Binswanger

Zwei Türme, zwei Jahrzehnte

Heute vor zwanzig Jahren fanden die Terror­anschläge von New York statt. Es war das Ende der Frivolität. Und wir haben die Folgen bis heute nicht hinter uns gelassen.

Von Daniel Binswanger, 11.09.2021

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Ein Epochenbruch prägt nicht nur den Lauf der Geschichte, sondern hinterlässt tiefe Spuren in den Biografien. Und zwar in allen Biografien, auch denjenigen von Menschen, die sich am 11. September 2001 nicht in New York aufhielten. Und die auch nicht von den Folgen der horrenden Kriege, dem nie mehr enden wollenden Kampf gegen den Terror oder von islamis­tischen Attentaten betroffen waren. Jede, die alt genug ist, kann ihre Anekdote beitragen, was sie gerade gemacht hat an dem Tag, als sie mit der Nachricht von den kollabierenden Türmen konfrontiert wurde.

Es gibt Ereignisse, die bleiben. Wie die Vorgänge beim überstürzten Nato-Rückzug aus Afghanistan jetzt so dramatisch gezeigt haben: Ereignisse, die auch nach zwanzig Jahren nicht vergangen und nicht bewältigt sind.

Ich selber sass damals am Schreibtisch und bekam einen Anruf von einem Freund. Er sagte, ich solle mal das Radio anmachen: Er stehe vor einer Bank­filiale mit einem Fernseher im Schau­fenster, es würden diese Zwillings­türme in New York gezeigt, und er schaue gerade zu, wie sein Lebens­modell zusammen­breche. Jetzt müsse er alles ändern.

Er sollte recht behalten. Der Anruf kam zwar aus Zürich und nicht aus New York – und nein, an Leib und Leben bedroht war mein Bekannter von den Anschlägen genauso wenig wie ich, der in Paris war («Le Monde» titelte am übernächsten Tag: «Nous sommes tous Américains», eine Ungeheuerlichkeit für ein französisches Leitblatt). Der Grund für den Schock meines Bekannten war viel frivoler, angesichts der Tausenden von Opfern, welche die Anschläge forderten, und vor allem angesichts der Hundert­tausenden von Toten und des immensen Leids, welche die nach­folgenden Kriege verursachten, beinahe albern: Er war damals zwar schon ein recht erfolgreicher Journalist, aber er lebte mehr oder weniger von Aktien­spekulationen. Er sagte häufig und nur halb im Scherz, es sei einfach wider­sinnig, einen ganzen Tag an einem Artikel zu sitzen, wenn die Wert­steigerung von ein paar Yahoo-Futures über 24 Stunden dreimal höher sei als der Tagessatz.

Er begriff sofort, dass sein Erwerbs­modell nun ein schlagartiges Ende gefunden hatte und mit dem World Trade Center kollabierte. Der Wert seines Portfolios sank über Nacht auf null. Es war das Ende des Glaubens an die New Economy, an die neue Weltordnung, an den Demokratie-Triumph in der ewig fröhlichen «Post-histoire». Es war das Ende der Frivolität.

Es begann die Epoche des sogenannten Kampfes der Zivilisationen, des Krieges gegen den Terror, der Folter­gefängnisse, der ausser­ordentlichen Auslieferungen. Es begann sofort der Krieg in Afghanistan. Und schon bald auch der Zweite Irakkrieg.

Die Rhetorik, die Atmosphäre, die Feind­bilder änderten radikal, aber es lag doch auch eine Kontinuität vor, der das Gefühl eines Epochen­bruchs nicht gerecht wird. Schon in den Neunziger­jahren herrschte der Glaube vor, es sei die Mission der westlichen Welt, rund um den Globus die Demokratie durch­zusetzen – nur dass man noch überzeugt war, der Vorgang würde sich im Zuge der Globalisierung fast von selber erledigen. Und dass man, bestärkt durch den vermeintlich unaufhaltsamen Vormarsch der Demokratie in der ehemaligen Sowjet­union und Osteuropa, dem globalen Triumph des liberalen Verfassungs­staates entspannt und sieges­gewiss entgegenblickte.

Schon in den Neunzigern erfolgte allerdings auch die Wende zum Demokratie-Export durch Krieg oder wenigstens zum Schutz von Menschen und ihren Menschen­rechten durch militärische Intervention: in Somalia, in Bosnien und natürlich im Ersten Irakkrieg. Der Philosoph Jürgen Habermas befürwortet den Ersten Irakkrieg explizit, im Namen völker­rechtlicher Grund­sätze. Schon damals gab es hitzige Diskussionen über die «humanitären Inter­ventionen», den pazifistischen Farbbeutel­anschlag auf Joschka Fischer, die deutschen Tornados über Bosnien. Nach dem 11. September, um die Waffen­gänge in Afghanistan und im Irak zu recht­fertigen, berief sich die US-Administration ganz offensiv auf nation building und den militärischen Demokratie-Export. Aber das Konzept der humanitären Inter­vention dominierte schon das Weltbild der Neunziger.

Erst mit dem 11. September jedoch wurde dieses Weltbild vollkommen wider­sprüchlich und destruktiv. Im «Krieg gegen den Terror» ging es eingestandener­massen primär um etwas ganz anderes: die «Achse des Bösen» zerschmettern, den islamistischen Terror und seine vermeintlichen Unter­stützer ausräuchern, Osama bin Laden zur Strecke bringen – ganz zu schweigen von der Jagd nach Massen­vernichtungs­waffen, die niemals existierten.

Wie passten die euphorischen Reportagen über afghanische Mädchen­schulen, die im Herbst 2001 sofort nach der Eroberung Kabuls in den amerikanischen Medien zu lesen waren, zum deklarierten Ziel der Nato-Intervention: al-Qaida vernichten? Wie passte der Diskurs von Demokratie-Export und nation building, den die Neo-Cons um Paul Wolfowitz entwickelten, zu ihrer Blitzkrieg-Strategie, den Irak mit maximaler technologischer Über­legenheit und minimalem Truppen­einsatz zu überrennen – und dann zur Tatsache, dass sie ausser­stande waren, das Land zu administrieren und irgend­etwas umzusetzen, was einen entfernten Bezug zu nation building gehabt hätte?

Welchen Sinn die amerikanische Präsenz in Afghanistan noch haben sollte, fragte Joe Biden bei seiner ersten Rede zum überhasteten Abzug. Nach zwanzig Jahren Besatzung wirkte diese Frage extrem zynisch. Aber einen Punkt hatte Biden: Sie wurde nie kohärent beantwortet.

Der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz schildert in seinem jetzt erschienenen Buch «Der längste Krieg», einer ungeheuer lehrreichen Geschichte Afghanistans und der zwanzig­jährigen Besatzung, auf eindrückliche Weise, wie zerstörerisch der Gegensatz zwischen der nation-building-Rhetorik und dem schmutzigen Krieg gegen den Terrorismus gewesen ist. Nicht nur ruhte die vermeintliche Demokratisierung Afghanistans auf einem strategischen Pakt mit Warlords und politischen Kräften, die in keiner Weise weniger gewalt­tätig oder weniger fanatisch waren als die Taliban. Die Besatzungs­mächte selber machten sich mit ihren Folter­gefängnissen, dem sehr viele zivile Opfer fordernden Drohnen­krieg und zahl­reichen nie aufgeklärten Kriegs­verbrechen als Verteidigerinnen von Demokratie und Menschen­rechten weitgehend unglaubwürdig.

Dieselbe Inkonsequenz, dieselben strategischen Halbheiten führen jetzt auch zur humanitären Tragödie des überstürzten Rückzugs: Natürlich hat die zwanzig­jährige Präsenz der westlichen Mächte die afghanische Gesellschaft verändert, sie hat zu einer besseren Bildung der weiblichen Bevölkerung, zum Heran­wachsen unabhängiger Medien und Kultur­institutionen, zur Entwicklung einer urbanen Mittel­schicht beigetragen. All dies wird nun nicht geschützt, sondern kaltschnäuzig wieder preis­gegeben. Auf dem Rücken derer, die schon immer die Opfer dieses brutalen Krieges waren: der afghanischen Zivilbevölkerung.

Aus westlicher Perspektive ist der zwanzigste Jahrestag des 11. September jedoch noch aus einem ganz anderen Grund bedrückend. Im ersten Jahrzehnt nach dem New Yorker Anschlag führte die westliche Welt ihre zweifel­haften Kriege gegen den Terror – und wurde unvorbereitet davon überrascht, dass die Welt­ordnung nicht nur durch neue Formen des religiösen Fanatismus, sondern durch die Instabilität des globalen Finanz­systems bedroht ist. Die US-Regierung jagte nicht existierende Massen­vernichtungs­waffen im Irak – und sah den Zusammen­bruch des eigenen Banken­systems nicht kommen.

Am Ende des zweiten Jahrzehnts nach 9/11 stellt sich die Frage nach einem potenziell noch bedrohlicheren Defizit: Welche Kapazitäten zum vermeintlichen Demokratie-Export kann ein Land überhaupt aufbringen, wenn seine eigene Demokratie in einer existenziellen Krise steckt? Nach dem Zurück­drängen von al-Qaida und nach den militärischen Erfolgen im Kampf gegen den Islamischen Staat hätte man hoffen können, dass der Westen heute besser aufgestellt ist für die Förderung der Demokratie in der Welt. Es ist das Gegenteil der Fall: Der Grund, weshalb die Biden-Administration Afghanistan nun vollständig aufgibt, liegt nicht nur darin, dass die Vereinigten Staaten seit einigen Jahren eine strategische Neuorientierung auf den Konflikt mit China vollziehen.

Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Afghanistan-Besetzung unpopulär war und dass Biden, um seine Handlungs­fähigkeit aufrecht­erhalten zu können, die Heimat­front um jeden Preis priorisieren muss. Die USA selber sind inzwischen ein Risiko für die Entwicklung der Demokratie in der freien Welt – das Land, das dieses Jahr einen Quasi-Putsch­versuch erlebte, in dem eine der beiden Regierungs­parteien von einer extremen Radikalisierungs­dynamik erfasst worden ist und in dem bereits in gut einem Jahr – bei den midterm elections – der politische Trumpismus beide Parlaments­kammern erobern und quasi an die Macht zurück­kehren könnte. Ironischer­weise ist es nun der chaotische Abzug aus Kabul, der Biden bei den midterms eine Niederlage zu bescheren droht.

Es ist ein trauriger Jahrestag, geprägt vom afghanischen Flüchtlings­drama, das nichts ist als der Endpunkt einer seit 2001 verfehlten Politik. Wenigstens um die Flüchtlinge müssen wir uns jetzt unbedingt kümmern. Und um unsere eigenen Demokratien.

Illustration: Alex Solman

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