerwarteten Antworten zu befürchten.​

Aus: Hanna Engelmeier, «Trost».

Engelmeier findet in der Literatur «einen Mittelweg» für Trost, zwischen menschlichem Gegenüber und Objekt.

Ich finde, Trost funktioniert besonders gut, wenn er eine Aussprache mit sich bringt, eine soziale Interaktion, denn das unter­scheidet ihn für mich von der gedanklichen Flucht, die man meistens allein und isoliert unternimmt. Einer der Sätze, die mich in meinem Leben am meisten getröstet haben, kam von meiner Schwester in einer Zeit, in der es mir sehr schlecht ging. Ich sagte ihr, was los war, nur kurz, wie man das eben so erzählt, wenn man die anderen nicht zu sehr belasten will. Sie hörte zu. Dann sagte sie: «Es tut mir so leid, dass es dich so schmerzt.» Es war kein Ratschlag und kein Tipp. Sie hat einfach ausgehalten, dass ich mich elend fühlte. Und ich konnte endlich handeln. (Zu ähnlichen Schlüssen kommt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem wunderbaren Buch «Notes on Grief».)

Das Hinter­hältigste am Nicht-Fühlen ist übrigens ein Vorgang, der in den meisten Fällen sehr unbemerkt abläuft: Vergessen. Wir vergessen Namen, Gesichter, Erzählungen, Filmenden, Zusammen­hänge. Es passiert einfach. Deswegen ist auch Erinnern (zum Beispiel daran, wozu Faschismus imstande ist) so wichtig. Auch dafür ist Voraus­setzung allerdings das Aushalten, jenes «Recht auf Unglück», das der Wilde in Huxleys Roman «Schöne neue Welt» fordert. Als sein Gegenüber ihm erklärt, es gebe keine Mücken und Fliegen mehr, die die Menschen plagen (die habe man schon lange ausgerottet), reagiert der Wilde spöttisch.

Stirnrunzelnd nickte der Wilde. «Ausgerottet, das sieht euch ähnlich. Alles Unangenehme ausrotten, statt es ertragen zu lernen. (…) Ihr tut weder das eine noch das andere. (…) Ihr macht euch das zu leicht.»

Aus: Aldous Huxley, «Schöne neue Welt».

Ich glaube tatsächlich, dass wir es uns zu leicht machen. Und dass wir mit dem Aussparen der unbequemen Gedanken, wie dem der Über­forderung, sehr viel verlieren.

In Donna Tartts Roman «Der kleine Freund» kann die Hauptfigur, Harriet, besonders lange die Luft anhalten und sagt einmal stolz zu sich selbst: «Vögel können singen, und Fische können schwimmen, und ich kann das hier.» Das Gefühl der Über­forderung ist kein Mangel. Oder ein Makel. Auch die unschönen Gefühle haben ihre Berechtigung: Sie haben mehr Zeit verdient, als wir ihnen zugestehen. Zumindest ein bisschen.

Zum Weiterlesen

George Eliot: «Middlemarch». Aus dem Englischen von Melanie Walz. Rowohlt, Hamburg 2021. 1264 Seiten, ca. 30 Franken.
Hanna Engelmeier: «Trost». Matthes & Seitz, Berlin 2021. 198 Seiten, ca. 30 Franken.
Adam Gazzaley: «The cognition crisis». Essay, Elemental 2018.
Gabriela Herpell: «Womit hab ich das verdient». Essay, «SZ Magazin» 2021.
Aldous Huxley: «Schöne neue Welt». Fischer, Berlin 2014. 368 Seiten, ca. 19 Franken
Armin Nassehi: «Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft». C. H. Beck, München 2021. 384 Seiten, ca. 37 Franken.

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