Amandla! Trauerzug für Nzoy, der von der Polizei erschossen wurde (Zürich, vergangenen Dienstag). Bild Raimond Lüppken

Der Tote von Morges

Wieder tötet die Waadtländer Polizei einen Schwarzen. Wer war der Mann, den seine Freunde Nzoy nannten?

Von Carlos Hanimann, 27.09.2021

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Es ist ein Montagabend Ende August, 18 Uhr, Rushhour, als vom Perron des Bahnhofs Morges zweimal ein dumpfer Knall ertönt. Ein Mann geht zu Boden, steht wieder auf. Sekunden später knallt es noch einmal. Jetzt bleibt er liegen.

Ein Polizist fesselt den Mann mit Hand­schellen. Weitere Polizisten kommen hinzu. Zu viert stehen sie um den sterbenden Mann.

Dann geschieht: nichts.

Rund vier Minuten lang stehen die Polizisten da, ohne dem Mann zu helfen. Er stirbt noch an Ort und Stelle.

Augenzeugen filmen das Geschehen, «20 Minuten» und «Blick» veröffentlichten die Aufnahmen kurz darauf.

Die Polizei schreibt in einer Medien­mitteilung, der Mann sei mit einem Messer bewaffnet gewesen. Eine Augenzeugin sagt, der Mann sei mit einem Schotter­stein auf die Polizisten zugerannt. Die strafrechtlichen Unter­suchungen gegen die Polizei laufen; die Staats­anwaltschaft Waadt hat ein Ermittlungs­verfahren wegen Mordes aufgenommen.

Der «Blick» schreibt kurz darauf vom «Messer-Droher», der die Beamten «gezwungen» habe, auf ihn zu schiessen. Aus dem Opfer wird ein Täter. Vorschnell bringt die Zeitung das Tötungs­delikt mit einem anderen in Verbindung: Der Fall ähnle dem Mord, den ein islamistischer Fundamentalist ein Jahr zuvor in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs verübte. «Erinnerungen (…) werden wach», schreibt die Zeitung.

Was der «Blick» und andere (Deutsch­schweizer) Medien nicht schreiben: Der von den Polizisten getötete Mann war schwarz – und sein Tod erinnert an eine Reihe anderer Fälle tödlicher Polizei­gewalt gegen Schwarze im Raum Lausanne.

Ein tiefgläubiger Mann

Am vergangenen Dienstag, drei Wochen nach den tödlichen Schüssen, versammeln sich vor dem Krematorium Sihlfeld in Zürich über 100 Verwandte, Freundinnen und Bekannte, um von dem Mann Abschied zu nehmen, der in Morges getötet wurde: Nzoy, 37 Jahre alt, in Zürich geboren und aufgewachsen, Sohn eines weissen Schweizers und einer schwarzen Südafrikanerin. «Nzoy» war der Name, den er sich selbst gegeben hatte.

Er schrieb Gedichte, war Fan des Rappers Tupac Shakur – und er sei ein sehr gläubiger Mann gewesen, erzählt Pfarrer Markus Giger an diesem warmen Dienstag­nachmittag Mitte September in Zürich.

Der Pfarrer hatte Nzoy vor 17 Jahren kennengelernt, als der damals 20-Jährige einen Job suchte und deswegen in die Streetchurch kam. Nzoy sei anders gewesen als die meisten jungen Männer in seinem Alter, sagt Giger. Er habe von Anfang an mit ihm über seinen Glauben sprechen wollen. Zwei Jahre später habe er gesagt, er wolle sich von ihm taufen lassen. Die beiden verband über viele Jahre eine tiefe Freundschaft – bis zuletzt.

Pfarrer Giger sagt an der Trauerfeier überzeugt: «Wenn Nzoy auf diesem Bahnhof in Morges mit einem Messer einen Polizisten bedroht hat, dann war das Ausdruck von einer tragischen Verwirrtheit. Einer Verwirrtheit, die sich in den letzten Monaten angedeutet hat.»

Nzoy sei zuletzt sehr erschöpft gewesen, anders als ihn Freunde sonst kannten: Nzoy habe früher jeden zum Lachen gebracht, sagt ein Freund an der Trauer­feier. Aber seit Anfang Jahr sei er psychisch angeschlagen gewesen. Pfarrer Giger und Nzoys Familie hätten dies gemerkt, ihm geraten, sich professionelle Hilfe zu holen. Nzoy hatte Ängste entwickelt, war verwirrt. Aber Hilfe habe er abgelehnt.

Eines Tages Ende August betrat der 37-jährige Nzoy den Zug Richtung Genf, in Morges stieg er schliesslich aus, irrte umher, am Bahnhof, auf den Gleisen. Niemand weiss, was er dort wollte. Kurz darauf war er tot.

Vor dem Krematorium in Zürich ertönt jetzt ein kräftiges «Amandla!» über die Lautsprecher­boxen, der Ruf der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung. Mit in die Luft gereckter Faust antwortet die Trauer­gemeinde: «Awethu!» Erst etwas zögerlich. Dann immer lauter.

Der Mann, der am Mikrofon steht, ist Mandu dos Santos Pinto, ein Freund der Familie, Koordinator von Exit Racism Now und Mitorganisator eines Trauer­marsches in Zürich, der am gleichen Abend stattfindet.

«Was wollte Nzoy in Morges?», hatte Pfarrer Markus Giger kurz zuvor gefragt. «Warum stieg er ausgerechnet dort aus? Was hatte ihn so verwirrt? Fühlte er sich bedroht? Warum war die Polizei nicht besser vorbereitet? Warum die unseligen Schüsse? Warum haben sie ihn nicht beruhigen können? Warum haben sie ihn nicht anders gestoppt? Warum hat man ihn mehr als vier Minuten lang liegen lassen? Warum hat ihm niemand geholfen?»

Es sind die Fragen, die nicht nur seine Freunde an der Abdankungs­feier umtreiben. Sondern auch mehrere hundert Schwarze und People of Color, die am selben Abend in mehreren Städten der Schweiz auf die Strasse gehen, um gegen Rassismus und Polizei­gewalt zu protestieren. Es sind Fragen, auf die bis heute niemand eine Antwort hat.

Was geschah in Morges?

Für die Demonstrantinnen am Dienstag­abend ist klar, dass Nzoy auch deshalb starb, weil er schwarz war. Nzoys Vater sagte einem Reporter von «24 Heures», sein Sohn habe offen­sichtlich psychische Probleme gehabt: «Warum also auf ihn schiessen? Es muss eine andere Möglichkeit gegeben haben, zu intervenieren. Wäre er weiss gewesen, wäre er nicht tot.»

Was also geschah an jenem Montag­abend Ende August in Morges?

Gemäss Darstellung der Polizei, mehreren Zeugen und den Videos, über die auch West­schweizer Medien berichteten, kam Nzoy etwa 16.45 Uhr mit dem Zug aus Genf in Morges an. Dort wollen verschiedene Zeugen gesehen haben, wie er mehrfach über die Gleise spazierte. Warnungen, dass das gefährlich sei, habe er ignoriert.

Etwa um 18 Uhr wurde die Polizei informiert, dass sich am Bahnhof Morges ein «unruhiger Mann» («un homme agité») befinde. Gemäss Darstellung der Polizei habe man Nzoy, der sich auf dem Perron zwischen den Gleisen 4 und 5 befand, ermahnt. Der 37-Jährige habe daraufhin ein Messer gezückt und bedrohlich gewirkt, worauf ein Polizist dreimal auf Nzoy geschossen habe.

In der ersten Medien­mitteilung schrieb die Polizei, sie habe sofort Erste Hilfe geleistet.

Doch bald darauf zeigten Videos, dass das eine Falsch­information war.

Zwar fesselte ein Polizist den am Boden liegenden Nzoy, kurz nachdem er dreimal geschossen hatte, dann aber zögerten er und seine Kollegen. Über vier lange Minuten standen die Polizisten um den toten Mann und taten – nichts. Erst als ein Passant herbei­eilte, zufällig ein Kranken­pfleger, wurde Nzoy reanimiert.

Die Polizei musste ihre falsche Darstellung daraufhin in einer weiteren Medien­mitteilung korrigieren, gab jedoch keine weiteren Erklärungen dazu ab.

Hätte das Leben von Nzoy gerettet werden können, wenn man ihm sofort geholfen hätte? Das ist derzeit Gegen­stand der laufenden Ermittlungen.

«Nzoy wurde niemandem gefährlich»

«Wir sind überzeugt, dass Nzoy aufgrund rassistischer Polizeigewalt gestorben ist», sagt Mandu dos Santos Pinto. «Die Polizei wurde gerufen, um einem psychisch verwirrten Mann zu helfen. Dass die Lage dann eskalierte, kann ich nicht anders erklären als mit Rassismus.» Es habe nie eine Todes­gefahr für die Polizisten bestanden. «Die Polizei ist auf einen Menschen mit psychischen Problemen getroffen. Sie müsste eigentlich dafür ausgebildet sein, wie man mit einer solchen Situation umgeht.»

Mandu dos Santos Pinto weist darauf hin, dass Nzoy sich über eine Stunde lang am Bahnhof Morges aufhielt. Und nach allem, was bisher bekannt ist, hat er in dieser ganzen Zeit niemanden bedroht. Die Situation sei erst eskaliert, als die Polizei eintraf. «Nzoy wurde niemandem gefährlich, bis die Polizei auftauchte. Es gab überhaupt keine Fremd­gefährdung.»

Jetzt müsse untersucht werden, warum die Lage eskalierte. Aufgrund der Erfahrungen, die schwarze Menschen in der Vergangenheit machen mussten, seien die Hoffnungen begrenzt. Man erwarte aber, dass die Unter­suchungen nicht nur die Handlungen der einzelnen Polizisten betreffen, sondern das Polizei­problem strukturell angegangen werde. «Das vorhandene Video­material zeigt die Aktionen der Polizei, ihre Untätigkeit und auch ihre Lüge.» Entgegen ihrer Behauptung, sofort Hilfe geleistet zu haben, liess sie ihn über vier Minuten liegen.

«Nzoy ist der vierte schwarze Mann, der in viereinhalb Jahren im Kanton Waadt getötet wird. Dahinter stehen rassistische Strukturen: Bei der Polizei gibt es ganz offen­sichtlich rassisierte Vorstellungen, sodass die Polizisten nicht in der Lage sind einem schwarzen Menschen als Mensch zu begegnen», sagt Mandu dos Santos Pinto.

2018 überwältigten sechs Polizisten den Nigerianer Mike Ben Peter in der Nähe des Lausanner Bahnhofs und knieten minutenlang auf ihm. Kurz darauf wurde im Spital sein Tod festgestellt.

2017 wurde der gambische Geflüchtete Lamine Fatty tot in einer Zelle gefunden. Die Polizei hatte ihn zuvor bei einer Kontrolle verwechselt und in Gewahrsam genommen, obwohl Fatty wegen einer kurz davor erfolgten Hirn­operation in schlechtem Gesundheits­zustand war.

Und Ende 2016 erschoss ein Polizist den in der Schweiz aufgewachsenen Kongolesen Hervé Mandundu im Treppen­haus vor seiner Wohnung in Bex im Kanton Waadt. Ein Nachbar hatte die Polizei gerufen. Mandundu kam nach anfänglicher Weigerung mit einem Küchen­messer in der Hand aus seiner Wohnung. Ein Polizist floh, der andere fühlte sich bedroht und feuerte drei Schüsse auf Mandundu ab.

Der Fall von Hervé Mandundu wurde vergangenen Frühling über vier Jahre nach seinem Tod vor Gericht verhandelt. Der Richter folgte der Verteidigung, anerkannte eine Notwehr­situation und sprach den angeklagten Polizisten frei. Das Verfahren im Todesfall Mike Ben Peter ist noch immer hängig.

Und jetzt der vierte tote Schwarze in nur viereinhalb Jahren im Raum Lausanne.

Die Chance, dass die Polizei zur Rechenschaft gezogen wird, ist klein. Das haben andere Fälle in der Vergangenheit gezeigt.

Schwester: «Eine Schikane der Staats­anwaltschaft»

Rolf Zopfi von der Menschenrechts­gruppe Augenauf verfolgt die Arbeit der Polizei in der Schweiz seit zwei Jahrzehnten kritisch. Er will nicht über den Tathergang spekulieren, solange keine gesicherten Akten­kenntnisse vorliegen. Klar ist für ihn aber, dass im Fall von Nzoy sehr viel schief­gelaufen ist. «Am Ende kann man festhalten, dass die Störung des Zugverkehrs behoben wurde auf Kosten eines Menschen­lebens.»

Dass im Kanton Waadt mehrfach Schwarze im Kontakt mit der Polizei starben, könne man nicht mehr als Zufall oder Einzelfall abtun. «In der Waadtländer Polizei herrscht offenbar eine diskriminierende Stimmung vor, wo Schwarze tendenziell als Feind­bild betrachtet werden», sagt Zopfi. Ganz offensichtlich erhielten die Polizisten vom Polizei­kommando «viel Spielraum, um diese Feindschaft ausleben zu können».

Zopfi glaubt nicht, dass die Polizei aus der Vergangenheit gelernt hat und sich verändert. Dafür mangle es an einer echten Fehler­kultur in der Polizei: «Ich denke nicht, dass die Polizei ihre Lektion lernt. Denn die Polizei geht grund­sätzlich davon aus, dass sie nie im Unrecht ist und dass sie keine Fehler macht.»

Ein Staatsanwalt untersucht nun die Arbeit der Polizei. Auch die Politik hat sich mittler­weile eingeschaltet und will Klarheit über die Abläufe bei der Polizei. Auch müsse die Frage des Rassismus in der Polizei ohne Tabus angegangen werden.

Die Angehörigen von Nzoy indes verfolgen die juristische Aufarbeitung des Falls mit Zweifeln. Der ermittelnde Staats­anwalt versuche die Angehörigen aus dem Verfahren zu halten, sagt die Schwester von Nzoy zur Republik. Zwar sei Nzoys Vater von Gesetzes wegen als Privat­kläger zugelassen. Allerdings hätten die beiden Halb­geschwister bisher erfolglos versucht, sich als Privat­klägerinnen zu konstituieren. Die Halb­geschwister, die mit Nzoy und der gemeinsamen Mutter aufwuchsen, hätten aber einen viel engeren Kontakt zu Nzoy gepflegt.

Der Staatsanwalt habe bei der Zulassung der Privat­klägerschaft einen Ermessens­spielraum. Diesen nutze er voll aus, sagt die Schwester – zuungunsten der Geschwister. Der Anwalt der Familie hat Ende letzter Woche Rekurs gegen diesen Entscheid der Staats­anwaltschaft eingelegt.

«Ich werte das als Schikane und als Vertuschungs­versuch», sagt seine Schwester zur Republik. «Ich empfinde es als eine Demütigung und eine weitere Kränkung. Es ist schon unglaublich hart, nicht zu wissen, was geschehen ist. Und dann auf diese Art und Weise von der Justiz abgeschmettert zu werden, schmerzt uns zusätzlich.»

An der Abdankungs­feier letzten Dienstag sagte Pfarrer Giger: Nachdem Nzoy gestorben war, habe man bei ihm zu Hause auf dem Bett eine aufgeschlagene Bibel gefunden. Giger las zwei Sätze daraus vor: «Greif ein, wenn das Leben eines Menschen in Gefahr ist. Tu, was du kannst, um ihn vor dem Tod zu retten.»

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