Powerpoints gegen den Terror

Im Kampf gegen Terrorismus ist eine hochprofitable Industrie entstanden. Aber löst sie das Problem wirklich? Oder hilft sie der Politik vor allem dabei, deren Versagen zu übertünchen?

Von Lydia Wilson (Text) und Sarah Fuhrmann (Übersetzung), 11.11.2021

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Eine Flagge des IS, gefunden nahe der irakischen Stadt Mosul. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone
Das auf Englisch übersetzte Anmeldeformular für den Beitritt zum IS, das Original wurde in der syrischen Stadt Raqqa gefunden. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone

Ich sitze in einem Luxushotel in der jordanischen Hauptstadt Amman in einem anonymen Tagungsraum, trinke schlechten Kaffee und unterhalte mich zwanglos mit der Handvoll Menschen an meinem Tisch. Es ist eine vertraute Szene. Amman ist eine der wenigen stabilen, freundlichen und funktionierenden Haupt­städte im Nahen Osten, und sie richtet viele Konferenzen wie diese aus. In der Stadt haben auch diverse Nahost­büros internationaler Organisationen ihren Sitz. Es ist 2016, und die Welt sorgt sich wegen des Islamischen Staats (IS). Die Vertretung der Vereinten Nationen (Uno), die dieses Treffen einberufen hat, will unbedingt einen Weg finden, um die Anziehungs­kraft der Gruppierung zu bekämpfen.

Auftritt: ein junger Forscher.

Er präsentiert Erkenntnisse aus einem von der Uno finanzierten Projekt, das Aufschluss darüber geben soll, warum sich Kinder im Irak bewaffneten Gruppierungen wie dem IS anschliessen. Er zeigt ein Diagramm – das wohl seiner Arbeit einen wissenschaftlichen Anstrich geben soll. Darauf gibt es zwei Achsen; auf der einen steht «Extremismus», auf der anderen «Radikalisierung». Im Publikum wirft man sich verwirrte Blicke zu. Unverdrossen macht der junge Mann weiter und verbindet die vier Quadranten seines Diagramms mit verschiedenen Tendenzen zur Gewalt. Er liefert keine Daten dazu. Und auch keine ursächliche Erklärung, um seine Verbindung zwischen Gewalt und Glauben zu rechtfertigen.

Schliesslich fragt jemand: «Was genau ist der Unterschied zwischen Extremismus und Radikalisierung?»

«Extremismus muss auf der horizontalen Achse stehen, von links nach rechts, weil wir oft in Form von Links und Rechts über Politik sprechen», sagt er. «Radikalismus muss auf der vertikalen Achse stehen, von unten nach oben, weil das Wort von radix kommt, was ‹Wurzel› bedeutet, und deshalb vom Boden aufwärtswächst.»

Die Antwort lässt die Leute im Raum noch verwirrter zurück. Unklar bleibt: Wie soll eine so willkürliche Skala dabei helfen, das Problem von Kindern zu erklären, die sich gewalt­tätigen Gruppen anschliessen?

«Aber was ist der tatsächliche Unterschied, in der realen Welt?», fragt jemand schliesslich.

Der Forscher gehört zu einem gewinn­orientierten Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden – und tut sich schwer mit einer Antwort. Seine Chefin springt ein, versucht ihm zu helfen. «Es ist mir egal, ob man es Radikalisierung nennt oder Erdnuss­butter», sagt sie. «Es geschieht etwas, womit wir uns befassen müssen.»

Ich wollte nicht diejenige Akademikerin sein, die immer auf Definitionen herumreitet. Aber das war zu viel: Welche Wörter man verwendet, spielt eine Rolle dabei, wie man eine Antwort auf Probleme findet – und diese Wörter bedeuteten gar nichts. Würden wir es Erdnuss­butter nennen, sage ich, würden wir Brot verteilen.

Zu den Bildern und zum Fotografen

Die Bilder zu diesem Artikel stammen vom italienischen Fotografen Lorenzo Meloni und zeigen Artefakte aus Gebieten, aus denen der Islamische Staat vertrieben wurde. Meloni hat den Aufstieg, die Hochzeit, aber auch den Niedergang des IS zwischen 2013 und 2019 fotografisch dokumentiert. Dabei ist er durch Syrien, den Irak und Libyen gereist, um die Folgen der Terror­herrschaft festzuhalten: «In dieser Zeit hat der IS meine Gedanken vereinnahmt; ich habe viel über das Wesen des IS nachgedacht und auch über die Folgen für die Regionen, in denen er vorherrschend war.» Als Meloni Gebiete aufsuchte, die vom IS befreit worden sind, beobachtete er, wie IS-Propaganda­material verbrannt und vernichtet wurde. Er begann, solche Fragmente zu sammeln: «Ich fühlte, dass diese Objekte wichtig waren; nicht nur fotografisch, sondern auch, um ihren geschichtlichen Wert zu konservieren.»

Willkommen in der Welt der «Bekämpfung von gewalt­tätigem Extremismus». In der Fach­sprache heisst das: CVE – Countering Violent Extremism. Radikale Gewalt anzugehen, ist ein legitimer Wunsch. Regierungen haben damit begonnen, Geld über dem Problem auszuschütten. In der Zeit nach 9/11 dominierten zunächst die Rhetorik und die Gefechte des War on Terror, des «Kriegs gegen den Terror». Bald jedoch wurde gefordert, differenzierte Wege zu finden, um das Problem anzugehen – also das Phänomen in seinem Ursprung verstehen und ihm vorbeugen. Solche Anstrengungen sind auf globaler Ebene notwendig, denn die Netzwerke der Extremistinnen – vom extremistischen Islamismus bis hin zum Rechts­extremismus – überschreiten heute Staats­grenzen. Extremismus zieht sich über die ganze Welt, gestützt von grenzenlos wuchernden Social-Media-Plattformen.

Diese internationale Aufmerksamkeit hat eine globale Industrie von cleveren Unternehmern hervor­gebracht. So hat in Jordanien eine Nicht­regierungs­organisation 500’000 Dollar von einer europäischen Regierung erhalten, um 15 gemeinschafts­basierte Organisationen aufzubauen, die Programme entwerfen und finanzielle Mittel einwerben sollen. Die Kreisförmigkeit ist offensichtlich, die Verschwendung kriminell. Was für einen Nutzen hätte stattdessen das Geld für die Arbeit von zivil­gesellschaftlichen Organisationen gebracht, die diese in ihren Gemeinschaften leisten?

Nach dem Aufstieg des Islamischen Staats war ich Teil dieses Wettlaufs um Geld. Ich arbeitete an CVE-Projekten von Nachrichten­übermittlung bis zu Radikalisierungs­forschung – und mir dämmerte allmählich, wie fehler­behaftet die Branche ist. Nicht nur wurde Sachkenntnis erfunden, um finanzielle Mittel zu ergattern. Es wurde sogar bereits existierende Entwicklungs­arbeit in die Form von CVE gepresst – was ganze Gemeinden stigmatisierte, weil sie angeblich Terroristen hervor­brachten.

Politische Fehler­kultur: Fehlanzeige

Auch uralte strukturelle Probleme von politischer Arbeit waren im Spiel: so zum Beispiel die Tatsache, dass Finanzierung meistens kurzfristig ist, was eine gründliche Recherche erschwert. Oder dass die Umsetzung von Programmen oft überstürzt ist – um den Eindruck zu erwecken, es werde etwas getan. Wenn Forschung oder Programme scheitern, wird das vertuscht, um die Verschwendung zu rationalisieren – damit ist fast schon garantiert, dass Fehler wiederholt werden. Darüber hinaus gibt es politische Hürden.

Zwar weiss man heute mehr über gewalt­tätigen Extremismus. Aber Regierungen auf der ganzen Welt zögern, dieses Wissen anzuwenden – weil sie dann zugeben müssten, dass die Gesellschaft fundamentale Probleme hat.

Zurück im Hotel in Amman folgt auf die Erdnussbutter-Debatte eine Kaffee­pause, und wir machen alle weiter. Das grund­sätzliche Problem mit der Forschung wird nicht angesprochen und nicht angegangen.

Ein paar Monate später veröffentlicht ein anderes Büro derselben Uno-Institution eine Ausschreibung für ein ähnliches Projekt. Menschen, die bei der zusammenhang­losen Rede in Amman dabei gewesen waren, beurteilten die Bewerbungen – und sprachen trotzdem den Erdnussbutter-Unternehmern Geld zu. Denn selbst wenn Geldgeber eindeutige Beweise dafür haben, dass jemand inkompetent ist, finanzieren sie ihn weiter: weil sie ja frühere Fehler nicht zugeben wollen. Es ist ein Teufelskreis.

«Warum sind Sie dem IS beigetreten?»

Jede Wissenschaftlerin weiss, dass solche Fragen sinnlos sind. Ausser man will miterleben, wie die befragten Menschen den Forschern einen Gefallen tun: Soziale Erwünschtheit – die unbewusste Tendenz, die Antwort zu geben, von der man denkt, dass die Fragerin sie hören will – ist eine zutiefst menschliche Angewohnheit. Und bei der Befragung von verletzlichen Bevölkerungs­gruppen verstärkt sich angesichts des krassen Macht­gefälles das Problem noch.

Ehemalige IS-Kämpfer stehen oft unter Arrest und hüten sich davor, sich selbst oder andere zu beschuldigen. Sie wissen, dass ihre Interviewer gegen den IS sind – und wollen sich deshalb von der Gruppe distanzieren; sie denken vielleicht, eine Interviewerin hätte die Macht, ein gutes Wort für sie einzulegen. Das heisst: Die Antwort auf «Warum haben Sie sich dem IS angeschlossen?» ist oft von Eigennutz geprägt. (Ich habe selbst ein Forschungs­projekt miterlebt, das unter inhaftierten Kindern durchgeführt wurde und bei dem über die Hälfte von ihnen dem Interviewer sofort erzählten, sie hätten sich gar nicht dem IS angeschlossen, sondern ein falsches Geständnis abgelegt.)

Mit Fokusgruppen gibt es ein ähnliches Problem. Sie sind zwar geeignet, um heraus­zufinden, wie sich Menschen in Gegenwart anderer verhalten – und sie sind für die Markt­forschung unbezahlbar. Sie sind aber nicht geeignet, um zugrunde liegende menschliche Werte und Motive zu verstehen, insbesondere bei heiklen Themen. Das Wichtigste, was man in Bezug auf gewalt­tätigen Extremismus aus Fokus­gruppen lernen kann, ist, in Fokus­gruppen zu sagen, was gesellschaftlich akzeptabel ist.

Halbwahrheiten in die Maschine einspeisen

CVE-Methoden beinhalten auch sogenannte Schlüssel­informanten-Befragungen. Das sind ausführliche Interviews mit Menschen mit Sachkenntnis zum Thema. Das kann wertvoll sein, wenn es von einer ausführlichen Analyse begleitet wird. Aber allzu oft werden Zitate zu blossen Aufzählungs­punkten, ungeprüfte Meinungen zu Tatsachen. Und so werden prägnante Zitate als Halbwahrheiten – die einer genauen Überprüfung nicht standhalten würden – in die CVE-Maschine eingespeist.

Bei solch heikler Forschung ist das Wichtigste, Zugang zu den richtigen Bevölkerungs­gruppen zu erhalten: nämlich zu jenen, die tatsächlich von den Botschaften der Extremistinnen verführt wurden. Ich habe Monate damit verbracht, an einem CVE-Projekt in Tunesien zu arbeiten: hinzugezogen als wissenschaftliche Beraterin. Tunesien war damals das Land mit dem höchsten Anteil an Bürgern, die sich dem IS anschlossen – und ich sollte die Gründe dafür untersuchen. Es ging darum, diese Anziehungs­kraft zu verstehen. Und zu verstehen, warum die ausgereisten Tunesierinnen wieder begannen, nach Hause zurückzuströmen – trotz der langen Haftstrafen, die sie dort erwarteten. Und so entwickelten wir ein Forschungs­projekt: Wir planten, mit den Rückkehrern in den Gefängnissen ausführliche Interviews zu führen. Dafür wollten wir einen Frage­bogen benutzen, den ich in mehr als zehn Jahren, in denen ich Kämpfer interviewt hatte, verfeinert hatte.

Doch ich setzte nie einen Fuss in ein Gefängnis.

Zwei IS-Kämpfer, aufgenommen bei Mosul, Irak. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone
Geldmünzen, die vom Islamischen Staat in Umlauf gebracht wurden. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone

Ich verbrachte eine Woche pro Monat im Land. Bei jeder Reise wurden mir Forschungs­teilnehmerinnen für die Befragung versprochen, und jeden Monat versprach man uns einen Bericht von Forschern, die bereits Zugang zu den Gefängnissen gehabt hatten. In den fünf Monaten, die ich an dem Projekt arbeitete, bekam ich weder das eine noch das andere. Ich sprach wohl mit einem der Forscher, die in den Gefängnissen gewesen waren. Aber er betonte, dass ich ihn nicht zitieren dürfe, bevor sein Bericht erscheine. Der Bericht wurde als geheim eingestuft und ist inzwischen in gekürzter Fassung erschienen (zu spät für meine eigene Arbeit).

Ich war enttäuscht.

Und so schrieb ich eine sogenannte Gap-Analyse. Ich wies darin auf all unsere Wissenslücken hin – und betonte, dass man diese ohne eine uneingeschränkte Forschung nie würde schliessen können. Ich wollte keinen weiteren bedeutungslosen Bericht produzieren, der als Tatsache daherkommt. Doch ich hörte nie wieder etwas – nicht einmal eine Bestätigung per E-Mail. Ich bezweifle, dass die Organisation mich nochmals beauftragen wird. Was für eine beschämende Verschwendung von Ressourcen. Zwar hatte ich einige schöne Reisen nach Tunesien unternommen – aber ohne brauchbares Ergebnis. Man hätte das Geld für lokale Organisationen ausgeben können oder für humanitäre Hilfe anderswo.

Diese Behinderung von Befragungen von IS-Rückkehrern erlebte ich während meiner Forschung auf der ganzen Welt. Sie ist eine direkte Folge des Risikos, das es für Regierungen bedeutet, wenn Ansichten von Extremisten an die Öffentlichkeit gelangen. Diese würden Regierungen dazu zwingen, ihre Miss­wirtschaft einzugestehen – von Korruption bis hin zu aussen­politischen Katastrophen.

Das Wertvolle, das Spekulative und das Schädliche

Zudem will keine Regierung Kritik an ihrer Politik von jenen Menschen hören, die in ihren Gefängnissen sitzen – nicht zuletzt aus Angst, Menschen ausserhalb dieser Gefängnisse könnten realisieren, dass sie dieser Kritik zustimmen.

Das ist ärgerlich. Denn es ist genau diese Arbeit in Gefängnissen, diese akribischen Eins-zu-eins-Programme zur Entradikalisierung, die am wirkungsvollsten ist. Ein Kollege von mir kann seine jahrelange Erfahrung und seine vielversprechenden Analysen nicht veröffentlichen, weil ihn der britische Official Secrets Act daran hindert – ein Gesetz, bei dem es um Amts­geheimnisse geht. Als Freund und Mentor hält er immer noch Kontakt zu vielen ehemaligen radikalisierten Menschen, mit denen er gearbeitet hat. Nicht jede CVE-Arbeit ist bedeutungslos: Aber bei all der Geheim­haltung und dem Leugnen von Fehlern ist es schwierig, zwischen dem Wertvollen, dem Spekulativen und dem Schädlichen zu unterscheiden.

«Das kann ich meiner Regierung nicht erzählen», unterbricht mich ein Teilnehmer während meines Vortrags über «Was bei CVE funktioniert». Ich hatte kurz umrissen, was über die Treiber von gewalt­tätigem Extremismus bekannt ist, und gesagt, dass daran nichts Besonderes ist. Es sind die gleichen Faktoren, die viele andere soziale und persönliche Probleme begünstigen, von Klein­kriminalität über Alkoholismus bis hin zu Suizid: soziale Ausgrenzung und Demütigung, ein Gefühl von Kränkung und Ungerechtigkeit sowie ein Mangel an Hoffnung für die Zukunft. Ich hatte vorgeschlagen, den desaströsen CVE-Ansatz aufzugeben und uns darauf zu konzentrieren, unsere Gesellschaften inklusiver und hoffnungs­voller zu machen. Damit könnten wir, sagte ich, viele soziale Probleme auf einmal angehen – und zugleich das Stigma vermeiden, ganze Gemeinschaften des potenziellen Terrorismus zu beschuldigen.

Das kam als Strategie­beratung nicht gut an.

«Stimmen Sie irgendetwas von dem, was ich bisher gesagt habe, nicht zu?», frage ich meinen Gesprächs­partner. Und er wiederholt: «Ich kann nicht zurückgehen und das meiner Regierung sagen.» Ich gebe die Frage in den Raum: «Stimmt jemand irgendetwas von dem, was ich bisher gesagt habe, nicht zu?» Es herrscht Stille. Einige schütteln den Kopf, andere lächeln betrübt. Es ist eine Unterhaltung, die ich zuvor bereits mit diversen anderen Kolleginnen geführt habe. Vor der Konferenz ermutigte mich einer von ihnen, aufs Ganze zu gehen: «Wie sollen sich die Dinge ändern, wenn Menschen wie Sie uns nicht antreiben?», hatte er gesagt.

Viele teilten meine Vorbehalte. Aber sie konnten nichts gegen die politische Realität in den Ländern tun, die sie repräsentieren. Ein anderer Staats­beamter erklärte, gewalt­tätiger Extremismus sei insofern besonders, als die Öffentlichkeit glaube, dass er es sei. Regierungen wollen den Eindruck erwecken, dass sie angesichts von Terror­anschlägen etwas unternehmen. Zu sagen, dass Extremismus wie die Mitgliedschaft in einer Gang oder Drogen­abhängigkeit ist – das ist keine Botschaft, die Regierungen aufnehmen können.

Ich erinnere mich an ein frühes Treffen mit der britischen Taskforce gegen den Islamischen Staat im Jahr 2014, wenige Monate nachdem sie ihr «Kalifat» ausgerufen hatten. Eine Beraterin des damaligen Premier­ministers David Cameron sagte mir: Nie würde dieser öffentlich zugeben, dass Radikalisierung etwas mit der britischen Aussen­politik zu tun habe. Sie kam meiner Empörung zuvor. «Ich weiss», sagte sie, «aber um bei diesem Treffen Zeit zu sparen, müssen Sie wissen, dass ich das nicht weiter­geben werde, also lassen Sie uns nicht näher darauf eingehen.»

Ehrliche Erzählungen nicht genehm

Die Rhetorik eines «Kriegs gegen Muslime», die ich bei meinen Interviews hörte und im Internet las, wird von den Behörden nicht anerkannt. Obwohl sich der Islamische Staat diese Wahrnehmung erfolgreich zunutze machte. Egal, worum es ging – die Erwähnung des israelisch-palästinensischen Konflikts, der Invasionen in Afghanistan und im Irak, der Drohnen­angriffe in Pakistan, der fehlenden Intervention in Syrien oder von Waffen­verkäufen an Saudiarabien –, die westliche Aussen­politik war ein wesentlicher Bestandteil bei der Erschaffung eines Narrativs des «wir und sie» durch den Islamischen Staat: Gemäss ihrer Propaganda bist du entweder muslimischen Glaubens oder du kannst im Westen leben, aber nicht beides.

Aber Politikerinnen können nicht zugeben, dass die Menschen­leben und das Geld verschwendet waren, das sie für die von ihnen begonnenen Kriege ausgegeben haben – oder noch schlimmer: dass sie von Anfang an sogar zum Problem beigetragen haben. Und sie können auch keine treuen Verbündeten kränken, die Militär­basen oder Straflager für sie beherbergen. Diese politische Realität lähmt schon, bevor überhaupt damit begonnen wird, Strategien und Programme zu entwerfen, um die extremistischen Botschaften zu bekämpfen.

Staatsoberhäupter arabischer Staaten müssen gar nicht leugnen, dass der Westen seinen Anteil an der Radikalisierung in ihrer Region hatte. Im Gegenteil: Sie begrüssen eine solche Erklärung, weil sie einen Teil der Schuld anderswo sucht. Aber sie haben ihre eigenen Empfindlichkeiten – und Berichte, welche die eigenen inner­staatlichen soziopolitischen Treiber aufzeigen, die ihre Jugendlichen dazu bringen, ihre Hoffnung auf alternative Systeme zu setzen, werden still ad acta gelegt.

Als die Unmöglichkeit, ohne Vettern­wirtschaft oder ohne soziales Kapital eine Arbeit zu finden, Teil der Erzählung wurde, welche die Botschaften des Islamischen Staats und al-Qaida bekämpfen sollte, griffen die Behörden ein: Sie teilten mir mit, dass nichts, was sie gesehen hätten, darauf hinweise, dass diese Aussichtslosigkeit ein Faktor sei – obwohl ich in meiner Recherche zu gegenteiligen Erkenntnissen gekommen war. Es war keine besonders genehme Empfehlung, die Korruption innerhalb einer ganzen Gesellschaft anzusprechen – weshalb sie komplett aus den Mitteilungen heraus­geschnitten wurde. Hinzu kommt, dass westliche Geldgeber ihre Verbündeten nicht verärgern wollen, indem sie auf eine ehrlichere Erzählung pochen. Es ist sogar weniger wahrscheinlich, dass sie verbündete Länder unter Druck setzen, damit diese ihre Korruption unterbinden – wie man in den letzten 20 Jahren in Afghanistan auf so schockierende Weise sehen konnte.

Eine der grundlegenden Schwierigkeiten dabei, das Problem des gewalt­tätigen Extremismus anzupacken, ist es also, dass Regierungen auf der ganzen Welt nicht wollen, dass gewisse der Treiber dafür bekannt und veröffentlicht werden. Denn dann müssten sie ihre eigene Politik und ihr Verhalten ändern. Der Westen kann also keine politischen Fehler eingestehen; andere Regierungen können die eigene endemische Korruption weder anerkennen noch angehen. Diese politischen Realitäten verkleinern den Raum, in dem CVE-Fachleute arbeiten: Sie können also nie wirklich die Wurzeln des Problems in Angriff nehmen.

Geldgeber müssen angesichts dieser politischen Realitäten vorsichtig abwägen, welche Programme sie fördern wollen. Der Leiter eines Ausbildungs­programms für Imame in Jordanien war ehrlich zu mir: «Das hier war billig und einfach, und es wird niemandem schaden.» Ein schmerzarmes Hilfs­angebot an die jordanische Regierung – weil es ohne politische, wirtschaftliche oder soziale Reformen auskam. So schmerzarm sogar, dass diese Imam-Ausbildung ein wichtiger Teil der Strategie zur Bekämpfung von Extremismus geworden ist.

Bildung als verheerendes Aufklärungs­ideal

Es gibt noch einen anderen Grund, warum Ausbildung und Bildungs­programme so beliebt sind. Es ist gewisser­massen ein intuitiver Trugschluss: Wenn Imame einen moderaten Islam predigen und mit Argumenten ausgestattet sind, um extremistische Ideen innerhalb ihrer eigenen Gemeinde anzusprechen, ist es weniger wahrscheinlich, dass die Botschaften der Extremisten auf fruchtbaren Boden fallen. Es ist dieselbe Intuition, aus der heraus manche behaupten, dass das Lehren von kritischem Denken junge Menschen gegen solche Botschaften «impft». Mehr Information und bessere analytische Fähigkeiten bedeuten doch, dass die Menschen besser informierte Entscheidungen treffen? Aber: Es gibt keinerlei Belege dafür, dass diese Annahme korrekt ist. Und sie wirft viele Fragen auf. Nicht zuletzt, wie «besser informierte Entscheidungen» aussehen oder warum kritisches Denken vor bestimmten Botschaften schützt und vor anderen nicht.

Man muss bloss einigen Extremisten zuhören – egal, ob sie aus islamistischer, rechts­extremer, nationalistischer, ethnischer oder politischer Überzeugung handeln –, um zum Schluss zu kommen, dass ein Mangel an kritischem Denken nicht das Problem ist. Rund um die Welt haben mir Islamistinnen sehr detailliert erklärt, dass es einen Krieg gegen Muslime gebe – und sie haben die Puzzleteile mit einem Überschuss an kritischem Denken zusammen­gefügt, mitunter an der Grenze zu Verschwörungs­theorien.

Sowohl Marxisten-Leninisten (der kurdischen Separatisten­gruppe Arbeiterpartei Kurdistans PKK) als auch Islamisten haben mir erklärt, dass der Neoliberalismus die Schutz­bedürftigsten in meiner eigenen Gesellschaft im Stich lässt – während er sich auf genau diese Menschen verlässt, damit sie Pflege und andere system­relevante Dienste leisten. Viele der Argumente kommen direkt von bekannten kritischen Theoretikerinnen, darunter Feministinnen. Sie unterscheiden sich von uns nicht in ihrer Diagnose, sondern in ihren Rezepten – entweder ein islamischer oder ein kommunistischer Staat.

Tatsächlich könnte der Fokus auf kritischem Denken ohne politische Argumentation eine paradoxe Wirkung haben: nämlich Extremisten raffiniertere Methoden an die Hand zu geben, um ihre Rezepte zu rationalisieren.

Warum also dieser Glaube an Bildung?

Es ist ein altes Ideal der Aufklärung, das unsere Gesellschaften durchdringt: die Idee, dass Bildung und Lernen den Menschen­rechten zwangsläufig dazu verhelfen, sich auf der Welt zu verbreiten; verwurzelt in der Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen. Wie der frühere britische Premier­minister Tony Blair 2013 vor den Vereinten Nationen sagte: «Im 21. Jahrhundert ist Bildung eine Frage der Sicherheit.»

Mit dieser Haltung ist es kein Wunder, dass extremistische Ideale, bei denen es nicht um Gleichheit oder Menschen­rechte geht, für viele im Westen so verwirrend sind. Es gibt in diesem Bild der Aufklärung keinen Platz, um die persönliche Frustration jener zu verstehen, die eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder wollen. Der Glaube an Bildung als Wunder­mittel bedeutet, dass es keine Antwort auf legitime Beschwerden gibt. Oft ist es der Verlust jeglicher Alternative zur Hoffnung, der viele dazu bringt, sich den Versprechen extremistischer Organisationen zuzuwenden – kein Mass an Bildung kann einen solchen Mangel an Hoffnung wieder­gutmachen.

Es ist dieses Vertrauen in Bildung, vielleicht gepaart mit dem eher gerechtfertigten Glauben an die Wirksamkeit von Werbung, das zu grossen Investitionen in strategische Kommunikation geführt hat, die extremistische Botschaften bekämpfen soll. Der Islamische Staat ist einer der eindrucks­vollsten Gegner im Bereich der Propaganda. Der Bekämpfung seiner Propaganda wurde viel Geld nachgeworfen. Viele Millionen, wenig Wirkung.

Ein Brief mit der Bitte, ein Selbstmordattentat («Isthishadad») durchführen zu dürfen, gefunden in Sirte, Libyen. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone
Eine Uhr mit IS-Symbolen, gefunden in Baghuz, Syrien. Lorenzo Meloni/Magnum Photos/Keystone

«Strategische Kommunikation? Es gibt keine überzeugenden Belege dafür», sagte mir eine Angestellte des britischen Aussen­ministeriums. Ich erwähnte, dass ich die Beurteilung eines Programms gesehen hatte, das anscheinend die Botschaft der Extremisten verstärkte – die Bekanntheit der Gruppierung nahm zu, nachdem das Programm eingeführt wurde. Warum also wird es immer noch weitergeführt? «Die Leute mögen es, weil es sehr bekannt ist und weil es zeigt, dass man etwas tut», sagte sie. «Wenn man nichts gegen erfolgreiche Propaganda von Gruppierungen tut, wird das als schlecht angesehen.»

Ganze Gemeinschaften werden stigmatisiert

Staatliche Angestellte wie sie können nichts gegen diese Strategie tun; ausser Analysen zurückzuschicken, aber diese Analysen sind oft schlecht gemacht und werden von den ausführenden Organisationen geschönt, damit sie in Zukunft nicht dafür bestraft werden. Das Negative wird heraus­geschnitten. Und die Regierungen selbst wollen keine Fehler eingestehen, weil sie Vergeltung an der eigenen Wahlurne fürchten.

Aus unvermeidbaren Gründen sind Recherchen oft fehlerhaft; auch geschehen Fehler bei der Strategie und der Planung von Programmen. Das Problem entsteht, wenn ehrliche Auswertungen abgelehnt werden – weil man einen behaupteten Erfolg vorzieht. Wenn Regierungen und Uno-Vertretungen ein Scheitern nicht anerkennen können, dann sind sie dazu verdammt, Fehler zu wiederholen. Es existieren Forschungs­berichte, von denen man weiss, dass sie Fehler enthalten – aber sie sind manchmal versehen mit Uno- und Regierungs­logos und dadurch legitimiert. Hoch gehandelte Programme werden weitergeführt, obwohl man weiss, dass sie keine oder negative Wirkungen haben. Am gefährlichsten ist, dass das ganze Feld der CVE fehlgeleitet erscheint.

«Ich weiss nicht, was CVE ist», sagte eine Anti-Terror-Fachkraft aus einem europäischen Land bei einer Veranstaltung. «Es ist als Begriff nicht hilfreich und bedeutet meistens schlecht ausgeführte Sicherheit oder allgemeine Entwicklungs­arbeit, die nicht an ein Konzept wie gewalt­tätigen Extremismus gebunden sein sollte.»

Sie hatte recht: Wenn die Ermächtigung von Frauen, Alphabetisierungs­bemühungen oder Jugend­betreuungs­programme unter dem Label von CVE laufen, riskiert man, eine ganze Gemeinschaft zu stigmatisieren – und dadurch die Bevölkerungs­gruppen zu entfremden, die man zu erreichen versucht. «Wir passen uns an jedes Konzept an, das uns Finanzierung sichert», sagte der Leiter einer Uno-Agentur zu mir. «Aber ich weiss, dass es paradox ist. Man stigmatisiert eine ganze Gemeinschaft als eine, die Terroristen hervorbringt.»

Was kann man also gegen gewalt­tätigen Extremismus tun? Die Triebkräfte sind nun bekannt. Regierungen müssten die Realität anerkennen. Das ist anscheinend sowohl in autoritären als auch in demokratischen Regimes unmöglich. Und so bleibt nur noch ein winziger Raum übrig, in dem man sich bewegen kann. Vielleicht kann dieser für Kommunikations­kampagnen und Bildung übrig gebliebene Raum etwas Gutes bewirken, aber die Lügen darüber, wie viel dies ausmachen könnte, müssen aufhören. Ein vernünftigerer Weg scheint mir, CVE aufzugeben – für die hoffnungs­vollere Aufgabe, das Schicksal von jungen Menschen zu verbessern.

Aber trotz all der Verschwendung hält sich die CVE-Industrie weiter. Weil «man sieht, dass etwas getan wird».

Zur Autorin

Lydia Wilson ist Redaktorin beim Magazin «New Lines». Sie ist zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Computer Lab der Universität Cambridge und Forschungs­stipendiatin am Centre for the Resolution of Intractable Conflict an der Universität Oxford. Ausserdem arbeitet sie als Redaktorin der Cambridge Literary Review und ist Moderatorin der BBC-Serie «The Secret History of Writing». Dieser Beitrag erschien am 10. September 2021 unter dem Titel «Gone to Waste: the ‹CVE› Industry After 9/11» in «New Lines».

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