«An dem Tag, als mein Vater starb, wurde ich eine andere»

Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat den Tod ihres Vaters in einem Buch verarbeitet. Kurz darauf verlor sie auch ihre Mutter. Ein Gespräch über Verlust, die Kraft von Ritualen, über Wut und Trost und die besonderen Zumutungen der Trauer in Zeiten der Pandemie.

Von Daniel Graf (Text) und Julia Sellmann (Bilder), 30.09.2021

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«Der Tod ist immer mit einem Gefühl der Ungläubigkeit verbunden»: Chimamanda Ngozi Adichie.

«Notes on Grief», Notizen über die Trauer, hiess der Essay, den Chimamanda Ngozi Adichie vergangenen Herbst im «New Yorker» veröffentlichte. Es war der bislang persönlichste Text der Autorin, deren Romane in Dutzende Sprachen übersetzt sind und die mit ihren Ted-Talks «The danger of a single story» und «We should all be feminists» ein Millionen-Publikum weltweit inspiriert.

In «Notes on Grief» beschrieb Adichie ihre Trauer nach dem Tod ihres Vaters. Aus dem Essay wurde ein Buch, und während die Original­ausgabe gerade für den Druck vorbereitet wurde, starb auch Adichies Mutter.

Soeben ist die deutsche Ausgabe von «Notes on Grief» in der Übersetzung von Anette Grube erschienen. Der Titel lautet «Trauer ist das Glück, geliebt zu haben». Die Republik hat Chimamanda Ngozi Adichie in Düsseldorf zum Gespräch getroffen, wo sie für eine Veranstaltung mit Angela Merkel ans Schauspiel­haus gekommen war.

Frau Adichie, letzten Sommer haben Sie Ihren Vater verloren, und es ist jetzt ein Jahr her, seit Sie Ihre «Notes on Grief» im «New Yorker» veröffentlicht haben. Was empfinden Sie heute, wenn Sie an Ihren Vater denken?
(einige Sekunden Stille) Er fehlt mir. Er fehlt mir schrecklich.

Dieses Jahr haben Sie auch Ihre Mutter verloren, am 1. März, dem Geburts­tag Ihres Vaters. Wäre das in einem Roman so gewesen, hätte man gesagt: Das ist jetzt ein wenig arg konstruiert. Aber hier war es die Realität. Fühlte es sich auch real an?
Nein, es war vollkommen unwirklich. Und es fühlte sich genau so an: als befände ich mich in einem sehr schlechten Roman. Es war das eingetreten, womit ich am aller­wenigsten gerechnet hatte. Der Tod meines Vaters kam unerwartet, aber der meiner Mutter hat mich vollkommen geschockt, und ich bin fast daran zerbrochen. Es fühlte sich einfach so unwirklich an. Nicht nur, dass sie so bald nach meinem Vater stirbt. Sondern dass sie an seinem Geburtstag stirbt …

Einige Wochen später posteten Sie ein Foto von sich und Ihrer Mutter auf Instagram und schrieben dazu: «How does a heart break twice?» Wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, bereitet einen die Trauer, die man durchlitten hat, in irgendeiner Weise vor auf einen zweiten Verlust?
Das ist eine wunderbare Frage. Ich glaube, nein. In praktischer Hinsicht, ja. Aber emotional: Nein. Man weiss jetzt, wie man eine Beisetzung plant, man hat ja gerade erst eine organisiert. Und du weisst jetzt, in welche Druckerei du gehst, um die Danksagungs­karten zu drucken. Aber emotional ist man in keiner Weise vorbereitet. Denn jede Trauer ist einzigartig, und die Gefühle über den Verlust meines Vaters waren andere als beim Verlust meiner Mutter.

Auch wenn es womöglich bedeutet, nach dem Unsagbaren zu fragen: Können Sie den Unterschied zwischen den beiden Trauer­zuständen zu fassen versuchen?
Oh, ich wüsste nicht, dass ich dazu in der Lage wäre. (überlegt einige Sekunden) Vielleicht ist das Einzige, was ich sagen kann, dass es sich fast so anfühlte, als müsse ich nun die Trauer um meinen Vater verkürzen, um auf einmal diesen neuen Schmerz anzunehmen. Doch diesen neuen Schmerz konnte ich noch gar nicht vollständig akzeptieren. Da ist also ein Gefühl des Unabgeschlossenen in beiden Fällen, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Die eine Trauer hatte ich begonnen, aber war an kein Ende gekommen. Den anderen Verlust, scheint mir, konnte ich noch nicht einmal anerkennen. Es ist also … ja, es ist sehr seltsam.

Einer der Schlüssel­sätze in Ihrem Buch über den Verlust Ihres Vaters lautet: «Trauer ist ein grausamer Unterricht.» Was waren die Lektionen, die Sie die Trauer gelehrt hat?
Oh, Gott! (lacht) Wie viel Schmerz das menschliche Herz ertragen kann … Es war eine ganze Reihe von Dingen, die mich die Trauer gelehrt hat. Ich war überrascht, wie sehr sich das Trauern von dem unterschied, was ich mir, immer sehr vage, darunter vorgestellt hatte. Denn die Furcht vor dem Sterben meines Vaters hat mich schon lange begleitet. Ich habe meinen Vater so sehr verehrt, dass der Gedanke an eine Zeit in meinem Leben, wenn er nicht mehr da sein würde, für mich kaum auszuhalten war. Irgendwie hatte ich also immer schon Angst vor dem Moment, wo es passiert. Ich dachte immer, ich würde dann einfach in eine endlose Daddy-Traurigkeit verfallen. Aber als es dann tatsächlich passierte, war ich schockiert, wie viel Wut ich in mir spürte, wie sehr es ein emotionales Auf und Ab war. Wie physisch der Schmerz war. Dass sich mein Körper beim Aufwachen unendlich schwer anfühlte. Wie schwer mein Herz war und wie sehr mein Magen schmerzte. Aber genauso hat es mich überrascht, wie viel ich zusammen mit meinen Geschwistern lachen konnte. Wir lachten gemeinsam, wenn wir uns an Dinge erinnerten, die mein Vater gesagt hatte, und urplötzlich brachen wir in Weinen aus, und dann lachten wir wieder. Und ich dachte, meine Güte, das alles gehört dazu, das alles ist ein Teil davon. Auch zu lernen, dass man ein anderer Mensch wird.

War das so bei Ihnen?
An dem Tag, als mein Vater starb, wurde ich eine andere. Trauern bedeutet nicht nur, den eigenen Verlust zu begreifen, sondern auch die neue Person, die man geworden ist. Auch das ist eine der Lehren. Aber das Brutale an der Trauer besteht darin, dass du Träume hast, in denen du denkst, er sei noch am Leben. Das ist Teil des Trauer­prozesses, aber es ist so brutal, weil die Träume sich manchmal so real anfühlen. Nach dem Aufwachen kommt dann der markanteste Schmerz von allen, und du denkst: Mein Gott, warum? Warum lässt die Natur so was überhaupt zu? Eine weitere Lehre ist: Man beginnt viel ernsthafter nachzudenken über … Wissen Sie, ich habe Momente erlebt – und in gewisser Weise erlebe ich sie noch immer –, die zugleich fatalistisch und existenziell waren: Warum zur Hölle sind wir hier? Was hat das alles für einen Sinn? Was soll das Ganze? Dann wiederum denke ich, das Leben ist so wertvoll, man muss dankbar sein für jeden Augenblick. Und schliesslich wieder: Warum lieben wir überhaupt, wenn klar ist, dass wir irgendwann diese Liebe verlieren? All diese Fragen, auf die es keine Antworten gibt. All das ist Teil des Trauerprozesses.

Sie erwähnten eben das Gefühl der Wut. Es mag vielleicht in manchen Ohren überraschend klingen, dass Trauer so eng verknüpft ist mit Wut. Können Sie das ein wenig ausführen?
Als ich erfuhr, dass mein Vater gestorben ist, war meine Reaktion zuerst Ungläubigkeit und dann Zorn. Ich war dermassen wütend, und es ist interessant zu fragen, was eigentlich das Objekt meiner Wut war. Es gab Tage, da war ich auf alles wütend, auf die ganze Welt. Weil ich das Gefühl hatte, das Universum hat mir diesen verehrten Menschen weggenommen. Es gab Zeiten, da war ich wütend auf Menschen, die ich liebte, auf meine Familie oder Freunde. Und oft war ich wütend auf Menschen, die es eigentlich gut meinten. Leute, die zum Beispiel sagten: «Es tut mir leid, dass dein Vater tot ist, aber er war auch schon 88.» Das hat mich furchtbar wütend gemacht, weil ich dachte, das ist das Unsensibelste überhaupt, was du zu mir sagen kannst.

Weil das Alter keine Rolle spielt?
Es spielt keine Rolle! Liebe! Liebe ist es, was eine Rolle spielt. Ja, mein Vater war 88. Aber für mich bedeutete das, was passiert ist: Die Person, die der Anker meines Lebens war, ist nicht mehr da. Und wenn es dann heisst: «Mit 88 hat er ein langes Leben gehabt», dachte ich: Nein, da ist ein Loch in meinem Herzen! Und diese Wut spüre ich immer noch. Vielleicht ist sie eine Art Widerstand. Dass man bei der Bewältigung eines Verlustes versucht, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Akzeptanz, dass der Verlust eingetreten ist, und diesem anderen, dem widerstrebenden Teil in dir, der sagt: Nein, ich kann nicht loslassen.

Sie leben das Leben einer Kosmopolitin, halten zugleich Ihre familiäre Verbindung zur Tradition der Igbo lebendig und sprechen von sich selbst als einer «zweifelnden Katholikin». Welches waren die Rituale, die Ihnen und Ihrer Familie halfen, den Schmerz zu bewältigen?
Die Igbo-Tradition und der Katholizismus schliessen einander keineswegs aus, die meisten Angehörigen der Igbo sind Katholiken. Aber natürlich hat unser Katholizismus Igbo-Einflüsse. Die Bestattungs­feier für meinen Vater war sowohl katholisch als auch nach Igbo-Tradition. Wir hatten eine Messe, eine Begräbnis­messe, die ich überraschender­weise als sehr tröstlich empfand. Der Grund war sicher, dass der katholische Glaube meinem Vater so viel bedeutete, ein so wesentlicher Teil seines Lebens war. Mein Dad hatte immer seinen Rosen­kranz in der Tasche und ging jeden Sonntag zur Messe. Er liebte die katholische Kirche, sie war sinnstiftend für ihn. Deshalb war seine Begräbnis­messe für mich sehr bewegend, weil ich wusste, das war, was mein Vater gewollt hätte. Danach hatten wir eine Bestattungs­feier auf Igbo-Weise, mit viel Tanz. Denn die traditionelle Igbo-Art zu trauern besteht zu einem grossen Teil aus Tanz.

Eine performativere Form als das, was wir aus der europäisch-katholischen Tradition kennen.
Verglichen mit der westlich-christlichen – nicht allein katholischen – Vorstellung von feierlicher Andacht, ist die der Igbo das genaue Gegenteil. Man gibt der Trauer eine Stimme, das heisst, man singt und tanzt. Und was ich als tröstlich empfunden habe: Eine der Traditionen ist, dass bei einer verheirateten Witwe die Freunde und Bekannten des Mannes kommen, der Familie Geschenke bringen, und dann tanzt du mit ihnen und hältst ein Bild von der geliebten Person in den Händen, die du verloren hast. Und das Foto meines Vaters hochzuhalten, zu tanzen und seinen Namen zu rufen, ich fand das wunderschön. Das hätte ich nie geglaubt. Ich erinnere mich noch genau, wie ich im Vorfeld, als wir die Trauer­feier planten, einfach keine Geduld dafür hatte und nur dachte, das sei alles Unsinn. Ich dachte: Soll ich etwa eine Party schmeissen, weil gerade mein Vater gestorben ist? Denn Igbo-Begräbnisse sind im Grunde Feste. Gerade wenn ein älterer Mensch stirbt, ist die Idee, dass man dessen Leben feiert. Es ist also tatsächlich eine Party. Eine Menge Menschen kommen, und es wird erwartet, dass du dir Gedanken darüber machst, was du den Gästen anbietest und so weiter. Anfangs war ich nur genervt davon. Aber als es dann so weit war, begann ich zu begreifen, wie schön es sein kann, wenn Trauer als etwas Gemeinsames und Geteiltes angesehen wird.

Können Sie beschreiben, wie die Zeremonie bei Ihnen auf Körper und Geist wirkte? Die performativere Art der Trauer hat ja vermutlich einen sehr unmittelbaren Effekt.
Man fühlt sich leichter dadurch. Trauer hat eine unmittelbar körperliche Dimension, die wir als Menschen nicht leugnen sollten. Selbst­verständlich ist Trauer zutiefst emotional. Sie ist etwas Spirituelles und Mentales, aber sie ist eben auch physisch. Das sage ich als jemand, der schockiert war davon, wie körperlich das alles war. Manchmal kam ich morgens kaum aus dem Bett, und das war körperlich schwierig, nicht emotional. Ich war so schwer. Mein Gewicht war das Vierfache, und mein Herz schmerzte. Und wenn man das auf irgendeine Art über die Stimme zum Ausdruck bringt, hat es, glaube ich, eine ähnliche Funktion wie im Westen die Gesprächs­therapie. Die Trauer hörbar zu machen, heisst, du lässt es raus. Denn wir sind nicht nur geistige, sondern auch körperliche Wesen. Und ich bin sehr froh, dass wir beide Zeremonien hatten. Das wäre der Wunsch meines Vaters gewesen. Und es war auch der meiner Mutter.

Ein schwieriges Thema, das Sie schon berührt haben, ist das Kondolieren. Welche Art von Beileids­bekundungen haben für Sie am ehesten Trost bedeutet?
Ein einfaches «Es tut mir so leid». Je einfacher die Worte waren, desto geringer die Gefahr, dass mich etwas daran störte. (lacht) Denn Trauer macht uns auch irrational. Dass ich mich über Menschen geärgert habe oder noch immer ärgere, ist natürlich in gewisser Weise irrational, denn sie meinten es ja gut. Sie sind ja nicht gekommen, um mich wütend zu machen, aber am Ende haben sie mich zutiefst verärgert. Etwa wenn jemand sagte: «Nun, er ist tot, feiere einfach sein Leben», dachte ich nur: What the fuck? Hingegen fand ich es sehr tröstlich, wenn Leute etwas sagten wie: «Ich kann natürlich nicht ausdrücken, wie du dich fühlst, aber ich weiss, wie schwierig es für dich sein muss.» Oder eine Freundin, von der ich lange nichts gehört hatte, meinte: «Ich weiss gar nicht, was ich dir sagen soll. Als ich es erfuhr, hatte ich so Angst und fühlte mich schrecklich, weil ich weiss, was deine Eltern dir bedeuteten.» Das hat mich sehr berührt, eben weil sie selbst mit der Ungeheuerlichkeit dieser Sache zu kämpfen hatte. Menschen, die mich seit Jahren kennen, wissen, wie eng wir als Familie sind. Ich war so ein Daddy’s Girl, habe meinen Vater so sehr verehrt. Als tröstlich empfand ich es auch, wenn Menschen aufrichtig von eigenen Verlusten sprachen. Eine Frau hat mir erzählt, die Leute hätten nach dem Tod ihres Mannes zu ihr gesagt: «Oh, er ist aus dem Leben geschieden.» Und sie habe dann angefangen, sie anzuschreien: «Er ist tot, er ist tot, er ist tot!» Als sie mir das erzählte, war das für mich ein grosser Trost.

Inwiefern?
Für mich bedeutete ihre Reaktion einen Einspruch gegen diese Tendenz, schön­färberisch über den Tod zu sprechen, anstatt ihm ins Gesicht zu sehen. Wir sagen dann Dinge wie «Er ist unterwegs zu einem besseren Ort». Und sie sagte eben: «Nein, er ist tot!» Und als ich diese Geschichte hörte, dachte ich, es tut so gut zu wissen, dass ich nicht allein bin.

«Trauer hat eine unmittelbar körperliche Dimension, die wir als Menschen nicht leugnen sollten.»

Noch einmal etwas anderes ist es, über Verlust und Trauer zu schreiben. Wie fanden Sie die Form für Ihren zutiefst persönlichen Essay?
Ich glaube nicht, dass ich die Form «gefunden» habe, ich habe einfach geschrieben. Ich bin ein Mensch, der sich immer dem Schreiben zugewandt hat, ich schätze, das ist einfach das, wovon ich glaube, dass ich es kann. Wenn ich glücklich bin, schreibe ich. Wenn ich traurig bin, schreibe ich. Wenn ich zweifle, schreibe ich. Manchmal schreibe ich nur für mich. Also habe ich schon, ich weiss nicht, Tage oder Wochen nach dem Tod meines Vaters, Notizen in mein Handy geschrieben. Und irgendwann, ich weiss nicht … Manchmal habe ich das Gefühl, ich schaue zurück und denke mir Dinge aus, denn ganz ehrlich, ich weiss nicht, wie bewusst ich überhaupt über Fragen von Form, Struktur und Stil nachgedacht habe. Ich habe einfach geschrieben. Selbst die Nummerierungen im Text: Ich weiss nicht mal mehr, wie es eigentlich dazu kam. (lacht)

Die ursprünglich 29 nummerierten Abschnitte des Textes, seine sehr kompakte Form …
Anfangs dachte ich, ich würde schreiben und den Text meinen Geschwistern schicken. Und den ersten Entwurf habe ich dann auch meiner Mutter zu lesen gegeben. Aber irgendwann war mir klar, dass ich den Text veröffentlichen will, und ich glaube, der Grund dafür ist: Ich wollte der Welt sagen, dass er mein Vater war. Ich wollte ihn feiern. Der Tod hat ihn mir genommen, aber ich weigerte mich, die Erinnerung an ihn sterben zu lassen.

Die Entscheidung, den Text nicht nur zu schreiben, sondern auch zu veröffentlichen, war auch eine Entscheidung, öffentlich zu trauern. Gab es einen bestimmten Moment, an dem Sie diesen Entschluss gefasst haben?
Nach dem Tod meines Vaters habe ich eine Anti-Öffentlichkeits­phase durchgemacht, ich wollte niemanden sehen. Ich sah also buchstäblich nur meinen Mann, meine Tochter und meinen Bruder, der in den USA war. Ich konnte ja zu der Zeit nicht nach Nigeria reisen, es war Lockdown. Und wir hatten Freunde und Verwandte in den USA, die mich besuchen wollten, wie es Nigerianerinnen eben machen: Wenn man erfährt, dass jemand ein Eltern­teil verloren hat, steht man auf und geht hin oder ruft an. Aber ich hatte keinerlei Kontakt. Ich nahm keine Anrufe entgegen. Ich weigerte mich, irgend­jemanden zu sehen. Ich hatte einfach das Bedürfnis, allein zu sein mit meinem Schmerz. Und dachte, ich kann einfach nicht rausgehen, ich kann einfach nicht. Das ging eine ganze Weile so. Es dauerte Monate, bis ich bereit war, jemanden zu sehen. Und das war ungewöhnlich, passte eigentlich nicht zur nigerianischen Kultur. Eine Reihe von Leuten fand das auch seltsam, aber das war, was ich brauchte. Und irgendwann, vielleicht, als die nigerianischen Flughäfen wieder öffneten und ich endlich zurück­fliegen konnte, war ich bereit, ein wenig öffentlicher zu trauern. Es hat auch gedauert, bis ich überhaupt aussprechen konnte, dass mein Vater tot war. Es gab Wochen, in denen ich dachte, wenn ich es ausspreche, wird es wirklich wahr. Also unterliess ich es. Und wenn ich im Gespräch mit meinen Geschwistern darauf Bezug nahm, sprach ich vom «10. Juni». Einem Datum also, aber ich sagte nicht, was an diesem Datum geschah.

Sie haben bereits die sehr speziellen Umstände angesprochen: Wegen der pandemie­bedingten Reise­beschränkungen steckten Sie in den USA fest, als Ihr Vater in Abba, dem Heimat­ort Ihrer Familie, starb. Sie waren also voneinander getrennt. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Es hat alles so viel unwirklicher gemacht. Und surreal. Ich wollte gerade sagen, es hat die Art, wie ich trauerte, sehr geprägt, aber ich weiss nicht, ich hatte zuvor nie solche Trauer erlebt, also habe ich gar keinen Vergleich. Aber die ganze Welt fühlte sich damals unwirklich an. Das Drinsein, die lautlosen Strassen. Mein Mann ging zur Arbeit, weil er Arzt ist, aber ich blieb zu Hause mit meiner Tochter, und alles schien stillgestellt. Dann plötzlich erfahre ich, dass mein Vater tot ist, und ich kann nicht zurück. Der Tod ist immer mit einem Gefühl der Ungläubigkeit verbunden. Aber diese Distanz, die Stille und der Lockdown machten alles noch viel unwirklicher. Und schufen umso mehr Distanz. Es gab also nur die Handy­bildschirme, mit meiner Mutter darauf. Sie weint und meine Geschwister weinen, und ich denke, ich sehe gerade etwas, das tatsächlich real ist.

Gemeinsam zu trauern bedeutete also, all die Gefühle auf Zoom teilen zu müssen.
Ja. Und ich muss dazu sagen, dass ich sehr dankbar bin, dass es Zoom gab. Es wäre sonst noch viel schlimmer gewesen. Trotzdem war es eine ganz andere Erfahrung. Vor den Bild­schirmen zu trauern, ist etwas völlig anderes, als wenn man tatsächlich bei seinen Geschwistern ist. Und als ich das endlich konnte, trat der Unterschied offen zutage, weil es sich einfach so viel besser anfühlte. Jetzt konnten wir einander berühren und in den Arm nehmen. Das macht einen Unterschied.

Sie konnten also schliesslich nach Nigeria reisen, zu einer sehr stark verspäteten Trauerfeier.
Vier Monate verspätet, ja.

Waren Sie auch in Nigeria, als Ihre Mutter starb?
Ja, das war ich. Tatsächlich sah ich meine Mutter … Ich habe sie drei Wochen vor ihrem Tod gesehen. Mein Wohnort in Nigeria ist Lagos, meine Mutter lebt im Heimat­ort unserer Familie. Dort arbeitete sie auch und kam nach Lagos immer nur zu Besuch. Dieses Mal war sie dort, um ihren Reise­pass zu erneuern, weil wir wollten, dass sie uns auch in den USA besuchen kann. Als sie wieder zu Hause war, ging sie an einem Freitag noch zur Arbeit und war am Montag­morgen tot. Tags darauf reiste ich in meine Heimat­stadt. Also ja, ich war in Nigeria, und dieses Mal in der Nähe zu sein, bedeutete einen Unterschied. Ich meine, der Schock war furchtbar, aber zumindest konnte ich in ein Flugzeug steigen und war nach 45 Minuten da. Ich konnte ins Kranken­haus gehen und sehen, wo sie gestorben ist, und so wurde es für mich auf eine Weise real. Dann aber in unser Haus zu gehen und sie ist nicht da, das war, ja, es war wirklich schrecklich.

Gab es etwas, das Sie und Ihre Mutter ganz alleine teilten, etwas, das nur Ihnen beiden gehörte?
Liebe. (lacht, dann Seufzen) Meine Mutter hatte zu jedem ihrer Kinder eine ganz besondere Beziehung. Mein Verhältnis zu ihr war ganz anders als das zu meinen Schwestern, und sie war uns allen sehr nah. Sie war eine coole Person, warm­herzig und sehr charmant, und mein Verhältnis zu ihr war komplizierter als das zu meinem Vater. Vielleicht weil Mädchen zu ihren Müttern härter sind als zu ihren Vätern. Unseren Vätern vergeben wir leichter. Was vielleicht daran liegt, dass die Mütter uns klarer sehen. Mit meiner Mutter hatte ich öfter Meinungs­verschieden­heiten als mit meinem Vater. Aber sie hat mich auch immer wild entschlossen in Schutz genommen. Mit meinen Geschwistern habe ich immer gescherzt, selbst wenn ich den grössten Mist schreiben würde, meine Mutter würde sagen: «Das ist perfekt!» (lacht) Und wahrscheinlich würde sie es nicht einmal lesen, sie würde einfach sagen «perfekt!». Mein Vater würde es lesen und abwinken.

Aber Sie hatten auch Ihre Auseinander­setzungen, Sie und Ihre Mutter?
Viel mehr als mit meinem Vater, ja. Zwischen meiner Mutter und mir gab es ein ständiges Hin und Her. Und ich glaube, das ist ein Grund, warum ich mich nach ihrem Tod anders fühlte als bei meinem Dad. Ich fühlte mich schuldig und war wütend auf mich selbst, weil ich das Gefühl hatte, manchmal die Zeit damit verschwendet zu haben, mich über Nichtigkeiten zu ärgern. Und ich dachte, dass das einfach nicht … dass ich es hätte besser machen können. Wissen Sie, ich habe meine Mutter verehrt, sie wusste das. Aber wenn man jemanden verliert und darauf nicht vorbereitet ist, wird Reue zu einem bestimmenden Gefühl. Ja.

Haben die Trauer und der Verlust verändert, wie Sie über Ihr eigenes Leben und die eigene Sterblichkeit denken?
Ja, ich plane schon meine Beerdigung! (lacht) Nein, ich denke gerade viel über unsere Sterblichkeit und den Tod nach. Und ich denke immer wieder, mein Gott, ich will nicht sterben, ich muss doch meine Tochter grossziehen. Ausserdem sinniere ich über das Leben und seinen Sinn und darüber, was für ein Leben ich führen möchte. Was möchte ich tun, was soll für mein Leben wirklich wichtig sein? Ganz fundamental: Was ist wirklich wichtig? Ich habe beschlossen, für vieles, dem ich früher Zeit eingeräumt habe, keine Geduld mehr aufzubringen. Das Leben ist zu kurz, um irgendwelchen Unfug zu tolerieren, und das werde ich einfach nicht mehr tun. Ich habe eine Bekannte, die ebenfalls ihre Mutter und kurz darauf ihren Vater verloren hat. Neulich fragte ich sie – und es ist eigenartig, man fühlt sich plötzlich einer Person verbunden, weil sie einen ähnlichen Schmerz durchlitten hat –, ich fragte sie also: Wie hat es dich verändert? Und sie sagte: Es hat mich kälter gemacht. Da habe ich mich gefragt: Wie würde ich diese Frage beantworten? Ich glaube nicht, dass es mich kälter gemacht hat, aber meine Toleranz ist jetzt in kleine Einheiten aufgeteilt. Keine Zeit mehr für Schwachsinn.

Haben diese Erfahrungen auch Ihr Verständnis von Literatur und Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?
Ja, selbst mein Stil ist jetzt ein anderer. Ich bin nicht mehr die pflicht­bewusste Tochter der Literatur. Und auf der Skala von Minimalismus bis Maximalismus bin ich jetzt viel näher beim Maximalismus als früher. Das heisst, ich verweigere die Zurück­haltung. Ich will mich nicht mässigen, sondern lasse das Ungebändigte zu. Da ist also ein Impuls, alles rauszulassen.

Und Lesen? Fanden Sie auch Trost in der Lektüre?
Ja, natürlich. Ich finde immer Trost im Lesen. In allen Lebens­phasen. Aber in den ersten Tagen konnte ich überhaupt nichts lesen. Stattdessen habe ich ferngesehen, skandinavische Krimiserien. Die halfen mir, denn sie sind klug genug gemacht, dass man dabei bleibt. Sie verschafften mir Ablenkung, ohne meine Intelligenz zu beleidigen. Ich habe viel Zeit mit diesen Serien verbracht, dann habe ich mit den französischen weitergemacht. Aber die waren nicht ganz so gut.

Es gibt berühmte Essays über Trauer in der Welt­literatur. Gab es ein bestimmtes Buch, das für Sie wichtig war?
Es gab Zeiten, da wollte ich überhaupt nichts über Trauer lesen. Ich habe Joan Didions «Das Jahr magischen Denkens» wiedergelesen. Nach der Hälfte habe ich es weggelegt. Hingegen fand ich für mich vieles, was nicht direkt von Trauer handelte, aber Verlust thematisierte und dadurch auf andere Weise etwas in mir ansprach. Diese Passagen habe ich oft wiedergelesen, weil sie nun plötzlich eine neue Bedeutung für mich hatten. Um genau zu sein, habe ich mich von Büchern, die sich direkt mit Trauer beschäftigen, eine ganze Zeit lang ferngehalten. Und stattdessen Bücher gelesen wie «When Bad Things Happen to Good People», weil ich mich fragte: Wieso sind wir hier? Ich bin also ein wenig in die Philosophie eingetaucht, und das war manchmal tröstlich. Aber manchmal dachte ich auch: Nein, nein, nein, das ist Unsinn, weil mich die Sachen auch oft nicht überzeugt haben.

Die österreichisch-jüdische Autorin Ilse Aichinger schrieb einmal den Satz: «Schreiben ist sterben lernen.» Können Sie damit etwas anfangen?
Ich versuche noch heraus­zufinden, was das wohl bedeuten könnte ...

Dieser Satz wird oft als sehr düster und pessimistisch verstanden, aber ich glaube, er ist genau das Gegenteil. Vielleicht hat er mehr mit einer Art von Widerstand zu tun, wovon Sie ja eingangs auch gesprochen haben.
«
Schreiben ist sterben lernen» ... Das ist tatsächlich sehr schön.

Letzte Frage: Sie kamen hier nach Düsseldorf für ein Podiums­gespräch mit Angela Merkel. Gibt es etwas, das Sie an diesem Abend gerne noch gesagt hätten, das aber ungesagt blieb?
(lacht) In der Vorbereitung für diesen Abend las ich eine Biografie über Angela Merkel. Ich habe sie immer bewundert, meine Mutter und ich waren begeisterte Angela-Merkel-Fans. Wir haben ihren Weg beobachtet, und meine Mutter hatte immer zu allem eine Meinung. Wir haben also viel über Angela Merkel geredet. Meine Mutter bewunderte Frauen, die etwas bewegten in der Welt, und ich natürlich auch. Ich wusste, dass Merkel aus der ehemaligen DDR kommt, aber bis ich diese Biografie las, war mir nicht klar, dass ihre Familie West­deutschland verlassen hatte und in den Osten ging. Und dass sie als kleines Mädchen immer ihre Grossmutter in Hamburg besuchte und dann zurückkam mit einem perfekten Hamburger Akzent. Es gab in dem Buch also Dinge, die mich wirklich aufmerken liessen. Ich verrate Ihnen, was ich Merkel zunächst hatte fragen wollen und dann dachte: Doch lieber nicht. Ich las über eines ihrer frühen Treffen mit Putin. Offensichtlich hatte Putin Recherchen angestellt und herausgefunden, dass sie Angst vor Hunden hat, weil sie als Kind von einem gebissen wurde. Sie kommt also in den Saal, nimmt Platz, und Putin und seine Leute öffnen die Tür und lassen die Hunde rein. Aber sie sitzt einfach da und tut so, als sei alles in Ordnung. Ich weiss noch genau, wie ich diesen Abschnitt las, an ihrer statt wütend wurde und dachte: Ich würde das nicht hinnehmen! Ich würde zu ihm sagen: Schaff diese verdammten Hunde weg! Also wollte ich sie fragen, warum zur Hölle sie nichts gesagt hat. (lacht) Aber dann dachte ich: Wahrscheinlich ist das keine Frage, die ich ihr wirklich stellen sollte.

Zum Buch

Chimamanda Ngozi Adichie: «Trauer ist das Glück, geliebt zu haben». Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 80 Seiten, ca. 24 Franken.

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