Nicht unser Autor, aber der gleiche Geruch in der Nase: Eau de Toilette – wörtlich übersetzt.

Das Parfüm

Wenn Covid-19 einem den Geruchs­sinn raubt, verschwindet auch ein Stück Orientierung in der Welt. Wie es sich anfühlt, wenn man sich nicht mehr auf seine Nase verlassen kann.

Von Philipp Albrecht (Text) und Scorpion Dagger (Animation), 24.12.2021

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Ich liebe mein Parfüm. Es dauerte eine Weile, bis ich es gefunden hatte. Jetzt ist es ein Teil von mir geworden. Es riecht blumig-würzig nach Bergamotte, Feigen­blättern, Zimt, Jasmin, Zedern­holz, Patschuli, Myrrhe, Vanille und vielem mehr. Oder eher: Es roch. Seit ich mich vor über einem Jahr mit Covid ansteckte, umgibt mich mein Duft als faulige Wolke.

Seither verziehe ich das Gesicht, wenn ich morgens auf das Flakon drücke. Der Duft erinnert mich an einen feuchten Keller. Und es hört nicht auf: Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse geben Covid-Genesenen Hoffnung, dass sich ihr Geruchssinn üblicher­weise bald erholt. Bei mir ist das leider nicht so. Die meisten Gerüche sind tatsächlich zurück­gekehrt, aber einige Dinge riechen immer noch verstörend.

Diese Dysfunktion der Riech­nerven trägt die medizinische Bezeichnung Parosmie und gilt unter deutschen Fach­gesellschaften offiziell als Long-Covid-Symptom. Bis zu 80 Prozent der Covid-Erkrankten sollen in irgendeiner Form davon betroffen sein. Teilweise ist das für sie verbunden mit Depressionen und Appetit­losigkeit – weil der Geruchs­sinn viel mehr für uns bedeutet, als wir vielleicht meinen, etwa um Erinnerungen zu triggern oder vor Gefahren zu warnen. Mir geht es zwar gut, aber seit einiger Zeit bleiben die Fortschritte aus. Und das belastet mich. Muss ich bis zu meinem Lebens­ende mit einem surrealen Riech­fehler leben?

Auf der Suche nach einer Antwort werde ich ein zweites Mal mit dem Virus in Kontakt kommen und schliesslich heraus­finden, was mein Parfüm für mich stinken lässt.

Alles beginnt mit einem metallischen Geruch.

29.10.2020
Meine Nase schwebt über einem kleinen Plastik­becher mit Curry­sauce. Eigentlich müsste mir der Geruch vertraut sein, wir hatten das Gericht schon mehr als einmal ins Home­office bestellt. Doch diesmal fühlt es sich an, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt und müsste nun benommen warten, bis alle Körper­funktionen zurückkehren. Die Sauce riecht wie die Kletter­stange, an der ich mich als Zehn­jähriger in der Turn­stunde nach oben ziehen musste.

Zu diesem Zeitpunkt hatte es sich längst herum­gesprochen, dass ein Geruchs­verlust einer der verlässlichsten Hinweise für eine Corona-Infektion ist. Schon im Frühling hatten mehrere Staaten dieses Indiz auf Listen gesetzt, an denen sich die Menschen orientieren können: Sollten sie eines der Symptome spüren, sollten sie sich vorsorglich isolieren.

Bei mir ist es nicht das erste Symptom, ich war davor bereits ein paar Tage lang zeitweise fiebrig. Darum habe ich mich am Morgen im Spital testen lassen. Das Resultat soll spätestens am nächsten Tag kommen.

30.10.2020
Die Überraschung hält sich in Grenzen, als eine teilnahms­volle Stimme am Telefon sagt: «Sie sind leider positiv, Herr Albrecht.»

10.11.2020
Nach zehn Tagen Isolation fühle ich mich nicht nur gesellschaftlich entfremdet, sondern auch olfaktorisch. Nachdem die Dinge ihren Geruch verloren hatten, verblassten auch die Farben ein wenig. Ich tastete mich unbedarft in der Wohnung herum und versuchte, meinen Verlust zu kompensieren, indem ich viel arbeitete, Musik hörte und Filme schaute. Es half nur bedingt.

Doch am elften Tag rieche ich an den Haaren meiner Freundin, und es fühlt sich an, als hätte ich den Sinnes­verlust nur geträumt. Der allererste unverzerrte Geruch könnte schöner nicht sein.

Ein tiefer Zug aus der Kaffee­dose bestätigt den Fortschritt zumindest im Ansatz. Doch das meiste, was ich mir an die Nase halte, löst im Kopf wenig aus. Müsste ich den Zustand meines Geruchs­sinns auf mein Augen­licht übersetzen, dann fühlt es sich an, als würde ich alle Objekte nur auf einige Entfernung im Nebel sehen können.

Besonders irritierend ist aber an diesem Morgen der Geruch meines Parfüms, das ich länger nicht mehr benutzt habe. Es riecht muffig, faulig, falsch. Ich halte es meiner Freundin hin, die es unverändert mag.

Wie sich in den nächsten Wochen heraus­stellen wird, litt ich in den ersten Tagen nach der Infektion unter einer sogenannten Anosmie: Ich roch praktisch nichts. Nun schien der Geruchs­sinn in kleinen Schritten zurück­zukehren. Aber irgendwie war die Wahrnehmung gestört. Jetzt litt ich an Parosmie.

Wie funktioniert die Geruchs­wahrnehmung eigentlich? Ich lese nach, dass alles, was riecht, flüchtige Duft­moleküle abgibt. Unsere Nase nimmt sie auf und führt sie der Riech­schleimhaut zuoberst in unserer Nasen­höhle zu. Dort gelangen sie in die Millionen von Nerven­zellen, die gemeinsam Rezeptoren für rund 400 verschiedene Duft­stoffe besitzen und mit dem Riech­kolben verbunden sind. Dieser gibt die Informationen an verschiedene Bereiche im Gehirn weiter. Der Grossteil gelangt ins limbische System, das für Gefühle, Gedächtnis, Verhalten und Stimmung zuständig ist – darum sind Düfte sehr oft mit starken Gefühlen und lebendiger Erinnerung verbunden.

Schon vor Corona kam es vor, dass Menschen nach einem Infekt der oberen Luftwege ihren Geruchs­sinn verloren. Darum weiss man, dass es in solchen Fällen oft die Riech­zellen sind, die in Mitleidenschaft gezogen werden. Davon geht man auch beim Sars-CoV-2-Virus aus: Die Nase ist schliesslich das bevorzugte Eintritts­portal für das Virus.

Was es aber konkret in der Nase anstellt, ist noch nicht klar erforscht. Unbestritten ist nur, dass die Riech­störung inzwischen der stärkste Hinweis auf eine Covid-Erkrankung ist und dass bei den allermeisten Betroffenen der Geruchs­sinn nach ein paar Wochen grössten­teils zurückkehrt.

Mehr musste und wollte ich zu jenem Zeitpunkt nicht wissen. Mir reichte die Gewissheit, dass es aufwärts­gehen würde. Und dass es in der Post-Quarantäne-Euphorie sowieso nur einen Weg gab für mich: nach draussen, wo ich trotz Eiseskälte möglichst viele alte Gerüche neu entdecken wollte.

8.1.2021
Peperoni. Etwas, das ich seit Wochen nicht mehr gegessen habe. Das stelle ich in dem Moment fest, als ich einen pilzigen Geschmack wahrnehme. Peperoni schmeckt eigentlich anders.

«Peperoni, Zwiebel, Knoblauch, Fleisch und manchmal auch Zahnpasta sind die typischen Beispiele, die ich in meiner Riech­sprechstunde höre», wird Professorin Antje Welge-Lüssen elf Monate später am Telefon sagen. Sie ist leitende Ärztin der Hals-Nasen-Ohren-Klinik (HNO) am Universitäts­spital Basel. «Es scheinen bestimmte Duft­moleküle zu sein, die viele Patienten mit Parosmie wohl eher wieder riechen als andere, was dann zum Fehl­riechen führt.» Mehr wisse man dazu noch nicht.

Ich versuche zu diesem Zeitpunkt Anfang des Jahres, mehr über den Geschmacks­sinn heraus­zufinden, auch weil ich etwas Seltsames an mir festgestellt habe: Wenn ich Leitungs­wasser aus dem Glas trinke, riecht und schmeckt es neuerdings leicht ledrig und ein bisschen medizinisch.

Bei meinen Nach­forschungen erfahre ich, wie wichtig die Nase eben nicht nur fürs Riechen ist, sondern auch fürs Schmecken. Die meisten Gerüche, die wir scheinbar im Mund wahr­nehmen, werden in Wahrheit über die Nase abgefertigt. Die Zunge unterscheidet nur die Geschmäcker süss, salzig, sauer, bitter und umami/fleischig. Alles andere transportiert die Nase: Gerüche gelangen über den Rachen in den Nasen­raum, weiter zur Riech­schleimhaut und ins Gehirn, wo das Geschmacks­erlebnis komplettiert wird.

Die Verzerrung im Leitungs­wasser, die ich feststelle, muss darum auch mit der Nase zusammen­hängen. Mein Geschmacks­sinn im Mund scheint in Ordnung zu sein. Das ganze Frühjahr über fällt mir auf, wie verzerrt mein Riech­vermögen ist. Besonders bei Parfüms: Auf der Strasse gerate ich regelmässig in stinkige Duft­wolken. Es riecht, als hätte man den Ausdruck Eau de Toilette bei der Produktion allzu wörtlich interpretiert. Während mich umgekehrt Toiletten­geruch – ironischer­weise – weniger stört als früher, wie ich bald bemerken sollte.

18.6.2021
An einem der wenigen sonnigen und heissen Tage dieses Sommers schlurfe ich ins Männer­klo der Badi Mythen­quai und nehme am Pissoir anerkennend zur Kenntnis, dass das städtische Reinigungs­personal ganze Arbeit geleistet hat. Für eine öffentliche Toilette in einer vollen Badi riecht es ausser­gewöhnlich sauber, ja steril.

Erst nach dem Hände­waschen und zurück auf meinem Bade­tuch fällt der Groschen. Ich eile zurück ins Klo, nehme einen tiefen Zug. Ich sehe das Produktions­labor eines Basler Pharma­konzerns vor mir, über dessen Eröffnung ich vor Jahren geschrieben hatte. «Klinisch» wäre der olfaktorische Begriff dafür.

Ähnlich ergeht es mir kurz darauf in der Republik-Redaktion, wo ab und zu ein unbehaglicher Geruch aus dem Keller ins Treppen­haus gelangt. «Ich dachte, das Problem hätte man gelöst», ächzt eine Kollegin und hält sich die Nase zu, während ich mich schon wieder im Pharma­labor wähne.

In diesem Moment begreife ich, dass ich etwas unter­nehmen muss. Ich sehe ein, dass ich mich monate­lang geweigert hatte, mich seriös um meine Gesundheit zu kümmern. Und ich frage mich, warum ich bei einem gestörten Geruchs­sinn keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe. Hätte sich mein Augen­licht getrübt, wäre ich längst bei der Augen­ärztin gewesen. Liegt es daran, dass Menschen grundsätzlich ihrem Geruchs­sinn nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken? Dass wir, wie so oft im Leben, die Bedeutung von etwas erst sehen, wenn wir es verlieren?

Weil wir so stark visuell orientiert sind, neigen wir dazu, die anderen Sinne zu vergessen, schreibt Bill Hansson, Leiter des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena, in seinem Buch «Die Nase vorn – Eine Reise in die Welt des Geruchs­sinns». «Geruch hat auch etwas Primitives. Etwas, das wir vermeiden wollen. Denken wir nur daran, wie viel Mühe wir darauf verwenden, unseren eigenen, natürlichen Geruch zu verbergen, mit künstlichen Düften zu überdecken oder mit Deodorant zu verhindern.»

Jetzt, nach Monaten des Wartens und Hoffens, entschloss ich mich zu handeln. Mein Parfüm stinkt zu jenem Zeitpunkt unvermindert weiter. Trotzdem sprühe ich mich damit ein, bevor ich das Haus verlasse. Fast wie aus Trotz – als könnte ich damit gegen die Parosmie ankämpfen.

Meinen Hausarzt kontaktiere ich trotzdem noch nicht. Stattdessen stosse ich über einen Bekannten auf eine viel bessere Idee. Man solle regelmässig an spezifisch riechenden Dingen schnuppern, wird mir erzählt.

Eine Metastudie bestätigt die positive Wirkung eines solchen Geruchs­trainings, die Rede ist sogar von «signifikanten Verbesserungen». Online stosse ich auf Artikel aus Deutschland, wo Betroffene auf Anraten eines HNO-Spezialisten Riech­sticks in Apotheken gekauft haben. Doch in der Schweiz scheint man davon noch keine Kenntnis zu haben: Nach drei Apotheken gebe ich auf und kaufe mir in einem Laden für komplementäre Medizin ätherische Öle. Die sollen die gleiche Wirkung haben, heisst es.

Morgens und abends rieche ich von nun an zwei Minuten lang an Eukalyptus, Zitrone und Arve und versuche, sie zu unterscheiden. Zitrone riecht unverkennbar, aber die beiden anderen kann ich kaum auseinander­halten.

Drei Wochen später kaufe ich mir Bitter­orange und Balsam­tanne dazu. Nicht nur, weil ich abwechseln möchte, sondern weil ich mit der Zeit Gefallen am Schnüffeln finde. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber das tägliche Ritual wirkt sich positiv auf mein Wohl­befinden aus. Ich fühle mich entspannter, oft angeregt und manchmal sogar euphorisch.

Doch leider hält sie nicht an, die Euphorie.

24.11.2021
Ich bin an einem Punkt angekommen, der eine Entscheidung verlangt. Die Richtung stimmt, das Tempo nicht. Im September in der Provence hatte ich die uralte, in Abermillionen von Haushalten verwendete Provence-Kräuter­mischung neu entdeckt. Plötzlich fiel mir auf, wie wunderbar die Kombination aus Rosmarin, Thymian, Majoran und Lavendel riecht. Aber sonst gibt es kaum Fortschritte.

Zwar hat Leitungs­wasser seinen Geruch wieder verloren und ich kann Eukalyptus und Arve immer besser auseinander­halten. Doch die Sache mit den Körper­ausscheidungen hat sich nicht verändert, auch wenn mich das weiterhin eher fasziniert als frustriert. Aber was bringt es mir im Leben, wenn Urin und Stuhl nett riechen, ich dafür aber eine potenzielle Gefahren­quelle wie Gas nicht erkenne? Ich fühle mich hilflos, weil ich mich nicht mehr ganz auf meine Sinne verlassen kann.

Was mich dabei am meisten nervt: mein Parfüm. Sein Duft hat sich kein bisschen verändert. Etwas, das ein Teil meiner Identität geworden war, ist mir fremd geworden. Ich beginne, die Stationen der Veränderung aufzuschreiben, beschliesse, mich intensiver in den Stand der Wissenschaft einzulesen und mit einer Hals-Nasen-Ohren-Expertin zu reden. So stosse ich auf Antje Welge-Lüssen vom Basler Unispital.

Und das wird zum Start­schuss für eine emotionale Achterbahnfahrt.

2.12.2021
Die Wissenschaft hat unterdessen einige Erkenntnisse zu Covid-19 und dem Verlust des Geruchs­sinns gewonnen. Bei den Schluss­folgerungen ist allerdings Vorsicht geboten, weil viele Studien während der Pandemie in Echtzeit geteilt werden, noch bevor sie die üblichen Prüfungs­verfahren durchlaufen haben.

Offenbar infizieren sich in der Nasen­schleimhaut nicht die Riech­zellen, die für die Geruchs­wahrnehmung verantwortlich sind, sondern die Stütz­zellen, die die Riech­zellen umhüllen, über deren genaue Funktion in der Wissenschaft aber noch keine Einigkeit herrscht.

Bekannt ist, dass Stütz­zellen den Eintritts­rezeptor ACE2 bilden, den Sars-CoV-2 wiederum nutzt, um mit seinem Spike­protein an die Zellen anzudocken und sie zu infizieren. Das würde auch erklären, warum ältere Menschen schwerer vom Virus getroffen werden können – sie besitzen mehr ACE2-Rezeptoren als jüngere Menschen.

Ebenfalls gesichert ist, dass sich die Riech- und Stütz­zellen alle vier bis acht Wochen erneuern. Das entspricht in etwa der Zeitspanne, in der die meisten Covid-Infizierten unter den stärksten Geruchs­störungen leiden.

Aber eben: Bei einigen dauert es noch etwas länger.

Ich entdecke die Facebook-Gruppe «Covid-19 Smell and Taste Loss», wo ich auf Leidens­genossinnen treffe und mich komplett in ihren Berichten verliere. Über 33’000 Menschen aus der ganzen Welt tauschen Tipps, stellen Fragen und sprechen sich Mut zu. Jemand kündigt an, seine Seele zu verkaufen, um einfach wieder Kaffee riechen zu können. Allein 106 Antworten gab es zur Frage: «Habt ihr, wie ich, auch etwas gegessen, das ihr eigentlich hasst, und jetzt mögt ihr plötzlich den Geschmack?» Und einer schreibt, seine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin habe ihm empfohlen, zweimal täglich mit einer Koch­salz­lösung und einem Nasen­steroid die Nase zu spülen – sechs Monate lang.

5.12.2021
Am Tag zuvor verbrachte ich vier Stunden mit Freunden und ihren Kindern beim Brunch. Jetzt meldet der Gastgeber, der doppelt geimpft ist, dass er positiv auf Covid-19 getestet wurde.

Was geht mir als Erstes durch den Kopf? Nicht die Unlust auf einen schmerz­haften PCR-Test oder die drohende Quarantäne. Ich fürchte nichts mehr, als meinen Geruchs­sinn ein zweites Mal zu verlieren. Das Entsetzen packt mich beim Gedanken, nochmals von vorne beginnen zu müssen, die Kletter­stange, das medizinische Leitungs­wasser – und was, wenn die Riech­nerven nach der zweiten Infektion überhaupt nicht mehr nachwachsen?

Mein Freund, der infizierte Gastgeber, sass einige Zeit direkt neben mir, während wir uns ausgiebig unterhielten. Infektiologen würden wohl sagen, wir hätten intensiv Aerosole ausgetauscht. Das Virus muss meine Riech­nerven ein zweites Mal erreicht haben. Die Frage ist: Habe ich durch meine Infektion vor über einem Jahr und meiner doppelten Impfung im Juni genug Antikörper produziert? Halten meine Rezeptoren dicht?

In einer Chat­gruppe halten wir uns in den nächsten Tagen auf dem Laufenden. Während meinem Freund der Geruchs­sinn entschwindet und er sich, vorbildlich, gleich ätherische Öle zulegt, erinnere ich mich an Einträge in der Facebook-Gruppe. Betroffene berichteten davon, dass sie sich zweimal mit Covid ansteckten und beim zweiten Mal, nachdem sie mit viel Riech­training die Anosmie bekämpft hatten, den Geruchs­sinn wieder verloren. Einige davon klangen verzweifelt. Mir bleibt gerade nichts als die Hoffnung.

9.12.2021
Nach vier Tagen und zwei negativen Selbst­tests atme ich auf. Ich habe keinerlei Symptome. Jeden Morgen schnuppere ich gleich nach dem Aufwachen an meiner Zahn­pasta, an der Kaffee­dose oder an den ätherischen Ölen, um mich zu vergewissern, dass alles gut ist.

Dafür gehe ich nun endlich der Frage nach, die mich nach einem Jahr immer noch umtreibt: Wieso stinkt mein Parfüm?

Sie führt mich in ein unauffälliges Gewerbe­haus in Zürich-Wiedikon, wo ich mich in eine «Misch­kabine» vor knapp 500 Alu­fläschchen setze. Der Zürcher Parfümeur Andreas Wilhelm hat sich bereit erklärt, mir zu helfen. Er fand die Idee reizvoll, anhand der Bestand­teile des Parfüms herauszufinden, welcher davon verzerrt durch meine Nase geht. Wilhelm kannte als Experte die Ingredienzen meines Parfüms schon, bevor ich ihn kontaktiert hatte. Es besteht aus 43 Rohstoffen, davon sind aber nur 8 natürlich, also in Form von ätherischen Ölen. Der Rest sind chemische Verbindungen, basierend auf Terpenen und Erdöl.

In der Kabine gehe ich einen Rohstoff nach dem anderen durch. Ich finde mich bald in einem Zitronen­hain schlendernd, entspannt unter einer Zeder liegend, wo mir schliesslich eine warme Brise einen Hauch von Kumarin, Vanille und Bergamotte zuträgt.

Das geht gut zwanzig Minuten so weiter. Bis mich ein schwerer, aufdringlicher, muffiger Geruch jäh zurückholt. Ich erkenne ihn sofort. Seit einem Jahr streift er fast täglich meine Nase – jetzt halte ich ihn etwas zu fest in meiner Hand. Ich rieche viermal, fünfmal, sechsmal daran und lasse das Fläschchen nicht mehr los. Das Adrenalin schiesst durch meinen Körper. Dann werde ich euphorisch, weil es sich anfühlt, als wüsste ich vor laufender Kamera die Antwort auf die Eine-Million-Franken-Frage.

Das Etikett sagt: Amber Xtreme. Ein verstörender Name.

Echte Ambra gilt als einer der wertvollsten Düfte, die die Natur je hervor­gebracht hat. Man spricht auch von «Meeres­gold». Ambra stammt aus dem Darm oder dem Magen von Pottwalen, dem grössten Raubtier der Erde. «Walkotze, blöd gesagt», lächelt Wilhelm.

Frisch ausgeschieden ist Ambra noch alles andere als wohl­riechend. Erst nachdem sie einige Zeit auf der Wasser­oberfläche geschwommen, mit Licht, Luft, Salzwasser in Kontakt gekommen und später einige Monate in Alkohol aufbewahrt worden ist, entwickelt sie ihren Duft, der auch als aphrodisierend beschrieben wird.

In «Moby-Dick» schreibt Herman Melville: «Wer würde wohl denken, dass die feinsten Damen und Herren sich an einem Wohlgeruch laben, den man aus den ruhmlosen Gedärmen eines kranken Pottwals holt! Und doch ist es so. Der graue Amber wird von manchen für die Ursache, von anderen für die Folge mangelhafter Verdauung gehalten, an der Wale mitunter leiden.»

Wilhelm legt mir einen sogenannten Ambergris hin, eine gräulich-schwarze, wachsartige Kugel, so gross wie ein Golfball. Er stammt von einem schottischen Ambergris-Hunter, der mit seinem Hund am Strand nach dem Rohstoff sucht. Wilhelm benutzt echten Amber nur für die edelsten Düfte. Weil dieser hier noch nicht bearbeitet worden ist, riecht er noch leicht modrig mit einem salzig-meerigen Unterton. Mit Amber Xtreme, das synthetisch hergestellt wird, hat der Ambergris nur wenig gemein. Amber Xtreme wird vom Konzern International Flavors & Fragrances produziert. «Dieses Unternehmen verkauft Düfte nicht in kleinen Fläschchen, sondern in Tank­lastwagen», lese ich später im Buch «Die Nase vorn».

«Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber Amber Xtreme hat einen gewissen Prolo-Charakter», sagt Parfümeur Wilhelm. «Es ist ein Duft, den alle riechen. Er ist nicht unbedingt sehr elegant, bleibt aber sehr lange erhalten und hat eine ziemliche Ausstrahlung.»

Meine Eine-Million-Franken-Euphorie macht einer leisen Enttäuschung über die fehlende Subtilität meines Parfüms Platz.

10.12.2021
In der Vorweihnachts­zeit entdecke ich ein neues Phänomen an meinem Geruchs­sinn. Wenn ich an Duftkerzen, Pflege­produkten und Gewürz­mischungen rieche, schrecke ich zunehmend vor überladenen, dichten Düften zurück, als wäre ich sensibler geworden. Auch die Parfüm­wolken auf den Strassen scheinen jetzt noch aufdringlicher zu sein.

An meinem eigenen Parfüm halte ich nach wie vor fest. Nicht nur, weil es noch zu drei Viertel gefüllt ist, sondern weil es längst zum Symbol meines Widerstands gegen die Anerkennung des Problems wurde. Weil es mich mit dem unversehrten alten Ich verbindet.

Also muss ich den Amber-Geruch in meiner Nase zurück­gewinnen. Parfümeur Wilhelm kann mir nicht weiterhelfen. Also frage ich Antje Welge-Lüssen: Kann ich trainieren, Amber wieder richtig zu riechen?

«Das kann man so nicht sagen», antwortet die HNO-Professorin. «Aber die Chance ist gross, dass es irgendwann weniger falsch riecht, wenn sich Ihr Riech­vermögen durch konsequentes Training verbessert.»

Sie würde fast ihre Hand ins Feuer legen, ergänzt sie, dass mein Riech­vermögen, wenn man das genau testen würde, noch nicht im Norm­bereich sei. Ich sage ihr, dass es sich für mich so anfühlt, als sei ich inzwischen bei 95 Prozent. Darauf antwortet sie: «Nach meiner Erfahrung würde ich sagen, dass Sie vielleicht bei 70 Prozent sind. Es ist bekannt, dass die Selbst­einschätzung des Riechvermögens sehr unzuverlässig und ungenau ist.»

11.12.2021
70 Prozent. Ich weiss nicht, ob ich es überhaupt genauer wissen möchte. Auf meine Frage, wann sich ein Besuch in der HNO-Klinik lohne, antwortet Antje Welge-Lüssen: «Das hängt vom Leidens­druck ab.»

Würde ich mich ausführlich testen lassen, müsste ich mich etwa eine Stunde lang durch mehr als 90 Gerüche durch­schnuppern. Abgesehen von den Unispitälern in Basel und Genf weiss Welge-Lüssen von keiner anderen HNO-Klinik in der Schweiz, die bereits seit Jahren so ausführliche Tests inklusive Nasen­spiegelung in der Riech- und Schmeck­sprechstunde macht, «obwohl inzwischen auch die anderen Universitäts­kliniken in kleinerem Masse Riech­sprechstunden anbieten». In Basel können sie aktuell maximal zehn Personen pro Woche testen, und die Nachfrage ist so gross, dass man zwischen zwei und drei Monaten warten muss.

Erst mal kaufe ich mir neue ätherische Öle: Rosen­geranium und Lemon­grass. Laut Welge-Lüssen ist wichtig, dass man das Riech­training konsequent und regelmässig macht, dazwischen die Düfte auswechselt und auf verschiedene Duft­kategorien setzt. Eigentlich sollten dafür sechs Monate reichen, aber wer weiss das schon genau? Einen wissenschaftlichen Konsens darüber, wie lange die Parosmie anhalten kann, gibt es noch nicht.

12.12.2021
Es ist Sonntag­nachmittag, meine Freundin und ich wollen ein bisschen Sonne tanken. Wir stehen einen Moment vor dem Haus, während sie tief einatmet und sagt: «Holzfeuer. Ich liebe diesen Geruch.» Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, weil sie letzten Winter einmal das Gleiche gesagt hatte, während wir zusammen aus dem Haus traten.

Damals roch ich nichts. Diesmal sehe ich ein Lager­feuer und spüre, wie Zuversicht in mir aufsteigt.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: