Wer hat eine jüdische Identität?

Der Autor Maxim Biller sprach dem Lyriker Max Czollek ab, zum Judentum zu gehören. Das löste in Deutschland eine heftige Debatte über die Frage aus, wer für das Judentum sprechen darf und wer nicht. Doch das ist die falsche Frage.

Von Alfred Bodenheimer, 28.10.2021

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Vor einigen Jahren sass ich mit einigen Leuten in einem Café im Hamburger Grindel­viertel, wo auf den Gehsteigen zahlreiche, an Opfer des NS-Regimes erinnernde Stolper­steine vom einst regen jüdischen Leben zeugen. Das Café selbst legte Wert darauf, als ein Teil der jüdischen Erneuerung dieses Viertels nahe der Universität wahrgenommen zu werden.

Einige Zeit vor meinem Besuch hatte ich deshalb dort angerufen, um zu fragen, ob das Café auch über eine koschere Küche verfüge. «Wir sind koscher light», antwortete mir die Dame am Telefon mit einer Deutlichkeit, die keine weiteren Nach­fragen zuliess. Damit wusste ich aber eigentlich nur, was das Café nicht bot: keine rabbinisch zertifizierte Küche, in der die jüdischen Speise­gebote penibel eingehalten werden.

Nun, da ich dort sass, versuchte ich heraus­zufinden, wie sich «koscher light» definieren liesse, und studierte neugierig die Karte, um der Sache auf die Spur zu kommen. Ich wurde fündig, als ich auf ein Sandwich «mit Butter und koscherer Wurst» stiess.

Wer die jüdischen Speise­gebote auch nur im Ansatz kennt, weiss, dass sich der Genuss von Fleisch (koscher oder nicht) zusammen mit Milch verbietet. Für jemanden, der nach dem jüdischen Religions­gesetz (Halacha) lebt, bedeutet somit «koscher light» schlicht «nichtkoscher», ganz egal woher die Wurst auf dem Sandwich kommt.

Doch für viele Leute zählt etwas anderes: Dass sie heute einen Steinwurf von der einst zerstörten Hamburger Synagoge entfernt wieder koschere Wurst erhalten, mit oder ohne Butter, ist für sie ein Zeichen, dass das Judentum hier nicht gänzlich vernichtet ist. Halacha ist das Letzte, was sie interessiert.

Dammbruch

An das Sandwich auf der Hamburger Speise­karte fühlte ich mich erinnert, als jüngst in Deutschland eine heftige Debatte ausbrach, in deren Zentrum der Lyriker und Essayist Max Czollek steht. Czollek ist seit seinem Buch «Desintegriert euch!» von 2018 einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt, wo er vehement für eine Befreiung der jüdischen Gemeinschaft von ihrer von deutscher Fremd­bestimmung zugeteilten Rolle plädierte.

Ausgelöst wurde diese Debatte von Czollek selbst, der twitterte, dass ihm der Autor Maxim Biller seine Zugehörigkeit zum Judentum abspreche, und eine Debatte über inner­jüdische Diskriminierung forderte. Biller, seinerseits nie um das Weiter­drehen von Eskalations­spiralen verlegen, ordnete Czollek den «Faschings- und Meinungs­­juden» zu, die «den linken Deutschen nach dem Mund reden». In der Folge davon brachen die Dämme. Kaum jemand mit jüdischem Bezug, dessen Name irgendwann in den letzten Jahren in Deutschland aufgepoppt ist, verzichtete auf einen persönlichen Beitrag.

Dass Czolleks familiäre Verbindung zum Judentum sich nur an seinem Grossvater, dem in der DDR prominenten Verleger Walter Czollek, fest­machen lässt, führte die einen dazu, Biller recht zu geben, wenn auch in etwas gemässigterem Ton: Max Czollek mag von seinem Grossvater, wie er erklärt, stark geprägt worden sein, er mag auch das jüdische Gymnasium von Berlin besucht haben und deshalb dem Judentum verbunden sein – zum Juden machen würde ihn nur eine jüdische Mutter (die er nicht hat) oder eine Konversion (die er nicht anstrebt). Sich als Jude auszugeben, wenn man keiner sei, entbehre eben der Legitimität.

Die anderen, und darunter auch eine wachsende Anzahl nichtjüdischer Künstlerinnen und Künstler, bezichtigen die konservativen Juden einer unversöhnlichen, intoleranten Haltung, die gerade der von offizieller jüdischer Seite so oft geforderten gesellschaftlichen Offenheit widerspreche. Danach wurde in einem am Anlass gemessen etwas dramatisch aufgezogenen, offenen Brief von 278 Kultur­­schaffenden (grossenteils nichtjüdischer Zuschreibung) «Entsetzen» darüber ausgedrückt, dass die Angelegenheit von Czolleks (konservativen) politischen Wider­sachern als «Vorwand» gebraucht werde, «um einen engagierten Befür­worter einer pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren».

Wieder andere verwarfen die Hände, verzweifelt darüber, dass die deutsche Öffentlichkeit sich an der Selbst­zerfleischung der jüdischen Gemeinschaft in ihrem Land delektiere.

Die hochemotionale Debatte, in der jeder und jede sich auf irgendeine Seite schlug, liess erstaunlich wenig Raum für eine etwas distanziertere Einordnung der Problematik, die, weit über die besonders sensible Situation in Deutschland hinaus, etwas darüber verrät, was es eigentlich heisst, im 21. Jahr­hundert mit einem uralten, aber komplizierten Minder­heiten­status umzugehen. Sprich: Wer darüber zu entscheiden hat, wer und was jüdisch ist, und vom wem dies zu akzeptieren sei.

Eine solche Einordnung soll hier versucht werden.

Warum die Mutter entscheidend ist

Seit der in Harvard lehrende Judaist Shaye J. D. Cohen vor zwanzig Jahren eine Monografie zu diesem Thema vorgelegt hat, ist es in der Forschung eine weit akzeptierte Meinung, dass das sogenannte Matri­linearitäts­prinzip, also die Zugehörigkeits­bestimmung gemäss der Herkunft der Mutter und nicht des Vaters, um das 2. Jahr­hundert in Judäa beziehungs­weise Palästina von den damaligen jüdischen Gelehrten festgelegt worden sei.

Cohen verlegte die Einführung der Matri­linearität damit geschichtlich in eine viel spätere Zeit, als man zuvor angenommen hatte, nämlich aus der Zeit der persischen Herrschaft über Jerusalem im 6. Jahr­hundert v. u. Z. in die Zeit der Römer, ins 2. Jahr­hundert n. u. Z. Diese Verschiebung aus der für Judäa relativ autonomen Perser­zeit in die römische Herrschaft, als die Juden nach der Zerstörung ihres Tempels im Jahr 70 und einer vernichtenden Nieder­schlagung eines Aufstands im Jahr 136 politisch am Boden lagen, ist aussage­kräftig. In besiegten Gemeinschaften werden weit mehr Frauen der Unter­worfenen von den Fremd­herrschern geschwängert als umgekehrt.

Wenn die Matri­linearität wirklich dann eingeführt wurde, so war sie eine inklusive Massnahme, um möglichst alle von jüdischen Frauen geborenen Kinder im Judentum zu halten, ungeachtet der Frage, wer der Vater war. Da jüdische Männer ohnehin meist mit jüdischen Frauen verkehrt haben dürften, hätte die patrilineare Definition viele Kinder ausgeschlossen – und nicht wenige Kinder von vergewaltigten oder verlassenen jüdischen Müttern und römischen Vätern wären in einen Status verhängnis­voller Nicht­zugehörigkeit gefallen, ohne offiziellen Vater und ohne Zugehörigkeit zum Judentum – und damit auch ohne minimale Fürsorge seitens der Religions­gemeinschaft der Mutter, bei der sie aufwuchsen.

Dass der Entscheid zur Matri­linearität ein sehr bewusster, revolutionärer war, zeigt sich darin, dass innerhalb des Judentums (bei zwei jüdischen Eltern) weiterhin patrilineare Prinzipien gelten, etwa was die Zugehörigkeit zur Abstammungs­linie der Leviten oder Kohanim (ursprünglich die Priester­kaste) betrifft.

So bewegt die jüdische Geschichte in den fast zweitausend Jahren seither auch war – das Prinzip bewährte sich grundsätzlich. Jüdische Männer hatten über einen langen Zeitraum kaum Kinder mit nicht­jüdischen Frauen, zumindest keine offiziellen. Und jüdische Frauen, die mit oder gegen ihren Willen von Nicht­juden geheiratet wurden, hatten ohnehin kaum eine Chance, ihre Kinder jüdisch aufzuziehen.

Ein grösseres Problem entstand ironischer­weise erst mit dem Hinein­wachsen der jüdischen Gemeinschaft in die Majoritäts­gesellschaften seit dem 20. Jahr­hundert, und besonders pointiert in der westlichen Welt seit der Nachkriegs­zeit, als die sozialen Barrieren nach und nach (fast) vollständig fielen. Das amerikanische Reform Movement, eine jüdische Denomination, die sich dem Judentum stärker von einem ethisch-zeit­gemässen Verständnis als vom traditionellen Religions­gesetz her zurechnet, beschloss in den Achtziger­jahren, auch Kinder patri­linearer jüdischer Herkunft mit nicht­jüdischer Mutter als jüdisch anzuerkennen.

Das war in allererster Linie ein Akt des institutionellen Überlebens: Gerade in dieser halachisch ungebundenen Gemeinschaft wurden Ehen jüdischer mit nicht­jüdischen Partnerinnen und Partnern derart verbreitet, dass ein Verzicht auf die Kinder aller nicht­jüdischen Frauen und jüdischer Männer dem Reform Movement mittelfristig die Mitglieder­substanz schlicht entzogen hätte. So aber wurde jüdischen Vätern, die früher ihre Kinder ausserhalb des Judentums fanden und sich deshalb oft auch selbst von der jüdischen Gemeinschaft abkehrten, ein integratives Angebot gemacht. In gewisser Weise haben die Reform­gemeinden Amerikas in einer diametral umgekehrten historischen Situation einen vergleichbar integrativen Schritt vollzogen wie seinerzeit im 2. Jahr­hundert die judäischen Rabbiner.

Kunst und Technik der Auslegung

Gerade in der Debatte um Max Czollek haben einige säkulare Vertreter seiner Sache das Beispiel des Reform Movement genannt. Warum schaffen das die orthodoxen Rabbiner nicht? Warum sind ihnen Exklusivität und Ausgrenzung wichtiger als eine solche Revision der Halacha?

Das Problem ist, dass Halacha so nicht funktioniert. Ihr Wesen ist autoritativ, sowohl was die Gesetze betrifft, die direkt aus den fünf Büchern Moses (Tora) abgeleitet werden, wie auch bezüglich der Verfügungen der Gelehrten der Antike, bis hin zu just der Zeit, als womöglich die Matri­linearität eingeführt wurde. Wer die Halacha als Massgabe des Judentums akzeptiert (und nur erklärte Antipluralisten könnten der jüdischen Gemeinschaft vorschreiben wollen, ihr eigenes Religions­recht nicht mehr zu achten), kann diese Gesetze nicht kippen. Er kann sie allerdings sehr weitgehend modifizieren, und hier beginnt eine Kunst und Technik der Auslegung, die ohne jahre- oder jahrzehnte­langes Studium der Schriften kaum zu leisten ist.

Im gegebenen Falle würde das heissen: Die Matri­linearität kann nicht durchbrochen werden. Es kann aber je nachdem einer Person, die aufgrund ihrer väterlichen Abstammung eine starke Bindung zum Judentum empfindet, die auf rechtlicher Grundlage mögliche Konversion zum Judentum erleichtert werden. Wie alles und jedes im Judentum (auch innerhalb der Orthodoxie) ist die Frage, wie viel Erleichterung jemandem gewährt werden soll, der unter solchen Voraus­setzungen nach der Halacha konvertiert, aber voraus­sichtlich nicht (wie das bei Konversionen erwartet wird) gemäss der Halacha leben wird, extrem umstritten. Es gibt aber durchaus prominente orthodoxe Rabbiner, die (vorab in Israel, je nachdem aber auch darüber hinaus) eine erleichterte Konversion für «Vater­juden» vehement befürworten.

Kurzum: Innerhalb der Spiel­regeln der Halacha ist fast alles modifizierbar, nur revidiert werden kann sie gemäss orthodoxer Auslegung niemals.

Wer Religions­gesetze im Besonderen und Religion im Allgemeinen ohnehin überflüssig findet oder allenfalls als Privat­sache anerkennt, mag dazu den Kopf schütteln. Fakt ist jedoch, dass es ohne diesen gemeinschafts­bildenden Konsens kaum gelungen wäre, eine winzige, über die Erdteile zerstreute, oft zwangs­weise migrierende, weitgehend macht- und vollständig zentrumslose Gruppe über Jahr­tausende zu erhalten.

Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille.

Identitäts­diskurs im Wandel

Die andere Seite ist, dass wir in der westlichen Welt – und ganz besonders in ihrem deutsch­sprachigen Teil – in der Nachkriegs­zeit einen Begriff der Identität geschaffen haben, der auf ganz anderen Grund­lagen als einem Religions­gesetz beruht. Gerade dieser Identitäts­begriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten jedoch seinerseits wieder massiv gewandelt.

In der Form, wie der Begriff der Identität drei bis vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgefasst wurde, stellte er eine Absage an den Kollektivismus totalitärer Systeme, die ideologie­getriebene Gruppen­bildung der Jahre nach 1968, aber auch den im 20. Jahr­hundert geschändeten Begriff des National­staats dar. Identität hatte sehr viel mit persönlicher Selbst­findung und Selbst­bestimmung zu tun, und es etablierte sich ein Respekt vor der Autonomie des Individuums, die auch die freie Wahl seiner Zugehörigkeit umfasste.

Gleichzeitig wurde damals, in der Zeit des Dekonstruktivismus, das jüdische Denken von Intellektuellen wie Jacques Derrida als eine seit langem schon gepflegte und zu Unrecht marginalisierte Art des kreativen Unter­laufens europäischer Identitäts­strukturen gefeiert. Sich – in welcher Form auch immer – mit dem Jüdischen zu identifizieren, erschien vielen als ein Akt der legitimen Selbst­befreiung aus eingefahrenen gesellschaftlichen Mustern und belasteten nationalen Diskursen.

Geprägt von diesem Geist und zugleich beflügelt vom Ende des kommunistischen Macht­blocks, träumte die in Paris lebende italienisch-jüdische Historikerin Diana Pinto 1996 in einem viel beachteten Essay von Europa als einem «dritten Standbein» des Judentums neben Israel und Nordamerika.

Der Begriff des Judentums, den sie dabei in den Blick nahm, ging weit über die Grenzen halachischer Definitionen hinaus: Die aufkeimende Faszination für das Judentum, teilweise auch gepaart mit konjunkturellen Über­legungen, hatte von Lehr­stühlen zu Jüdischen Studien über neue Jüdische Museen und Klezmer­bands in Deutschland oder Österreich bis hin zur Renovation alter, faktisch leer stehender Synagogen oder pittoresker, einst jüdischer Quartiere in Osteuropa eine grosse Band­breite von im weitesten Sinne «jüdischen» Erscheinungen hervor­gebracht. Ob sie faktisch von jüdischen oder nicht­jüdischen Menschen betrieben wurden, war für Pinto weniger relevant, zeugten sie doch davon, dass das Judentum insgesamt auf dem Kontinent nach der vernichtenden Zäsur der Shoah wieder an Bedeutung und Sichtbarkeit gewann.

Aus Pintos Sicht wäre das Auftreten von «Grossvater­juden» wie Max Czollek sicherlich keine Anmassung, sondern Zeichen eines selbst­bestimmten und die Facetten des Jüdischen bereichernden Verständnisses von Judentum, das auf einer Linie mit dem beschriebenen Identitäts­diskurs liegt.

Doch nebst vielem anderen hat sich in den letzten Jahren auch der Identitäts­diskurs gewandelt. Beeinflusst nicht zuletzt durch amerikanische Empowerment-Debatten, wird er heute dominiert von einer Identitäts­politik, die Gruppen­zugehörigkeit stärker gewichtet als individuelle Selbst­verortung und -bestimmung. Spätestens mit den Verwerfungen rund um die Übersetzung des Gedichts «The Hill We Climb» der afro­amerikanischen Dichterin Amanda Gorman ins Nieder­ländische, nachdem einer weissen holländischen Dichterin auf Intervention einer afro­niederländischen Publizistin hin vermeintlich die Kompetenz abgesprochen worden war, in Gormans «Geist» zu übersetzen, ist diese Diskussion in Europa präsent.

In dieser Situation werden Zuschreibungen zu einer Angelegenheit, die – gerade von der auf Differenz und Desintegration pochenden Community, in der Max Czollek agiert – offenbar von einer von aussen festlegbaren Gruppen­zugehörigkeit nicht getrennt werden kann. Oder anders formuliert: Hätten die 278 Personen, die den Aufruf zur Solidarität mit Max Czollek unterschrieben, dies auch getan, wenn führende Exponentinnen und Exponenten afrodeutscher Herkunft jemandem mit nur einem afrikanischen Grosseltern­teil das Recht bestritten hätten, als prominente afrodeutsche Stimme aufzutreten?

Die Leidenschaften, die in der deutschen Debatte aufloderten und die eigentlich weit über Deutschland hinaus für die Frage von Zuschreibungen relevant sind, lassen darauf schliessen, dass der Mix von Identität und Religion heute explosiver ist als seit langem – und zwar gerade deshalb, weil bei jedem der beiden Begriffe das Verständnis jeweils individueller Selbst­bestimmung und normativ zu erfüllender Vorgaben diametral auseinander­laufen kann.

Dass es eine Selbst­ermächtigung geben muss, sich als jüdisch zu bezeichnen, stimmt ebenso, wie es auch richtig ist, dass die jüdische Gemeinschaft oder ihr konservativerer Teil das Recht hat und haben muss, sich auf einen klar bestehenden Normen­katalog zu berufen, der den Begriff «jüdisch» definiert. So wie die koschere Wurst auf Butter in Hamburg für die einen das Zeichen eines jüdischen Revivals, für die anderen schlicht unkoscheres Essen darstellt.

Die Situation stellt sich paradoxer­weise so dar, dass niemandem das Recht abgesprochen werden darf, sich als jüdisch zu bezeichnen – es darf aber auch niemandem das Recht abgesprochen werden, anderen dieses Recht abzusprechen. Hochtrabende Verurteilungen in beide Richtungen verbieten sich.

Wie jüdisch gerade dieses Paradox am Ende ist, zeigt sich darin, dass es in einem der berühmtesten jüdischen Witze auftaucht. Er handelt von zwei Leuten in einer Gemeinde, die sich in einer Rechts­sache hoffnungslos zerstritten haben und zum Rabbi kommen, damit er einen Entscheid fälle. Der Erste trägt seine Argumentation vor. «Du hast recht», meint der Rabbi zustimmend, als er geendet hat, hört aber auch den anderen an. «Du hast recht», bestätigt er dann auch diesem. «Wie soll das gehen», protestiert die Frau des Rabbi, «wie sollen beide recht haben?» Der Rabbi schaut sie nachdenklich an, dann meint er: «Du hast auch recht.»

Zum Autor

Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religions­geschichte an der Universität Basel. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Studien und unter anderem Heraus­geber einer Geschichte der Israelitischen Cultus­gemeinde Zürich. Bekannt geworden ist Bodenheimer als Autor von Kriminal­romanen, die auch Milieu­studien des Zürcher Judentums darstellen. Er lebt mit seiner Familie in Israel und pendelt zwischen Jerusalem und Basel.

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