Strassberg

Aristoteles und die Impfgegner

Warum ist der Widerstand gegen Wissenschaft und Vakzine teilweise so heftig? Weil wir an unserem Erfahrungs­wissen festhalten, als hätte es nie eine Aufklärung gegeben – wobei die ohnehin ein leeres Versprechen war.

Von Daniel Strassberg, 28.09.2021

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Am 18. September war es so weit: Im deutschen Bundes­land Rheinland-Pfalz erschoss ein 49-jähriger Mann einen Tankstellen­wart, der ihn auf die Masken­pflicht hingewiesen hatte. Je heftiger und brutaler die Auseinander­setzung wird, desto weniger versteht man, worum sie eigentlich geht. Um Freiheit, Grund­rechte und Demokratie sagen die einen, darum, diese blöde Pandemie endlich hinter uns zu bringen, die anderen. Das sei leider nur mit einer Durch­impfung der Bevölkerung von etwa 80 Prozent möglich, versichern uns die Experten und Expertinnen, das sei simple Mathematik.

In der Argumentation der Impf­gegnerinnen und der Impf­skeptiker mischen sich merkwürdiger­weise blinde Wissenschafts­gläubigkeit mit wütender Wissenschafts­skepsis. Einerseits zitieren sie beständig irgend­welche obskuren Studien zweifelhafter Wissenschaftler, andererseits bezichtigen sie die Wissenschaft der Korruption und der Fälschung. Im Grunde scheint es also bei dieser ins Bizarre kippenden Debatte um die Haltung gegenüber der Wissenschaft zu gehen.

Das führt uns zu Aristoteles zurück, dem ersten systematischen Natur­wissenschaftler des Abend­landes. Verbissen sammelte er Tatsachen über alles, was die Natur, die physis, zu bieten hatte, mit Zoologie, Botanik, Astronomie, Politik – auch ein natürliches Phänomen – und der Psychologie. Philosophie kam erst nach der Natur­forschung, griechisch meta physis. Daher der Name Metaphysik.

Was also können wir von Aristoteles über Impfgegnerinnen und Querdenker lernen?

Die Geschichte der Wissenschaft wird meist als Geschichte eines unaufhalt­samen Fortschritts erzählt. Im Mittel­alter galt Aristoteles als die unangefochtene wissen­schaftliche Autorität. Wenn er feststellte, dass der Stein fällt, weil ihn eine Sehnsucht nach seiner Herkunft zur Erde hin­treibt, das Leben als Miasma aus einem Misthaufen entsteht oder sich die Sonne um die Erde dreht, so galt dies, als stünde es in der Bibel.

Dann aber kamen Kopernikus und Galileo Galilei und warfen, gegen den Widerstand der Kirche, die Bücher – Bücher war im Mittelalter ohnehin ein Synonym für die Bibel und die Werke von Aristoteles – über Bord und begannen, die Welt durch genaue Beobachtung so zu beschreiben, wie sie wirklich ist. Das war die Geburts­stunde der modernen Natur­wissenschaft: Die genaue Beobachtung ersetzte das religiöse und aristotelische Bücher­wissen. So soll Galileo zwei Kugeln unterschiedlicher Masse vom schiefen Turm von Pisa fallen gelassen haben, um zu demonstrieren, dass für die Beschleunigung im freien Fall die Masse keine Rolle spielt.

An dieser Erzählung stimmt so gut wie nichts. Hätte sich Galileo tatsächlich die Mühe gemacht, auf den 55,8 Meter hohen Turm zu kraxeln, und zwei ungleich schwere Kugeln fallen zu lassen, hätte er gerade nicht beobachtet, dass die grosse und die kleine Kugel gleichzeitig aufschlagen. Die schwerere wäre viel schneller unten gewesen. Es wird inzwischen sogar ernsthaft bezweifelt, ob Galileo Galilei ein anderes, für seine Erneuerung der Physik noch wichtigeres Experiment – jenes mit der Kugel auf der schiefen Ebene – überhaupt je durchgeführt hat.

Nein, die wissenschaftliche Revolution bestand gerade nicht darin, die persönliche Beobachtung aufzu­werten, sie wandte sich im Gegenteil von der subjektiven Erfahrung ab und der Mathematik zu. Galilei fand eine allgemein­gültige Formel für den freien Fall und mathe­matisierte damit als Erster die Physik: Dass die Masse keine Rolle spielt und die beiden Kugeln gleich schnell fallen, folgt gerade nicht aus der Beobachtung, weil dies nur im absoluten Vakuum stimmt, und das lässt sich bekanntlich nicht herstellen, schon gar nicht zu Galileis Zeiten. Es ist eine rein mathematische Wahrheit.

Aristoteles war nicht dümmer als Galileo Galilei, er verfolgte lediglich ein anderes wissen­schaftliches Programm. Seine Wissenschaft sollte subjektive Erfahrungen systematisieren:

Aus der Erfahrung oder, anders gewendet aus jenem Allgemeinen, das in der Seele zur Ruhe gekommen ist und das eines neben der Vielheit ist […] stammt das, was das Prinzip der Berufs­geschicklichkeit (technè) und des Wissens ist. Mit Berufs­geschicklichkeit meine ich das, was sich nur um das Werden bemüht, mit Wissen meine ich Wissen von Seiendem. So ist denn das Vermögen, die ersten Prinzipien [der Natur­lehre] intuitiv zu erkennen, aus der Wahrnehmung entstanden.

Aus: Aristoteles, «Analytica Posteriora», 100a4 ff.

Dass sich die Sonne um die Erde dreht, entspricht der alltäglichen Wahrnehmung: Sie geht im Osten auf und im Westen unter. Mit solchen Erfahrungen formen wir unsere Alltags­theorien, an denen wir uns orientieren. Dieses unmittelbare Erfahrungs- und Orientierungs­wissen hatte Aristoteles bei seinen Forschungen im Auge.

Galileo Galilei verfolgte ein völlig anderes Programm. Er wollte nicht die Alltags­erfahrung beschreiben, sondern mit Hilfe der Natur­wissenschaften in die Zukunft blicken. Etwas weniger pathetisch ausgedrückt: Sein Ziel war es, nach dem Vorbild der Astronomie, die Prognose­fähigkeit der Natur­wissenschaften zu erhöhen. So wie man das Erscheinen von Planeten auf Jahre hinaus berechnen kann, sollte man alles Natürliche im Voraus berechnen können.

Dabei stören die subjektiven Wahr­nehmungen nur, denn diese täuschen uns unablässig. Um die objektiven Gesetze der Natur zu ermitteln, müssen die subjektive Wahrnehmung und die persönliche Erfahrung ausgeschaltet werden. Dazu stehen drei Wege zu Verfügung:

  1. die Kontrolle der Wahrnehmung durch das Experiment

  2. die Verbesserung der Wahrnehmung durch Instrumente wie Fernrohr oder Mikroskop

  3. die Mathematisierung der Physik

Die Formel für den freien Fall im Vakuum war die wichtigste Innovation Galileis, weil sie die Wissenschaft von der subjektiven Erfahrung befreite. In der Formel kommt die Masse nicht vor, also spielt sie keine Rolle, gleichgültig, was der Einzelne beobachtet. Sir Isaac Newton vollendete Galileis Programm einer vollständig mathematisierten Physik, in deren Zentrum die Bewegungs­gesetze standen. Nun, nicht ganz vollständig: Die Gravitations­kraft konnte er in seine Mechanik nicht integrieren, deshalb hielt er sie für die Gedanken Gottes.

In Newtons Mechanik verbindet noch ein dünner Faden die subjektive Vorstellung mit natur­wissenschaftlichem Wissen. Auch wer die dazu­gehörige Mathematik nicht beherrscht, erfasst noch intuitiv, was Kraft, Stoss, Beschleunigung, freier Fall oder leerer Raum sind.

Dieser Faden riss im 19. Jahr­hundert. Die Thermo­dynamik von Nicolas Sadi Carnot, die Feld­theorie von James Maxwell und dann die allgemeine Relativitäts­theorie von Albert Einstein haben die Verbindung von Vorstellung und Wissen endgültig gekappt. Ihre Entdeckungen waren nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von Berechnungen, die kaum noch jemand verstehen, geschweige denn sich vorstellen kann. Können Sie sich einen gekrümmten Raum vorstellen, oder wie ein Magnet ein Kraftfeld erzeugt oder was die 11. Dimension ist, in der die String­theorie die Gravitations­kraft mit dem Standard­modell der Teilchen­physik vereint? Oder wie eine Messenger-Ribonuklein­säure (mRNA) eine menschliche Zelle dazu bringt, ein Protein zu bauen?

Das spielt sich in Grössen­ordnungen ab, die die menschliche Vorstellungs­kraft und die menschliche Wahrnehmung bei Weitem übersteigen. Selbst bildgebende Verfahren bilden heute oft nicht mehr die Beobachtung mit Hilfe von Instrumenten ab, sondern bestehen aus Grafiken, in denen riesige Daten­mengen verarbeitet werden. Auch sie sind also blosse Mathematik.

Die moderne Wissenschaft ist eine grossartige Fortschritts­leistung, aber sie erzeugt damit auch ein Problem: Sie unterläuft die Aufklärung, der sie entsprungen ist. Kants Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen, erträgt keine Ausnahmen: Autonom ist nur, wer sich ein eigenes, rationales Urteil bildet. Wer lediglich an ungeprüfte Autoritäten glaubt, ist unfrei und unaufgeklärt, und zwar nicht nur in moralischen Fragen.

Die aufklärerische Forderung nach Selbst­denken war allerdings von Anfang an ein leeres Versprechen. Wir alle wachsen in und mit Institutionen auf, die Autorität beanspruchen: Familie, Schule, Medizin. Im Laufe der Entwicklung können wir einige von ihnen hinterfragen, viele andere aber nicht. Wer die Haus­ärztin aufsucht, muss ihr nolens volens glauben, daran ändert auch die viel beschworene Aufklärungs­pflicht wenig.

Auch die Wissenschaft fordert Glauben ein, das Besondere an ihr ist aber die Tatsache, dass wir an sie glauben müssen, obwohl wir uns nicht einmal mehr eine Vorstellung davon machen können, wovon sie überhaupt spricht. Der Verstand des Laien – und der meisten Wissen­schaftlerinnen, die nicht genau in dem jeweiligen Gebiet tätig sind – ist angesichts ihrer Erkennt­nisse hoffnungslos überfordert. Er kann nur darauf vertrauen, dass stimmt, was behauptet wird und die institutionellen Kontroll­mechanismen nicht versagen.

Die modernen Natur­wissenschaften katapul­tieren uns gewisser­massen in eine voraufgeklärte Welt zurück, in der wir Autoritäten wieder so blind vertrauen müssen wie einst der Kirche: Die eigene Wahrnehmung hatte damals keine Bedeutung, und sie hat heute keine, der eigene Verstand zählte damals nicht, und heute auch nicht.

Das ist im Kern, wogegen die Impf­skeptiker aufbegehren. In der unmittelbaren Wahrnehmung sind wir alle Aristoteliker geblieben. Dem Stein, der zu tragen zu schwer ist, unterstellen wir, am Boden haften zu wollen; der Computer, der wieder abstürzt, will uns quälen; die Stimme des Navis, dessen Anweisungen wir nicht befolgen, will uns ärgern.

Zugleich wissen wir natürlich, dass die Gravitations­kraft wirkt, die Elektronik spinnt und das Navi programm­gesteuert immer dieselbe mechanische Stimme benutzt. Gegen unseren Ärger schützen uns diese Informationen trotzdem nicht. Unser Erfahrungs­wissen ist stärker.

Impfskeptikerinnen – und andere Esoteriker – wollen und können auf die Autorität der eigenen Empfindungen und Wahrnehmung nicht verzichten. Vertrauen zu müssen, ist eine schwere Kränkung. Um diese zu vermeiden, zimmern sie sich eine eigene Welt mit einer eigenen Wissenschaft zusammen, in der die subjektiven Wahr­nehmungen, Emotionen und Überlegungen ihren Wert zurück­bekommen und persönliche Empfindungen wie bei Aristoteles zu objektiven Tatsachen werden: Ich habe Angst vor der Impfung, also muss sie gefährlich sein. Masken zu tragen ist mir unangenehm, also nützen sie nichts.

Impfskeptiker sind Wissenschafts­skeptiker, die mit der Kränkung nicht fertig­werden, glauben zu müssen, ohne zu verstehen, geschweige denn nachprüfen zu können. Sie beharren auf ihrer Wahrnehmung.

Um das aufgeklärte Ideal der «Autonomie» zu retten, – um Freiheit geht es ja in ihren Demonstrationen immer – kehren sie zum Aristotelismus zurück, zu einer voraufklärerischen Wissenschaft also, in der das subjektive Erleben noch im Zentrum stand.

Manche unter ihnen sind bereit, dafür ihr Leben zu opfern – und das der anderen.

Illustration: Alex Solman

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