Binswanger

Die bürgerlichen Juso

Erneut steht eine Volksinitiative an, die mit einer Steuer­reform die Ungleichheit verringern will. Es dürfte nicht die letzte sein. Denn wir haben ein Problem.

Von Daniel Binswanger, 04.09.2021

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Es sieht aktuell nicht so aus, als hätte die 99-Prozent-Initiative grosse Chancen, angenommen zu werden. Dennoch sind die rund 45 Prozent Zustimmung, die sie in den ersten Umfrage­wellen erreichte, ein verblüffender Achtungs­erfolg: Einer Juso-Initiative mit Occupy-Wallstreet-Anklängen, die sehr offen (und inter­pretations­bedürftig) formuliert ist und zu einer radikalen Reform der Schweizer Steuer­systematik führen würde, gelingt es mindestens in einer ersten Phase des Abstimmungs­kampfs, knapp mehrheits­fähig zu werden. Und das im reichsten Land der Welt!

Steht ein fieses sozialistisches Virus ganz kurz vor dem pandemischen Ausbruch? Erobert «Seuchen-Sozialismus» nun tatsächlich die Köpfe? Oder ist die Resonanz der 99-Prozent-Initiative ganz einfach ein Zeichen dafür, dass etwas Grund­sätzliches allmählich aus dem Lot gerät?

Die Grund­ansage der Vorlage ist simpel: Entlastet Arbeits­einkommen, belastet Kapital­einkommen! Natürlich zielt die angestrebte Verfassungs­änderung auf eine höhere Belastung der Reichtums­elite ab, aber die Einkommens­höhe ist dabei eigentlich nur der sekundäre Gesichts­punkt. Im Zentrum steht explizit die Einkommens­art, auch wenn noch zu definierende Frei­beträge sicher­stellen sollen, dass wirklich nur das oberste Prozent zur Kasse gebeten wird.

Steuersystematisch ist das problematisch, politisch jedoch klug. Es ist eigentlich kein linkes, sondern ein zutiefst bürgerliches Anliegen, das die Jung­sozialisten hier vertreten: die Valorisierung von Fleiss und Arbeit, die merito­kratische Belohnung von Leistung. Können sich «wirtschafts­nahe» Parteien allen Ernstes gegen eine solche Agenda wenden?

Im französischen Präsidentschafts­wahlkampf 2007 präsentierte sich der stramm rechte Nicolas Sarkozy als der Vertreter des «Frankreichs, das früh aufsteht». Im jetzigen Abstimmungs­kampf führt Cédric Wermuth diese Rede. Die Partei der Arbeiter tritt auf als die Partei des Arbeits­ethos – und müsste damit eigentlich auch ein Wähler­segment mit prononciert bürgerlichen Werten erreichen.

Die 99-Prozent-Initiative ist ein weiteres Symptom, dass die zunehmende Ungleich­heit nicht immer weiter ignoriert werden kann, auch nicht in der Schweiz. Die Juso-Vorlage mag scheitern. Das Thema ist damit aber nicht vom Tisch.

Die in der Schweiz traditionell sehr grossen Vermögens­­unterschiede haben sich auch in der Corona-Zeit noch einmal deutlich verstärkt und nagen am gesellschaftlichen Selbst­verständnis. Obwohl das Wirtschafts­wachstum pandemie­bedingt sehr schlecht war: Die Reichen werden immer reicher – und alle anderen kaum. Die soziale Mobilität nimmt ab, die Reichtums­eliten ziehen davon. Wer nicht schon über Vermögen verfügt, hat es zunehmend schwer, zu grossem Wohl­stand zu kommen.

Die Forderung nach höherer Kapital­besteuerung muss deshalb gar nicht mehr im Namen von sozialer Solidarität erhoben werden. Sie wird zur Forderung einer ehrgeizigen, gut gebildeten Mittel­schicht, die den Weg nach oben mehr und mehr versperrt sieht. Können bürgerliche Parteien wirklich wollen, dass diese Entwicklung vom Steuer­system nicht abgefedert, sondern gefördert wird?

Die Schweiz ist ein interessantes Experimentier­feld für politische Verschiebungen, die rund um den Globus virulent werden. Die helvetische Besonder­heit liegt darin, dass die Einkommens­­verteilung immer noch erfreulich ausgeglichen und stabil ist. Zudem ist das generelle Einkommens­niveau sehr hoch, der soziale Druck, der durch Massen­armut entsteht, spielt deshalb kaum eine Rolle. All dies müsste einschneidende Umverteilungs­projekte eigentlich völlig chancenlos werden lassen.

Wir beobachten jedoch etwas anderes, und das hat seine Gründe: Die Vermögens­­verteilung ist extrem ungleich in der Schweiz – und prägt immer mehr das gesellschaftliche Leben. Zum Beispiel, weil sich ein immer grösserer Teil der Mittel­schicht kein Eigen­heim mehr leisten kann, da die Preise durch die Decke gehen und die Tragbarkeits­erfordernisse rigoroser werden. Oder weil die Privatisierung des Bildungs­markts voran­schreitet – und zugleich nur den obersten Einkommen offensteht. Die immer stärkere Vermögens­konzentration setzt soziale Standards und führt zu Verdrängungs­effekten. Zur Seefeldisierung des gesellschaft­lichen Lebens.

Auch wenn die Einkommens­verteilung relativ ausgeglichen bleibt, modifiziert sich das gesamt­gesellschaftliche Gleich­gewicht. Soll die Anlage­güter­inflation einfach immer noch weiter gehen? Soll die Vermögens­ungleichheit immer weiter in den Himmel schiessen? Vermutlich wird es für die Tragbarkeit dieser Entwicklung irgendwo eine Grenze geben.

In jüngerer Zeit liegt das zentrale Problem darin, dass die expansive Geldpolitik, welche zum haupt­sächlichen Mittel geworden ist, mit dem die Staaten auf Wirtschafts­krisen reagieren, ein noch nie da gewesenes Umverteilungs­programm zugunsten der Reichtums­eliten darstellt. Es sieht nicht danach aus, als würde diese Politik sich in absehbarer Zeit verändern. Die sagenhafte Wert­steigerung von Anlage­objekten – insbesondere Immobilien und Aktien – macht nur jenen Teil der Bevölkerung reicher, der bereits Immobilien und Aktien besitzt, an der grossen Mehrheit der Bürgerinnen zieht sie jedoch vorbei. Solange die Geld­schleusen der Zentral­banken weiter offenstehen, werden die Reichtums­eliten der übrigen Gesellschaft immer weiter davon­ziehen. Es sei denn, die Staaten holen sich wenigstens einen Teil der Vermögens­gewinne zurück.

Als Hauptargument gegen eine Kapital­gewinn­steuer muss auch in der aktuellen Debatte die Vermögens­steuer hinhalten. Es ist richtig, dass die Schweiz eines der wenigen Länder ist, die noch eine Vermögens­steuer kennen – also eine Steuer auf dem Vermögens­bestand und nicht auf dem Vermögens­gewinn –, und dass dieser Umstand bis zu einem gewissen Grad die Tatsache kompensiert, dass Kapital­gewinne nur reduziert oder gar nicht besteuert werden. Die Einnahmen aus der Vermögens­steuer sind relativ substanziell und belaufen sich auf etwas über 1 Prozent des BIP. Trotzdem fällt der inter­nationale Vergleich nicht zugunsten der Schweiz aus.

Nehmen wir die USA, ein Land mit vergleichbar ungleicher Vermögens­verteilung. Die Vereinigten Staaten kennen keine Vermögens­steuer, dafür aber eine Kapital­gewinn­steuer, deren Einnahmen sich ebenfalls auf etwa 1 Prozent des BIP belaufen – im Volumen also etwa vergleichbar sind mit der Schweizer Vermögens­steuer. Allerdings: Die USA kennen zusätzlich noch die Steuer auf Erbschaften über 5 Millionen. Der Fiskus geht also insgesamt aggressiver um mit den grossen Vermögen.

Entscheidend ist jedoch ohnehin die diachrone Entwicklung: Auch die USA erleben eine immer stärkere Konzentration der Gross­vermögen am obersten Ende der Verteilung. Nicht umsonst wird die Forderung nach einer wealth tax laut, die das immer schnellere Wachstum des Super­reichtums bremsen soll. Exakt dieselbe Debatte ist auch in der Schweiz unausweichlich geworden: Ja, die Schweizer Vermögens­steuern sind vergleichs­weise hoch, aber sie sind nicht hoch genug. Sie verhindern nicht, dass die grössten Vermögen weiterhin über­proportional anwachsen.

Wollen wir eine bürgerliche Gesellschaft bleiben, die auf dem Fundament von Leistung, Bildung und Arbeit ruht? Oder akzeptieren wir die Entkopplung einer neuen Oligarchie, für welche eine Mittel­schicht, die mit hohen Kranken­kassen­prämien, immer höheren Mieten und teuren Krippen­plätzen kämpft, nur noch die nötigen Dienst­leistungen erbringt – mit schwindender Aussicht, die Seiten zu wechseln?

Bürgerliche Gesellschaften sind Mittel­schichts­gesellschaften. Es gibt keinen einzigen guten Grund, weshalb unser Fiskal­system den Super­reichtum fördern sollte: Er dient weder der wirtschaftlichen Produktivität noch der politischen Stabilität noch der gesellschaft­lichen Integration. Was die Wirtschafts­entwicklung dieses Landes braucht, ist nicht verstärkte Kapital­konzentration am obersten Ende, sondern gute Bildungs­institutionen und eine vernünftige Verteilung der Kaufkraft.

Was ist ein zeitgemässer Begriff von Bürgerlichkeit? Das ist vielleicht die eigentliche Frage, die wir mit der 99-Prozent-Initiative verhandeln. Die sogenannten bürgerlichen Parteien haben dazu enttäuschend wenig zu sagen. Was für eine Ironie, dass diese Debatte inzwischen von den Juso angeschoben wird.

Illustration: Alex Solman

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