Orpheus im Underground – das Drama des Blicks
Eine Produktion von Performance-Künstlerin Wu Tsang und «Moved by the Motion» hatte soeben Premiere im Zürcher Schauspielhaus. Hingehen!
Von Daniel Binswanger, 13.09.2021
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Am Samstag landete das Zürcher Schauspielhaus zum Saisonstart eine krachende Provokation: In der Inszenierung des Stücks «Kurze Interviews mit fiesen Männern – 22 Arten der Einsamkeit» von Yana Ross haben eine Pornodarstellerin und ein Pornodarsteller live Sex auf der Bühne.
Man mag diese Aktion kompromisslos und verwegen oder auch einfach ein bisschen bemühend finden – die eigentliche Saisoneröffnung des Schauspielhauses war nicht am Samstag, sondern am Freitag. Nicht in der Schiffbau-Halle, sondern in der Schiffbau-Box: «Orpheus», eine Tanz-Video-Musik-Performance von Wu Tsang und des Künstler-Ensembles «Moved by the Motion».
Es ist dieser Abend, der eine fulminante Provokation darstellt. Statt eines Porno-Acts gibt es einen gigantischen, leicht angewinkelten Spiegel, der die ganze Bühnenrückwand einnimmt und von der Zuschauertribüne aus den Blick auf das Geschehen aus der Vogelperspektive erlaubt. Verhandelt werden nicht die Abgründe heteronormativer Erotik von der Stange, sondern der Orpheus-Mythos in einer queeren, fluiden, diversen Interpretation. Verhandelt wird das Drama des Blicks.
Es ist kein Wunder, dass Wu Tsang, die zu den bedeutenden Filmemacherinnen und Performancekünstlerinnen unserer Zeit gehört, vom Orpheus-Mythos angezogen ist: In all ihren Arbeiten geht es um die Macht des Blicks, die Gewalt, die wir anderen antun, indem wir sie unserem Blick unterwerfen, die Befreiung, die darin liegt, sich dieser Gewalt zu entziehen. Die Tragödie des Orpheus, der seine Geliebte aus der Unterwelt zurückholt, sie jedoch wieder verliert, sobald er das Tabu bricht, sie in den Blick zu nehmen, ist notwendigerweise ihr Stoff.
Und so gibt es denn keinen Livesex, sondern diese monumentale Spiegelrückwand, die die Perspektiven doppelt, bricht, verschiebt. Die uns einen ungewohnten Blick auf den Bühnenboden beziehungsweise die Unterwelt gewährt – uns aber auch auf unser eigenes Schauen zurückwirft.
Die Arbeit ist deshalb so beeindruckend, weil Wu Tsang sich hier mit besonderem Brio auf das Bühnendispositiv einlässt. Man hat zum ersten Mal das Gefühl, die Hausregisseurin Wu Tsang sei mit dieser Produktion, die im Repertoire des Schauspielhauses gezeigt werden wird, wirklich im Theater angekommen. Orpheus steigt in die Unterwelt? Also wird während der Performance der Bühnenboden ausgebaut, der Hades freigelegt, den wir über die Spiegelrückwand betrachten.
Während die Techniker am Werk sind, wird auf einen transparenten Vorhang eine Art Hades-Talkshow projiziert. Gleich zwei Eurydiken (Tosh Basco, Thelma Buabeng) plauschen da miteinander und finden es eigentlich ganz chill, im Hades zu sein, und Orpheus, na ja, der könnte auch mal Ruhe geben. Ist nicht eigentlich er die Zumutung, der die Eurydiken lösen will aus ihrer Community und heraufholen aus dem Untergrund? YODT, meinen die Eurydiken vergnügt. You only die twice.
Dieser Hades ist ein Underground-Club. Wu Tsang, die sich auch als Aktivistin versteht, die gemeinsam mit den Mitgliedern von «Moved by the Motion» in Los Angeles eine Bar für queere, migrantische Künstlerinnen betrieb, versteht die Unterwelt politisch: Die Eurydiken sollen sich nicht zurüsten lassen durch unseren Blick – auch nicht, um vermeintlich zurückgeführt zu werden ins Licht.
Herzzerreissend ist schliesslich, als sich, begleitet von einem klagenden Gitarrensolo, die ganze Spiegelrückwand abzusenken beginnt, sie den Bühnenuntergrund verdeckt. Der Blick auf die Unterwelt ist abgeschnitten. Es bleibt der Tod.
Zürcher Schauspielhaus: «Orpheus». Schiffbau-Box, mehrere Aufführungen bis zum 13. Oktober.