«Das war der Moment, in dem ich begriff, dass der Anschlag wirklich uns galt»

Heute vor sechs Jahren starben bei islamistisch motivierten Attentaten 130 Menschen in Paris, 89 davon im «Bataclan» an einem Konzert. Einer davon war Matthieu Giroud. Seine Witwe Aurélie Silvestre erinnert sich.

Von Aurélie Silvestre (Text) und Andreas Bredenfeld (Übersetzung), 13.11.2021

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Aurélie Silvestre, eine Aufnahme aus dem Jahr 2016. Jean-Luc Bertini/Pasco
Das Ticket zum Konzert im «Bataclan» am 13. November 2015. Alexandre Guirkinger

Eines vorweg: Ich habe lange gezögert, ob ich hier als Zeugin aussagen soll, denn ich finde, ich habe meine Geschichte schon erzählt – direkt nach den Anschlägen. Ich habe weder ein besonderes Bedürfnis noch grosse Lust, sechs Jahre danach noch einmal darüber zu sprechen. Ich bin nicht mehr ganz die Frau, die ich vor sechs Jahren war, und hatte die Befürchtung, dass es etwas Unzeitgemässes hat, wenn ich heute das Wort ergreife. Jetzt stehe ich aber heute doch an diesem Mikrofon.

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Aurélie Silvestre hat am 21. Oktober 2021 mit dieser Rede im «Bataclan»-Prozess ausgesagt. Die Rede wurde unter dem Titel «Je suis devenue une athlète du deuil» auf der Website von «France Inter» veröffentlicht. Der Prozess begann am 8. September. Mit einem Urteil ist frühestens im Mai 2022 zu rechnen.

Ich habe mir gesagt: Ein letztes Mal werde ich meine Geschichte noch erzählen, hier in diesem sonderbaren, flugzeugähnlichen Saal, in dem ich seit anderthalb Monaten meine Tage zubringe. Ich werde meine Geschichte symbolisch hier bei Gericht hinterlegen. Vielleicht gibt dies nebenbei dem Gericht Aufschluss darüber, was Terror anrichtet, wenn er so heftig in ein Leben einbricht, dass dieses Leben nie wieder normal sein wird.

Ein letztes Mal werde ich also über meine Geschichte sprechen – und sie zugleich zum ersten Mal im Detail vor meinen Familien­angehörigen erzählen, die heute hier sind (und zum Teil einen weiten Weg zurück­gelegt haben). Wir haben die Geschehnisse gemeinsam durchlebt, aber wie sie sich für mich angefühlt haben, wissen nur wenige. Es ist bestimmt gut, wenn sie hören, was ich erzählen werde, bevor ich versuche, dieses Kapitel wieder zu schliessen.

Also, meine Geschichte geht so:

Am 13. November 2015 war ich 34 Jahre alt. Ich wohnte mit Matthieu im 10. Arrondissement von Paris. Matthieu und ich waren seit fast 15 Jahren ein Paar. Kennengelernt haben wir uns im Zug. Damals waren wir gerade Anfang zwanzig. Wir hatten uns schon längere Zeit gemocht, bevor wir uns füreinander entschieden haben. Wir mussten uns erst schreiben und ganz viel Musik zusammen hören. Eines Tages haben wir uns schliesslich getraut. Er klingelte an meiner Tür und sagte: «Ich bin bereit.» Seitdem waren wir nie wieder getrennt. Wir sind in gewisser Weise zusammen erwachsen geworden und haben in aller Ruhe für uns definiert, wie die Liebe sich gestalten muss, damit sie ein Leben lang hält. Wenn ich von Matthieu sprach, nannte ich ihn mein Zuhause.

Am 13. November 2015 war Matthieu Geografie­professor an der Uni, und ich arbeitete bei meiner Freundin Nadia, einer Schmuck­designerin. Wir kosteten das Leben aus, das wir uns gemeinsam ausgemalt hatten. Bei uns gab es immer Musik und eine Flasche Whisky, die darauf wartete, spontan mit vorbei­kommenden Freunden verkostet zu werden.

Wir hatten einen kleinen dreijährigen Gary, der die ganze Wohnung unsicher machte, und mein Bauch wurde jeden Tag ein bisschen grösser und runder.

Nach zwei schmerzhaften Fehlgeburten wuchs in meinem Bauch endlich ein Baby heran, von dem wir seit der Ultraschall­untersuchung am 6. November wussten, dass es ein Mädchen werden würde. Wir freuten uns über alle Massen und genossen das Glück, dass wir uns so innig liebten, dass wir Pläne und Träume und ein Leben lang Zeit hatten, sie zu verwirklichen. Es war fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Manchmal machten wir uns über unsere eigene Klischee­haftigkeit lustig.

Sie sehen: Am 13. November 2015 waren Matthieu und ich ziemlich glücklich. Entsprechend gut gelaunt fingen wir den Tag an.

Es war ein ganz normaler Freitag. Ehrlich gesagt, er war sogar schöner als andere Tage, weil Matthieu und ich uns am 11. November gestritten hatten (nichts Schlimmes – es ging darum, wie wir unseren Tag gestalten) und uns seit zwei Tagen gegenseitig liebevolle SMS schickten, um die letzten Wogen zu glätten. An dem besagten Freitag schrieb ich ihm: «Ich liebe dich. Du bist ein fantastischer Vater.» Er sagte mir, dass er mich liebe und ihm klar sei, dass die Schwangerschaft für mich nicht immer leicht sei. Er wisse, dass ich eine starke und mutige Frau sei und alles gut werden würde.

Am 13. November 2015 sagte er mir gegen 17 Uhr, er sei mit seiner Arbeit eher fertig als gedacht und könne Gary vom Kinder­garten abholen. Wenn ich Lust hätte, könnte ich die Zeit nutzen, um ein bisschen Sport zu machen. Als ich um kurz vor 19 Uhr nach Hause kam, fand ich auf dem Wohnzimmer­tisch die aktuelle «ELLE» und eine Cola Zero; beides hatte er für mich mitgebracht. Heute Abend würde er sich um alles kümmern, und ich hörte, wie er mit Gary «Sturm in der Badewanne» spielte. Bei dem Gedanken, dass hinterher wieder das ganze Bad gewischt werden musste, wurde ich leicht ungnädig, aber sie hatten so viel Spass, dass ich mit meinem kleinlichen Genervt­sein gleich ein paar Spritzer davon abbekam. Wir assen zu dritt zu Abend. Matthieu hatte eigentlich gar keine grosse Lust mehr, zu dem Konzert zu gehen. Er war kein eingefleischter «Eagles of Death Metal»-Fan. Die Eintritts­karte hatte er nur gekauft, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass Dave Grohl von den «Foo Fighters» in Paris sei und sich an dem Abend vielleicht auf der Bühne zeigen würde. Das war ein Insider­ding, mit dem ich nichts anfangen konnte, aber das machte er öfter.

Es gehört wohl zu den klassischen Mustern einer Paarbeziehung, dass jeder vom anderen erwartet, dass er uns alle Schuld­gefühle nimmt, die wir haben, wenn wir weggehen. Genüsslich erteilte ich Matthieu die Absolution und sagte ihm, er dürfe heute Abend bedenkenlos ausgehen. Ich sei froh, wenn ich früh ins Bett komme, die Musik sei schliesslich sein Lebens­elixier, und uns bleibe ja noch das ganze Wochenende, um als Familie Spass zu haben. Schliesslich konnte ich ihn überzeugen, aber bevor er aufbrach, wollte er noch Gary ins Bett bringen. Ich hörte ihn zu Gary sagen: «Ich hab dich lieb. Bis morgen.»

Ich sah, wie er durch das Wohnzimmer ging – lange genug, damit ich mir sagen konnte, dass ich ihn schön fand.

Er griff sich meinen Schal – meinen Lieblings­schal – und wickelte ihn sich um den Hals. Er gab mir einen Kuss und versprach, nicht allzu spät nach Hause zu kommen. Als die Aufzugtür sich hinter ihm schloss, wusste ich nicht, dass in seiner Tasche ein Foto von den Schuhen steckte, die er als Weihnachts­geschenk für mich besorgen wollte.

Ich zog den Schlüssel aus dem Wohnungstür­schloss, liess im Wohnzimmer eine Lampe an, damit er Licht hatte, wenn er wiederkam, und ging zu Bett. Am 13. November um 21.46 Uhr schickte er mir eine SMS: «Das rockt.» Ich schickte ihm keine Nachricht zurück, denn ich wusste nicht, was ich darauf hätte antworten sollen! :)

Gegen 22.30 Uhr rief mich Nadia an, die Freundin, bei der ich arbeitete. Sie weinte. Sie stand auf der Strasse, im 11. Arrondissement. Es werde überall geschossen, sagte sie. «Paris brennt.»

Sie hatte angerufen, weil sie von mir beruhigt werden wollte. Ich sagte ihr, Matthieu sei im «Bataclan».

Nadias Panik war sofort vorbei. Ich glaube, ihre Panik machte den Weg frei für meine. Nadia sagte, ich solle auflegen und den Fernseher einschalten. Das tat ich, und ich begriff sofort. Nein, ich begriff nicht, sondern ich wusste. Ich wusste, dass er nicht mehr nach Hause kommen würde. Dass alles, was ich bis dahin aufgebaut hatte, sich gerade in nichts auflöste, an einem einzigen Abend.

An das, was später an diesem Abend passierte, habe ich keine besonders klare Erinnerung. Bei mir setzte sofort die «Affekt­abspaltung» ein, von der hier schon mehrfach die Rede war. Das ist ein Abwehr­mechanismus, der uns davor schützt, verrückt zu werden, und uns ein bisschen von der Wirklichkeit ablöst, damit wir sie leichter aushalten. Mit anderen Worten: Ich setzte mich neben mich selbst und verhielt mich beinahe wie eine Zuschauerin. Ich rief meine Schwester an, die in einem Pariser Vorort wohnt und zufällig ganz in der Nähe unserer Wohnung im Restaurant war.

Sie verstand nicht alles, erkannte aber an meiner Stimme sofort den Ernst der Lage und rannte zu meiner Wohnung, obwohl es zu diesem Zeitpunkt hiess, niemand solle auf die Strasse gehen. Sie war mit ihrem damaligen Mann Yves unterwegs. Yves setzte sich so vor meinen Fernseher, dass ich nicht sehen konnte, was sich dort abspielte.

Damit begann die schlimmste Nacht unseres Lebens. Ich sah zwar keine Fernseh­bilder, aber ich hörte die Martins­hörner von Polizei und Feuerwehr, die bei uns vorbeifuhren.

Das hört niemals auf. Die Martins­hörner haben sich in mein Trauma­gedächtnis gegraben, in dem meine Erinnerungen an jene Nacht gespeichert sind. An manchen Abenden höre ich sie heute noch, wenn ich nicht einschlafen kann. In jener Nacht lief ich mal in der Wohnung hin und her und hielt mir beide Hände unter den Bauch, um ihn zu stützen; mal legte ich mich ausgestreckt auf die Couch im Wohn­zimmer. Ich probte die Ansprache, in der ich Gary verkünden würde, dass sein Vater tot ist. Denn ich war mir sicher: Matthieu würde nicht wiederkommen.

Ich hatte mitbekommen, dass im «Bataclan» geschossen worden war. Dort war ich tausend Mal mit Matthieu gewesen. Wir stellten uns immer an denselben Platz: Rechts, wenn man zur Bühne schaut, ganz in der Nähe der paar Treppen­stufen, die nach unten zur Tanzfläche führen, und nicht weit weg von den Eingangs­türen. Es war völlig klar: Er musste von einer der ersten Kugeln nieder­gestreckt worden sein.

Immer wieder telefonierte ich. Ich wusste, dass meine Freundin Edith zusammen mit Audrey auch bei dem Konzert war, auf Instagram hatte ich das Foto gelikt, das sie kurz vor Beginn vor dem «Bataclan» gemacht hatten. Sie wirkten ganz ausgelassen. Christophe, der auch dort gewesen war, erreichte ich gleich beim ersten Versuch: Er hatte es geschafft, zu entkommen, und rannte, als wir telefonierten, immer noch. Es waren noch viele andere Freunde dort gewesen; das wurde mir erst klar, als ich sie ein paar Tage später bei der Trauer­feier am Invalidendom sah. Das war auch der Moment, in dem ich begriff, dass der Anschlag wirklich uns galt.

Gegen 5 Uhr morgens erhielt ich einen Anruf von einer unterdrückten Nummer. Jemand am anderen Ende der Leitung sagte: «Matthieu Giroud lebt. Er hat keinen Kratzer abbekommen und wird nach Hause kommen.»

Ich erinnere mich, dass ich gekreischt habe und endlich weinen konnte – und dass ich das Telefon über den Sessel im Wohn­zimmer hinweg in die Gegend gepfeffert habe.

Meine Schwester hob das Telefon auf und liess sich die Nachricht bestätigen. Ja, Matthieu lebt und hat keinen Kratzer abbekommen. Wir bräuchten einfach nur zu warten, bis er kommt. Wir waren fix und fertig, aber überglücklich. Ich rief Matthieus Eltern an, um sie zu benachrichtigen. Yves holte die Whisky­flasche raus, die für spontan vorbei­kommende Freunde bestimmt war.

Meine Schwester traf alle Vorbereitungen für das wichtigste Foto unseres Lebens: das Bild von unserem Wieder­sehen vor dem Aufzug.

Wir spekulierten, wie viele Kommentare wir bekommen würden, sobald wir das Bild in unserem Familien-Fotostream posteten. Ich fing an zu überlegen, wo ich um 5 Uhr morgens Äpfel herbekam, damit ich ihm den Apfel­kuchen backen konnte, den seine Mutter ihm früher immer gemacht hatte, mit Marmelade obendrauf. Nach so einer Nacht würde ihm eine kleine Stärkung mit Sicherheit guttun. Die Stunden vergingen und hinterliessen in meinem Gedächtnis keine einzige Erinnerung. Was haben wir wohl gemacht? Ich habe keine Ahnung. Äpfel konnte ich jedenfalls nicht auftreiben, und meine Schwester zückte auch nicht ihren Fotoapparat. Gegen 8 Uhr wurde mein Sohn wach und wunderte sich, dass sein Onkel und seine Tante bei uns waren. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen; sein Papa habe bei dem Konzert ein kleines Problem gehabt und würde bald nach Hause kommen.

Dann kamen Matthieus Eltern aus Grenoble an. Dann die Cousins, die auch in Paris wohnten, gefolgt von meinen Eltern aus Savoyen. Alle waren in den erstbesten Zug gestiegen. Mein Wohn­zimmer war voller Menschen. Ich bekam nichts mit. Zwanghaft wählte ich immer wieder die Nummer der Hotline, die man eingerichtet hatte, aber die Hotline war die meiste Zeit wegen Überlastung nicht erreichbar. Endlich erreichte ich jemanden, der mir sagte, ich müsse auf das vertrauen, was die Stimme in der Nacht gesagt hatte. «Wenn man Ihnen gesagt hat, dass er am Leben ist, dann ist er auch am Leben. Man hat ihn wahrscheinlich zur Kriminal­polizei mitgenommen, um seine Aussage zu Protokoll zu nehmen. Er wird nach Hause kommen.»

Ich hörte, was man mir sagte, aber wenn er am Leben gewesen wäre, hätte er mich angerufen. Er hätte mit Sicherheit eine Möglichkeit gefunden, mich anzurufen. Wir beide neigten dazu, uns schnell Sorgen zu machen, und verbrachten nie mehr als ein paar Stunden, ohne von uns hören zu lassen. Ich glaubte nicht mehr daran und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war nicht in der Lage, mich um meinen Sohn zu kümmern, und ich war nicht fähig, für die Leute in meinem Wohn­zimmer Kaffee aufzugiessen. Also fing ich an, die Krankenhäuser durch­zutelefonieren. Alle. Ganz systematisch.

«Guten Morgen. Mein Lebens­gefährte war gestern Abend im ‹Bataclan›. Er heisst Matthieu Giroud. Er ist 1,84 Meter gross, hat dunkle Haare und grosse blaue Augen. Muttermal in der Leisten­gegend und Leber­fleck unter den Haaren.» Diese Sätze wiederholte ich bestimmt an die zwanzig Mal. Zwanzig Mal bat man mich sehr höflich, einen Moment dranzubleiben, und zwanzig Mal bekam ich zu hören, nein, es sei niemand eingeliefert worden, auf den die Beschreibung passe. Inzwischen war der Abend des 14. November angebrochen; es wurde schon dunkel.

Mein Wohnzimmer war immer noch voll, aber Matthieu kam immer noch nicht zur Tür herein.

Manchmal hörten wir die Aufzugtür aufgehen, aber die Wohnungstür ging nicht auf. Alle rissen sich zusammen. Jeder wusste: Sobald einer von uns schwächelt, sind wir alle erledigt; alle hielten den Atem an, um unser Karten­haus nicht umzupusten.

Gegen 19 Uhr wählte ich noch ein letztes Mal die Nummer der Hotline. Ich sass mitten im Wohn­zimmer im Sessel, die Leute um mich herum verstummten, als sie merkten, dass jemand meinen Anruf entgegen­nahm. Diesmal klang die Stimme am anderen Ende beinahe schon ein bisschen genervt: Wenn man mir gesagt habe, dass er lebt, dann treffe das auch zu. Ich solle einfach nur warten und mich entspannen. Basta. Wir alle versuchten, daran zu glauben. Wir taten so, als wären wir erleichtert, und bestellten Pizza. Danach leerte sich mein Wohnzimmer, und ich legte mich schlafen. Seit 36 Stunden hatte ich kein Auge zugetan; ich spürte ein Ziehen in meinem Bauch und schlief sofort ein.

Zu diesem Zeitpunkt stellten meine Freunde Harold, James und Alice die am Tag zuvor begonnene Suche nach Matthieu ein. Sie hatten alle Anlauf­stellen abgeklappert. Es gab keinen Ort mehr, an dem sie hätten nachfragen können. Trotzdem gingen sie nicht nach Hause, sondern zur Militär­akademie. Dort hing die Liste der Getöteten und Verletzten, die jede Viertel­stunde aktualisiert wurde. Gegen 22 Uhr tauchte Matthieus Name auf – aber auf der falschen Seite der Liste. James nahm alle seine Kräfte zusammen und bat den Polizisten, der für die Benachrichtigung der Angehörigen zuständig war, diese Aufgabe ihm zu überlassen. Er rief meinen Vater an, und mein Vater rief meine Schwester an. Sie warteten, bis sie alle bei mir zu Hause versammelt waren, um es mir dann zu sagen.

Mein Vater näherte sich meinem Zimmer. Als ich das Parkett knarren hörte und merkte, wie langsam mein Vater ging, schrillten in mir die Alarm­glocken. Er setzte sich auf mein Bett, und da begriff ich.

Ich fragte ihn, ob er tot ist, und es blieb meinem Vater nur noch zu sagen: «Ja.»

Matthieu ist tot. Matthieu ist tot. Matthieu ist tot … Ich hatte das Gefühl, den Satz ganz oft wiederholen zu müssen, um ihn wirklich zu verstehen. Mein Körper begriff zuerst. Ich musste mich übergeben. Immer wieder. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich geschrien hätte. Ich kann mich auch nicht erinnern, geweint zu haben. Wir waren alle schon komplett in Schock­starre verfallen.

Wie es in den nächsten Tagen weiterging, wissen Sie. Darüber wurde hier schon berichtet. Es gab ganz viele Menschen, die benachrichtigt werden mussten (allen voran mein Sohn). Es gab ganz vieles, auf das ich warten musste: auf die Information, wo Matthieu sich befindet, auf die Möglichkeit, ihn im rechts­medizinischen Institut fünf Minuten zu sehen, auf die Freigabe des Leichnams, die Bestattungs­erlaubnis. Und es gab lauter Sätze, die ich aussprechen musste. Sätze aus Wörtern, die nicht zueinander passten und die ich doch zusammen­brachte. Sätze wie «Papa ist tot» oder «Wann können wir Matthieus Leichnam abholen lassen?» oder «Welche Schuhe soll er im Sarg anhaben?».

Einmal hörte ich mich sogar zu einer Freundin sagen: «Ich bin erleichtert, er hat eine Kugel in den Kopf bekommen, das ist gut, er war sofort tot.» Ich mutierte zum Automaten. Auch um mich herum standen alle neben sich. Eines Morgens stand meine Mutter eher auf als ich und machte Gary sein Frühstück. Sie hielt ihm eine braune Nuckel­flasche hin. Sie hatte die Suppe vom Vorabend mit der Milch verwechselt. Von den Fehlleistungen aus jener Zeit hat diese Szene sich besonders tief in Garys Gedächtnis eingegraben. Heute löst sie in mir ganz innige Gefühle aus. Ich machte haufenweise Sachen, die gar nicht gehen, aber ich machte sie trotzdem. Ich brachte es sogar fertig, in der Trauer­halle einen Text vorzulesen.

Mein Haus lag mehr oder weniger in Trümmern, aber es gab kleine Lichtblicke.

An einem Tag Ende November kam ich mit meinem Sohn und meinem dicken Bauch nach Hause und betrat unsere Wohnung. Wir kamen gerade von der Beerdigung zurück. Diesmal war mein Wohnzimmer leer. Niemand mehr da. Nur noch wir beide oder eigentlich wir drei, wenn wir den kleinen Logiergast in meinem Bauch mitzählten. Ich zog die Tür hinter uns ins Schloss. Den Schlüssel brauchte ich nicht mehr heraus­zuziehen. Ich brauchte auch nicht mehr die Ohren zu spitzen, wenn im Hausflur die Aufzugtür aufging: Wir erwarteten niemanden mehr. Ich legte keine Musik auf, ich liess meinem Sohn das Badewasser ein. Heute Abend ohne Sturm in der Wanne.

Ich machte Abendessen. Mechanisch stellte ich drei Teller auf den Tisch: einen für mich, einen für Gary und natürlich einen Teller für Matthieu.

Das tat ich noch lange. Welche Gewalt ich mir antun musste, um diesen Teller wieder wegzustellen, ohne dass mein Sohn sah, dass ich innerlich in mich zusammenfiel, kann ich gar nicht beschreiben. Oft war mir danach, alle Teller an die Wand zu werfen bis auf zwei. Dann würde mir dieser Fehler nicht mehr passieren können, und ich bräuchte ihn nicht immer wieder mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen zu durchleben.

An diesem Abend begriff ich, dass jetzt das Leben ohne Matthieu anfing.

Seine Lieblingsjoghurts wurden im Kühlschrank schlecht. Ich musste sie wegwerfen. Im Korb mit der Schmutz­wäsche lagen die Sachen, die er in der Woche zuvor angehabt hatte. Wenn ich unsere Kleidung waschen wollte, auf denen das Leben, das für uns ja weiterging, seine Flecken hinterliess, musste ich an seinen Sachen vorbeigreifen. In dem Glas im Bad steckte immer noch seine Zahnbürste. Ich brachte es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen, denn die Bürste konnte als Einzige noch sagen: «Es gibt mich noch, ich komme bald nach Hause.» Es kam auch der Tag, an dem ich das Bettzeug waschen musste, das uns in unserer letzten Nacht seine Wärme gespendet hatte. Auf lange Zeit würde ich den Geruch von Waschmittel in sauberer Bettwäsche verabscheuen. Das und tausend andere Dinge erledigte ich und liess dabei nie die Hand meines Sohnes los, dieses grossartigen Menschen mit seinen gerade mal drei Jahren.

Er begann sofort mit der Trauerarbeit. Als am Abend des 14. November seine erste Nacht als Halbwaise anbrach und ich ihn zu Bett brachte, zählte er mir auf, was er mit seinem Papa nie wieder machen würde. «Ich werde also morgens keine Kiwi mehr mit ihm essen? Nimmt er mich nicht mehr auf die Schulter, wenn ich vom Laufen müde bin? Fussball­spielen am Samstag­nachmittag gibt es auch nicht mehr?» – «Nein, Gary, das ist alles vorbei.» Meistens hielt Gary sich tapfer, aber in den ersten Monaten ergriff ihn manchmal eine entsetzliche Wut. Er schrie und hätte wohl am liebsten alles kurz und klein geschlagen. Diese Krisen­momente waren sehr eindrücklich. Allen, die diese Momente miterlebten, gingen sie durch Mark und Bein. Mir brach es das Herz, aber ich wusste, dass er durch diese Krisen hindurch­gehen musste.

«Ich glaube, heute kann ich sagen: Es geht mir den Umständen entsprechend gut.» Jean-Luc Bertini/Pasco

Deshalb liess ich ihn bis zu einem gewissen Grad gewähren. Ich nahm seine Wut an und versuchte sie dann aufzuhalten. Ich fing meinen Sohn ein und drückte ihn so fest an mich, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Manchmal musste ich ihn zu Boden pressen und mit meinem dicken Bauch seinen Rücken niederhalten, damit er niemanden verletzte, vor allem nicht sich selbst. Das war sehr erschütternd, aber mir war klar, dass er diese körperliche «Zwangsjacke» brauchte, damit er seinen Schmerz herauslassen konnte. Es endete immer gleich: Er brach in meinen Armen in Tränen aus, und ich verbarg meine Tränen in seiner Halsbeuge.

Gary war unglaublich tapfer, aber nicht nur das. Er nahm mich an die Hand, wenn mein Schmerz übergross wurde und ich davon ganz benommen war.

Am 14. November wurde er zum Hirten, der wie eine Herde meinen Kummer hütete.

Mit seiner Liste all der Dinge, die er mit seinem Vater nie wieder machen würde, wies er mir den Weg des Annehmens. Mit seiner Wut, die sich anschliessend in Traurigkeit auflöste, forderte er mich auf, meine Gefühle heraus­zulassen, und gab mir dazu die Erlaubnis. Und mit seinem Lachen (Kinder hören niemals auf zu leben) «saugte» er die ganze in mir noch verbliebene Freude aus mir heraus.

Während wir ganz damit in Beschlag genommen waren, unseren Widerstand zu organisieren, wurde mein Bauch immer grösser. Der Tod schien allgegen­wärtig, aber ich trug das Leben in mir; von innen drückte das Leben regelrecht gegen die Wände meines Körpers. Dieses kleine Mädchen ist ein Wunder – und ich verdanke ihm ja sogar, dass ich noch am Leben bin: Wenn ich nicht schwanger gewesen wäre, wäre ich höchst­wahrscheinlich mit Matthieu zusammen zu dem Konzert gegangen. Solche Gedanken, die sich wie Parasiten an mich hefteten und zu nichts führten, versuchte ich wegzuwischen, aber diesem Gedanken, der als einziger etwas Positives hatte, gestattete ich, sich ein wenig in mir festzusetzen.

Am 16. März 2016, vier Monate nach den Pariser Anschlägen (und nicht einmal eine Woche vor den Anschlägen in Belgien), brachte ich Thelma zur Welt. Die Nacht meiner Entbindung war so wunderbar, wie die Nacht des 13. November grauenvoll war. In jener Nacht kam die Freude zurück. Seit Thelmas Geburt waren wir überzeugt, dass wir leben und ein gutes Leben haben würden. Der Wahnsinn hatte uns vielleicht haarscharf gestreift, aber dann zog er doch seiner Wege. Ich schloss meine Tochter in die Arme. Sie war ganz warm. Sie war so schön. In dieser Nacht wuchs in mir die Gewissheit, dass wir alle drei es gut haben würden. Dass dies meine Aufgabe im Leben sein würde, in die ich meine ganze Energie stecken würde, und dass wir glücklich sein würden. Zumindest das war ich Matthieu schuldig, und irgendwo im Hinterkopf weiss ich, dass das die bestmögliche Rache ist. Wir lassen uns nicht umbringen. Wir nicht. An dieser Stelle bin ich fast versucht, Ihnen zu sagen, dass wir Glück hatten.

Alle sagen das in dieses Mikrofon hier, aber ich glaube, Glück hatte hier niemand. Das ist wahrscheinlich das, was uns alle wirklich miteinander verbindet: Am 13. November hatten wir alle, die wir in diesem Saal sitzen, Pech. Davon abgesehen, war es am 13. November sicher besser, dort zu sein, wo wir waren, meine Kinder und ich. Warm und geborgen wie in einem Kokon – in einem Kokon kurz vor der Explosion zwar, aber trotz allem im Warmen und Geborgenen.

Ich war nicht im «Bataclan». Ich habe weder gesehen noch gehört und auch nicht gespürt, was dort geschah. Ich bin nicht über Leichen geklettert, habe mich nicht auf dem Dach oder im Keller versteckt. Ich habe nicht die Decke der Toiletten­räume zertrümmert, ich bin nicht durch ein Meer von Blut gerobbt. Ich war nicht zwei Stunden im Bauch des Monsters. Ich schleppe nicht die überschwere Eisenkugel dieser traumatischen Erlebnisse hinter mir her.

Ich habe den Mann verloren, den ich geliebt habe. Mein Haus ist in die Luft geflogen, und auf einmal sass ich inmitten von Schutt und Asche mit einem Leben, das geführt werden will, und zwei Kindern, die grossgezogen werden wollen.

Ich schleppe nichts hinter mir her als meinen Schmerz, der jetzt sechs Jahre andauert, und mit ihm den Schmerz meiner beiden Kinder, die ohne ihren Vater aufwachsen. Darum verspüre ich nichts von dem, was man die Schuld­gefühle der Überlebenden nennt. Nicht im Geringsten. Das, was mich vom ersten Tag an trägt, würde ich vielleicht die Verantwortung der Über­lebenden nennen. Ich bin die Hinter­bliebene und muss für zwei leben. Dennoch habe ich etwas Ausser­ordentliches durchlebt und durchgemacht, das aus mir seit sechs Jahren einen Menschen macht, der etwas anders ist.

Am 13. November 2015 wurde ich in wenigen Stunden Witwe und Terror­opfer. Beides.

In der ersten Zeit beschloss ich für mich, mich nur mit dem Verlust von Matthieu zu befassen und mich nicht für die Umstände seines Todes zu interessieren. Ich konnte nicht alles auf einmal bewältigen. Matthieu war tot, und die Aufgabe, damit umgehen zu lernen, dass er ermordet wurde, musste warten. Ich habe mich ein bisschen in meinem Kummer eingeigelt, aber meinen Kindern zuliebe hielt ich den Kopf über Wasser. Seltsamer­weise hatte ich immer den Eindruck, dass es mir einiger­massen gut geht.

Das war natürlich nicht immer so, aber es war besser, mir das nicht zu vergegen­wärtigen. Ich habe unterschiedliche Phasen durchgemacht, und jede Phase geht einmal zu Ende. Wenn eine Phase zu Ende war, schaute ich zurück und wollte sehen, welche Wegstrecke ich schon hinter mich gebracht hatte. Da wurde mir bewusst, wie intensiv das Erlebte war. Vergangene Woche erinnerte meine Schwester mich daran, wie viel Energie und Mut ich in diesem langen Zeitraum aufbieten musste. Das hatte ich wohl verdrängt oder schon vergessen. Sie erinnerte mich vor allem an den 24. Dezember 2015, das erste Weihnachten ohne Matthieu. Die Erinnerung daran ist wie viele andere Erinnerungen vollkommen aus meinem Gedächtnis verschwunden.

An diesem Tag brach ich gegen 16 Uhr zusammen. Ich legte mich ins Bett und kündigte an, dass ich bis auf weiteres nicht mehr aufstehe. Ungefähr um 18 Uhr, so erzählte mir meine Freundin, erhob ich mich aus dem Bett wie eine Statue, die man aufrichtet, um sie auf einem Platz aufzustellen. In einer einzigen Regung und unter Aufbietung aller Kräfte, die es dafür braucht, liess ich mich auf den Gedanken ein, Weihnachten zu feiern. Ich wurde zur Leistungs­sportlerin der Trauer. Ich stellte mich einem Tag nach dem anderen, und so ging das Leben weiter. Ich wusste: Mein Motor durfte auf keinen Fall absaufen, weil er sonst nicht wieder anspringen würde. Oft fühlte ich mich sehr einsam. Wir alle waren einsam.

Der liebende Matthieu, um den ich geweint habe, gehört mir allein. Wie Eltern leiden, wenn sie ihren Sohn verlieren, ist für mich nicht vorstellbar. Auch von der gewaltigen Leere, die ein zu jung verstorbener Bruder hinterlässt, weiss ich nichts. Ich habe auch keine Vorstellung, was es heisst, vaterlos aufzuwachsen und das ganze Leben lang keinen Vater zu haben. Wir sind eng zusammen­gerückt, für immer, aber unsere Schmerzen haben sich einander angenähert und werden sich doch nie berühren.

Ich muss gestehen, dass ich mich sozial ein bisschen abgekapselt habe. Sehr lange Zeit kamen mir die Probleme der anderen absolut belanglos vor (seit dem Prozess­beginn ist das wieder so, was ziemlich hinderlich ist). Hinzu kommt: Durch den 13. November wurde ich «die Frau, die es getroffen hat». Ich war auf einmal die Frau, der man auf der Strasse hinterher­schaut, wenn sie mit ihren Kindern spazieren geht. Die Frau, die sich keinen roten Lippenstift auftragen durfte und erschöpft aussah, wenn sie keinen roten Lippenstift auftrug: «Du darfst dich nicht gehen lassen.» Ich war jetzt die Frau, die mit ihren Tränen die Stimmung verdirbt und sich erdreistet, an manchen Abenden tanzen zu gehen. Ich kann Ihnen sagen: Die Witwen­rolle ist keine Wohlfühlrolle.

Und dann lernte ich auf diesem sonderbaren Weg, auf dem ich mich befand, eines Tages einen anderen Mann kennen.

In meinem Wohnzimmer hat das «ganz normale» Leben wieder Einzug gehalten. Dadurch wurde mir das Ausmass des Schadens bewusst, und seither versuche ich mit aller Kraft, die Rückzugs­phase hinter mir zu lassen, und ich habe unbändige Lust, ungefähr so zu leben wie die anderen. Ich glaube, heute kann ich sagen: Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Und ich darf Ihnen auch sagen, dass es meinen Kindern gut geht.

Mein Sohn ist neun Jahre alt und meine Tochter fünf. Gary ist der liebenswerteste kleine Junge auf diesem Planeten. An seiner Seite strahlt – wie eine Sonne – Thelma. Ich glaube, wir sind ein ganz hübsches Dreigespann.

Ich bin keine Mutter, die jederzeit witzig ist. Das finde ich schade. Oft bin ich es leid, für meine Kinder die einzige Anlauf­stelle zu sein (ich lese die Gutenachtgeschichte vor; ich stehe jeden Morgen und manchmal auch nachts auf; ich bin die Versorgerin, die Streitgegnerin und Trösterin; ich werfe meinen Kindern die Bälle zu; ich koche …), aber sie wissen, dass ich da bin. Stabil. Wir sprechen oft über unsere Geschichte, über den Abend des 13. November und das Leben danach.

Gary ist traurig, weil er nicht viele Erinnerungen hat. Aber er weiss, dass er das Glück hatte, drei Jahre die Liebe eines ganz besonderen Vaters zu erfahren. Thelma fragt sich manchmal, was Traurigsein ist, wenn wir über diese Dinge sprechen, und würde gerne so weinen können wie Gary und ich. Sie glaubt, dass sich nach dem Tod alle wiedersehen. Also übt sie sich in Geduld. Manchmal höre ich sie in ihrem Zimmer das Wort «Papa» vor sich hinmurmeln. Zu ihrem Vater konnte sie dieses Wort nie sagen. Deswegen nimmt sie es wohl in den Mund, um zu erkunden, wie es sich anfühlt.

Wenn ich abends aus dem Haus gehe, haben die beiden manchmal Angst. Thelma sagte mir einmal, sie habe Angst, dass ich «tot umfalle». Dann sprechen wir und sprechen und sprechen. Ich sage ihnen, dass das, was mit Papa passiert ist, eine ganz grosse Ausnahme war. Dass es so etwas vorher eigentlich nie gegeben hat und es keinen Grund gibt, dass so etwas noch einmal passiert. Dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Dass wir in Sicherheit sind. Manchmal gelingt es mir mit meinen Überzeugungs­versuchen, auch mich selbst zu überzeugen. Seit dem Prozess­beginn hat für uns eine neue Phase begonnen. Für mich wird es die letzte Phase sein, glaube ich. Es ist die Phase, in der die Tragödie, die ich erlebt habe, in der Geschichte meines Lebens insgesamt aufgehen wird.

Wie ich schon sagte: Nachdem ich sechs Jahre lang um meinen Kummer gekreist bin und es mir jetzt gut geht, fühle ich mich gerüstet, mich meinem Trauma zu stellen. Matthieu ist nicht einfach nur gestorben, sondern er wurde bei einem Massen­mord umgebracht. Das hat mich bewogen, zu diesem Prozess zu erscheinen. Um zu verstehen und diese Ungeheuerlichkeit möglichst von allen Seiten zu betrachten. Am ersten Tag war ich mir nicht sicher, ob ich den Justiz­palast betreten soll. Ich hatte beschlossen, mich dem Gebäude erst einmal nur zu nähern, das mir sehr imponierte und in dem ich noch nie gewesen war. Ich hatte Angst vor dem Gedränge, vor den Journalisten, ich hatte Angst vor der Angst.

Als ich näher kam, merkte ich, dass alles ganz ruhig war. Also holte ich mein Namens­schild heraus. Die Polizisten draussen vor dem Eingang und später im Gebäude­inneren haben mich sehr freundlich bis hierher geleitet. Beim Näher­kommen fand ich, dass dieser Gerichts­saal ein bisschen so aussieht wie die Gaîté Lyrique. Das irritierte mich zunächst, aber nur einen Moment lang, denn gleich im nächsten Augenblick war ich gerührt von dem Gedanken, dass man diesen ganzen Aufwand betrieben hatte, um uns Neben­kläger zu empfangen. Ich ging hinein. Der Saal war voller Menschen. Ich setzte mich in eine der hinteren Reihen und betrachtete diese vielen Nacken mit den roten oder grünen Trage­bändern für die Namens­schilder. Diese vielen Körper, die ich nicht kannte, die aber alle mit demselben Schmerz Bekanntschaft gemacht haben wie ich.

Mir wurde schwindlig, wenn ich mir vorzustellen versuchte, was für dramatische Szenen sie erlebt haben mussten. Hatten sie in einem Strassencafé gesessen? Waren sie im «Bataclan»? Haben sie eine Schwester verloren? Einen Bruder? Den Vater? Haben sie den Schmerz einer Kugel, die sich in den Körper bohrt, ertragen müssen? Welche unerträglichen Szenen haben sich in ihre Netzhaut eingebrannt? Zum ersten Mal verstand ich die kollektive Dimension meiner Geschichte. Bis zum 8. September hatte ich keine Ahnung, was sich am Abend des 13. November konkret ereignet hatte. Als die Angeklagten aufstanden, um sich vorzustellen, sah ich ihre Gesichter zum ersten Mal.

Ich gestehe, dass ich am ersten Tag Angst hatte und so erschöpft nach Hause ging wie noch nie in meinem ganzen Leben.

Doch am nächsten Tag kam ich wieder her. Am Tag danach ebenfalls. Eigentlich fast an allen Tagen. Ich begann allmählich zu begreifen. Ich komme hierher, um zu hören, was gesagt wird – und das ist oft sehr schwer auszuhalten. Aber noch öfter bin ich, wenn ich nach Hause gehe, begeistert von dem, was hier passiert. In diesem Saal halten Menschen einander an den Händen. Familien liegen sich in den Armen. Freundinnen und Freunde trösten sich gegenseitig. Während das Grauen geschildert wird, schleicht sich – oft unversehens – die Liebe ein, die wahre Freundschaft, die Gläser, die man zusammen auf der Terrasse geleert hat, das Glück des gemeinsamen Musik­erlebnisses.

Das geschieht ganz subtil, aber in manchen Momenten mit solcher Macht, dass ich andeutungs­weise wieder spüren konnte, wie das Leben vor dem Anschlag sich angefühlt hat. Das hält oft nur eine Sekunde an, aber wir alle hier wissen besser als jeder andere: Es gibt Sekunden, in denen gleich mehrere Leben enthalten sind.

Es ist ein ziemlich verrückter Gedanke, aber ich glaube, hier ist alles zugegen, was uns zur Zielscheibe gemacht hat: die Offenheit für den Mitmenschen, die Fähigkeit, zu lieben, nachzudenken und zu teilen. Es ist eine überwältigende Erkenntnis, dass die ganze Zerstörung, die an jenem Abend in unseren Leben angerichtet wurde, dieser Fähigkeit nichts anhaben konnte. Deswegen werde ich weiterhin hierher­kommen. Und jeden Tag fülle ich mein Menschlichkeits­reservoir ein bisschen mehr auf. Ich höre Geschichten, die von stillen Helden handeln, und ich erzähle sie am Abend meinen Kindern. Ich erzähle ihnen von dem jungen Mann, der seiner Schwester das Leben rettete, indem er sie zu Boden drückte. Ich berichte ihnen von dem Mann, der sich mit seinem Körper schützend vor meine Freundin Edith legte, die sich nicht in Sicherheit bringen konnte. Auch die Geschichte von dem Polizisten, der sich auf den toten Terroristen legte, lässt mich nicht los: Da der Terrorist noch seine Sprengstoff­weste trug, bildete der Polizist mit seinem Körper eine Brücke über die Leiche, damit die Geiseln nach der Erstürmung passieren konnten.

Ich habe meinen Kindern auch erzählt, dass einmal spätabends die Nebenkläger den Angeklagten etwas zu essen gereicht haben. Und dass die Anwältinnen und Anwälte Geld zusammen­gelegt haben, um den «Bösen» eine gute Verteidigung zu bezahlen. Ich kann meinen Kindern erklären, dass nur das richtig ist, was gerecht ist. Neulich sagte eine meiner Freundinnen zu mir, dieser Saal sei das Land, in dem man gern leben möchte. Ich glaube, sie hat recht.

Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.

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