Erwachsen werden: Die in Berlin lebende Schweizer Fotografin Diana Pfammatter hat ihre Nichte Elena (rechts) und deren Freundinnen  – hier Kristina – in dieser wichtigen Lebensphase fotografiert.

Vorbilder wider Willen

Wer sich jung fühlen will, liest Coming-of-Age-Romane. Nur werden die meist von Erwachsenen verfasst. Aber was wollen eigentlich die Jugendlichen – und worüber schreiben sie?

Von Christine Lötscher (Text) und Diana Pfammatter (Bilder), 03.09.2021

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Seit Greta Thunberg und andere junge Klima­aktivistinnen auf den Plan getreten sind, haben Jugendliche plötzlich das Image, vernünftiger und verantwortungs­bewusster zu sein als die Generationen ihrer Eltern und Gross­eltern. Die «Fridays for Future»-Bewegung wird als Ausdruck von eigen­ständiger jugendlicher Handlungs­macht wahr­genommen und medial als Vorbild für die ganze Gesellschaft gefeiert. Sie lässt hoffen, dass es doch eine Zukunft geben könnte für den Planeten.

Die Wahrnehmung der jungen Generation als besonders vernünftig hat sich durch die Rücksicht auf ältere Menschen, die ihr während der Covid-19-Pandemie abverlangt worden war, noch verstärkt. Wobei einfach über sie verfügt wurde: Bei der Frage zum Beispiel, wer sich zu welchem Zeit­punkt impfen lassen darf, hatten junge Menschen kein Mitsprache­recht.

Wenn nur alle so wären wie Greta

Mit der moralischen Unbestechlichkeit, die der Klima­jugend zugeschrieben wird, und der Bereitschaft zum Verzicht auf alles, was Spass macht, verkörpern die Jungen in der öffentlichen Wahr­nehmung die Zukunft schlechthin. Anpassen müssen sich jetzt plötzlich nicht mehr die wilden Jugendlichen, die ausbrechen und abenteuer­lustig Grenzen überschreiten wollen, sondern die hedonistischen Erwachsenen, für die Langstrecken­flüge, Kreuz­fahrten und SUV zu den elementaren Menschen­rechten gehören; nach der Pandemie erst recht.

Hier ist allerdings nicht von der Alltags­wirklichkeit die Rede. Schliesslich gibt es in allen Alters­gruppen Menschen, die ihren Komfort über alles stellen, und solche, die ihren ökologischen Fuss­abdruck möglichst klein halten wollen. Es ist vielmehr die Rede von zirkulierenden Zuschreibungen in der Art, wie öffentlich über das Verhältnis der Generationen gesprochen wird. Jugendliche rebellieren nicht mehr, sondern werden zu Vorbildern stilisiert. Die Zukunft wird getrost in ihre Hände, die Last für die Rettung des Planeten auf ihre Schultern gelegt.

Was die Gesellschaft aber wirklich will für diese junge Generation, bleibt vage. Sollen sie die Welt retten, damit sie bleibt, wie sie ist? Oder sollen sie die Menschheit neu erfinden, mit einer anderen Sensibilität und Empathie für ihre Verbindung zu Tieren und Pflanzen?

Diese Erwartungen und den damit verbundenen Druck spüren Jugendliche und junge Erwachsene. Und sie haben Mühe damit. «Erwachsene finden junge Menschen toll, solange sie so selbstlos und engagiert sind wie Greta», sagte eine Studentin in einer Lehr­veranstaltung an der Universität Zürich, in der es ums Jungsein in der Populär­kultur ging. Eine andere sagte: «Wir sind willkommen, solange wir bereit sind, uns politisch einzubringen. Doch wenn wir für uns das in Anspruch nehmen, was die Erwachsenen ganz selbst­verständlich geniessen, nämlich das Recht, auch mal keine Lust zu haben, regen sich alle über fehlendes Engagement auf.»

Drei Zürcher Gymischüler, alle 17 Jahre alt, bestätigen diesen Eindruck. Jugendliche, die mit einer Dose Bier gemütlich chillten, seien gar nicht gern gesehen. Besonders schlimm sei es während des Shutdowns gewesen, selbst wenn man sich an die Regeln gehalten habe: höchstens zu viert, Abstand. Die meisten Erwachsenen wüssten immer schon Bescheid und seien nicht daran interessiert, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Das Fazit der Studentinnen: «Alle reden über junge Menschen, aber niemand redet mit uns.»

Eine intensive Auseinander­setzung mit diesen Fragen findet zurzeit in populären Medien statt; ganz leise und zwischen den Zeilen. Egal ob auf Netflix oder im Arthouse-Kino, auf den Belletristik-Bestseller­listen oder in der Jugend­literatur: Wo man hinschaut, werden Geschichten vom Erwachsen­werden erzählt. Vor allem in der Kinder- und Jugend­literatur und im Coming-of-Age-Genre, das vom Erwachsen­werden erzählt und dabei ganz unterschiedliche Alters­gruppen anspricht, geht es um die Frage, was jung sein eigentlich bedeutet in einer krisen­geschüttelten Welt.

Ist die Zukunft düster, muss die Jugend herhalten

Wie immer bei aktuellen gesellschaftlichen Themen hat sich auch die Klima­diskussion sofort auf dem Kinder­buch­markt nieder­geschlagen. Schon für die Kleinsten gibt es Bücher über schmelzende Pole und die Bedeutung der Arten­vielfalt. Prominente wie der deutsche Wald-Guru Peter Wohlleben, der mit seinen Büchern über das geheime Leben der Bäume und das geheime Netz­werk der Natur regel­mässig die Bestseller­listen anführt, will die Kinder zusammen mit Eich­hörnchen Piet für das wuchernde Leben vor der Haustür begeistern. Die Botschaft: Kinder sollen mit einem anderen Bewusst­sein für die Verwandtschaft und die Verflochtenheit von menschlichen und nicht menschlichen Wesen aufwachsen, um in Zukunft anders handeln zu können.

Doch ganz neu ist das literarische Motiv nicht, dass Kinder und Jugendliche mit ihrem Klima­wissen und ihrer Bereitschaft zu einem nachhaltigen Lebens­stil die Welt retten können. Schon in E. T. A. Hoffmanns Erzählung «Das fremde Kind» waren es die Kinder, die die Sprache des Waldes und des Bächleins verstanden. Und bevor Greta da war, gab es jugendliche Roman- und Film­heldinnen, die in post­apokalyptischen Welten für das Überleben der Menschheit kämpften. Die bekannteste unter ihnen ist Katniss Everdeen aus Suzanne Collins’ Roman­reihe «Die Tribute von Panem» (2009–2011), die gegen ein dystopisches Terror­system rebelliert. Je düsterer die Zukunfts­aussichten, desto mehr Hoffnung liegt auf der jungen Generation, die es besser machen soll. Ökologie ist in diesem Fall nur ein Neben­schauplatz, doch die Natur ist eine starke Verbündete.

Allianzen mit der Tierwelt

Der erste Jugend­roman der deutschen Autorin Katharina Hacker, der dieses Jahr erschienen ist, beginnt mit einem Protest gegen den Protest: Iris, die Protagonistin von «Alles, was passieren wird», hat keine Lust, brav bei den «Fridays for Future» mitzumachen. Sie hat ihre eigenen Probleme, die aber niemanden interessieren: Vor kurzem ist ihre Mutter gestorben, die für das Familien­einkommen zuständig war. Jetzt sind ihr Vater und sie so arm, dass sich Iris nicht einmal einen Spind in der Schule leisten kann und sich vor lauter Scham ganz aus ihrem Freundes­kreis zurückzieht.

Mit der Zeit arbeitet der Roman subtil heraus, dass es einen tiefen Zusammen­hang zwischen Armut und dem ausbeuterischen Umgang mit natürlichen Ressourcen gibt und dass sich Jugendliche und Tiere – ganz buchstäblich – zusammen­tun können, um dagegen anzugehen. Die erste Begegnung zwischen Iris und einer ebenfalls – durch den Tod ihres Gefährten – traumatisierten Schimmel­stute mitten in Berlin lässt eine neue Verbindung, ein neues Vertrauen zwischen dem Mädchen und der Welt entstehen:

Ich streichelte noch einmal vorsichtig die Nüstern, und als ich in ihr Auge schaute, in dem sich das Blaulicht des Polizei­wagens spiegelte, passierte es. Es war nicht wie ein Blitz­schlag oder eine Erleuchtung, es war nicht hell und hatte nichts mit Wissen zu tun, mit Wissen im üblichen Sinn, auch nichts mit irgend­einer plötzlichen Erkenntnis. Es war wie eine Wärme, die sich ausbreitete, wie eine Gewissheit, die von meiner Hand ausging, während sie Nüstern und Stirn der Schimmel­stute streichelte, von dem grossen schwarzen Auge aus, das mich anblickte.

Aus: Katharina Hacker, «Alles, was passieren wird».

Was es jenseits eindimensionaler Projektionen bedeutet, jung zu sein, lässt sich also nicht unbedingt dort nachlesen, wo man es auf den ersten Blick vermuten würde. Post­apokalyptische Romane und Climate-Fiction, die vom Kampf gegen den Klima­wandel erzählen, machen das Erwachsen­werden in einer unsicheren, bedrohlichen und teils bereits zerstörten Welt zwar zum Thema. Doch davon, was es bedeutet, in einer komplexen Welt mit ungewisser Zukunft erwachsen zu werden, erzählt das Coming-of-Age-Genre, das sich nur vorder­gründig ganz auf altbekannte Themen konzentriert: Identitäts­suche, Konflikte mit den Eltern, Liebe und Sexualität.

Zwar sind Geschichten vom Erwachsen­werden seit dem späten 18. Jahr­hundert sehr präsent in der Literatur, doch so populär wie in den letzten Jahren waren sie selten. Coming of Age scheint das Genre der Stunde zu sein, wenn die jugend­versessene Gesellschaft über sich selbst nachdenkt. Es scheint eine Perspektive zu bieten, die es erlaubt, aktuelle Fragen und Konflikte anders und in einem frischen Ton anzupacken und neue Funken aus dem alten Erzähl­modell zu schlagen. Ähnlich wie in Hackers Roman lassen sich viele, teils recht einfalls­reiche Formen des Wider­stands gegen die Zumutungen entdecken, mit denen sich Jugendliche herum­schlagen.

Die aktuelle Theorie zum Coming-of-Age-Roman liefert der in Zürich lebende Autor Benedict Wells in seinem Roman «Hard Land». Er verlegt die Geschichte seines Protagonisten Sam in die 1980er-Jahre und beschwört eine nostalgische Atmosphäre herauf, die sich aus Rock­musik, Filmen und bekannten Achtziger­jahre-Lifestyle-Elementen speist. Erwachsen­werden ist in Wells’ Roman ein spezifisches Gefühl, ein Amalgam aus verklärten Erinnerungen, Sehn­süchten und Projektionen. Der Roman prägt ein Wort dafür: Euphancholie, eine Mischung aus Euphorie und Melancholie. Diese Stimmung ist es, die Coming of Age ausmacht, und nicht die Themen, die verhandelt werden. Kirstie, die unglückliche Liebe des Ich-Erzählers Sam, hat das Wort erfunden und in ihr Notizbuch geschrieben:

Am Ende des Buches entdeckte ich eine Zeile: «Neues Wort. Mischung aus Euphorie und Melancholie.» Der Eintrag war niemandem zugeordnet.

Ich tippte darauf. «Ist das von dir selbst?»

Kirstie wurde rot und sagte schnell, es gehe um ein Gefühl, das sie immer habe, wenn sie sich auf die Zukunft freue, aber Grady [die Stadt, in der Sam und Kirstie aufwachsen; Anm. d. Redaktion] dabei jetzt schon vermisse. […] «Es sollte echt ein Wort für dieses Gefühl geben», sagte sie. «So was wie Euphancholie. Einerseits zerreisst’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwer­mütig, weil du weisst, dass du was verlierst oder dieser Augen­­blick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.» Sie packte ihr Notizbuch weg. «Na ja, vielleicht ist die ganze scheiss Jugend Euphancholie.»

Aus: Benedict Wells, «Hard Land».

Auch wenn die psychologische Lektüre von Figuren und ihren Handlungen weit verbreitet ist, kann sie doch aufs Glatteis führen. Denn die jugendliche Lebens­welt aus Herkunfts­familie, Schule und Peer Groups, die Coming-of-Age-Erzählungen als Rahmen inszenieren, bildet nicht etwa irgend­eine Alltags­wirklichkeit ab, sondern reproduziert und variiert ein Setting, das sich im Lauf der Literatur­geschichte heraus­gebildet hat.

Der Freiburger Germanist Ralph Müller hat Wolfgang Herrndorfs Coming-of-Age-Romane «In Plüsch­gewittern», «Tschick» und «Bilder deiner grossen Liebe» studiert und festgestellt, dass sich Coming of Age weniger durch Identitäts­findung auszeichnet als durch einen Wider­stand gegen die soziale Erwartung, dass sich Jugendliche zu brauch­baren Erwachsenen entwickeln. Dieser Wider­stand äussert sich darin, dass sie, bevor sie sich ans Erwachsen­werden machen, überhaupt einmal jung sein wollen, jenseits der Zuschreibungen, denen sie überall begegnen. Sie versuchen immer wieder neu, Jugend als eigenen Lebens­abschnitt zwischen Kindes- und Erwachsenen­alter zu entdecken.

Was kommt da noch im Leben? Elena (Mitte) und ihre Freundinnen Kristina (rechts) und Svenja auf einem Campingplatz.

Soundtrack eines Lebens­abschnitts

Einer der schönsten Coming-of-Age-Serien dieses Jahres, Luca Guadagninos «We Are Who We Are», gelingt es, diese eigene, eigen­willige Zeitlichkeit des Lebens von Jugendlichen zu gestalten.

Zunächst einmal spitzt die TV-Serie das Coming-of-Age-Setting zu, indem sie die genre­typische Highschool in einen US-Militär­stützpunkt in Italien verlegt; ein Gefängnis im Gefängnis, wenn man so will. Auch zeitlich ist die Serie genau situiert; sie beginnt im Sommer 2016 und endet Ende des Jahres, nach dem Wahlsieg von Donald Trump. In der Inszenierung wird diese Realität der Erwachsenen von Räumen durch­brochen, die sich die Jugendlichen schaffen – zum Beispiel durch den Song «Time Will Tell» des britischen Sängers Blood Orange – und in denen sich die beiden jungen, auf ihre jeweils eigene Art queeren Protagonisten finden. Der Sound­track macht die Gefühls­welt der beiden Teenager erfahrbar, und der Groove geht immer mehr auf alle anderen Figuren über, sodass die Welt am Ende ganz queer geworden zu sein scheint: «Mixed up, full of life.»

Zu den Büchern und zur Serie

Mya-Rose Craig: «We Have a Dream: Meet 30 Young Indigenous People and People of Colour Protecting the Planet.» Magic Cat, London 2021. 64 Seiten, ca. 13 Franken.

Katharina Hacker: «Alles, was passieren wird». Sauerländer, Frankfurt am Main 2021. 256 Seiten, ca. 20 Franken.

Dara McAnulty: «Tagebuch eines jungen Natur­­forschers». Aus dem Englischen von Andreas Jandl. Malik, München, Oktober 2021. 256 Seiten, ca. 28 Franken.

Benedict Wells: «Hard Land». Diogenes, Zürich 2021. 352 Seiten, ca. 36 Franken.

Peter Wohlleben: «Kommst du mit nach draussen? Eine Entdeckungs­reise durch Garten und Stadt». Oetinger, Hamburg 2021. 128 Seiten, ca. 29 Franken.

«We Are Who We Are». Serie. Idee und Regie: Luca Guadagnino. Italien 2020, 8 Folgen. Fremantle Studios, zum Beispiel via Sky.

Dabei ist die Ausgangs­lage auch bei Coming-of-Age-Erzählungen paradox. Sie haben den Anspruch, die Perspektive von Jugendlichen auf die Welt erfahrbar zu machen und ihnen eine glaub­würdige Stimme zu geben. Doch die Autorinnen und Regisseure sind in aller Regel erwachsen. Sie erzählen einem jugendlichen Publikum von Vorstellungen, die Erwachsene von Kindern haben, und erforschen die Zwischen-, Gegen- und Widerstands­räume, die darin möglich sind. Und diese brauchen die erwachsenen Zuschauerinnen vielleicht am dringendsten.

Vielfalt in allen Bereichen

Es gibt aber auch Jugendliche, die sich selbst zu Wort melden in Blogs und Büchern und dabei bestrebt sind, den Gegensatz zwischen Aktivismus und Kunst aufzuheben. Ihr Genre ist nicht Coming of Age, sondern Nature Writing – die ebenso informierte wie lyrische Natur­beschreibung aus der eigenen Erfahrung heraus. In Gross­britannien, wo Nature Writing seit den Anfängen im 19. Jahr­hundert für gut situierte weisse Männer reserviert war, machen jugendliche Autorinnen wie die 19-jährige Mya-Rose Craig und der 17-jährige Dara McAnulty das Genre zu einem Instrument, mit dem sie für Vielfalt in allen Bereichen sensibilisieren wollen.

Mya-Rose Craig, seit ihrer Kindheit eine leidenschaftliche Vogel­beobachterin, war gerade 13 Jahre alt, als sie mithilfe ihrer Eltern ihre erste «Race Equality in Nature»-Konferenz organisierte – nachdem sie erlebt hatte, dass ein nicht weisses Mädchen wie sie unter den Ornithologen als Fremd­körper wahr­genommen wurde. Gerade ist von ihr mit «We Have a Dream» eine Anthologie mit Texten junger indigener Autoren und People of Color zum Thema Klima­schutz erschienen. Für Mya-Rose Craig gehören Klima­gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammen.

Der nordirische Blogger und Aktivist Dara McAnulty wiederum thematisiert in seinem «Tagebuch eines jungen Natur­forschers» seine besondere Perspektive als autistischer Jugendlicher auf die Welt. Das Tagebuch liest sich wie ein Prosa­gedicht; es ist ein Zeugnis des Versuchs, der Intensität seiner Wahr­nehmung in der Natur eine Sprache zu geben. Über einen Ausflug mit der Familie auf Rathlin Island vor der nord­irischen Küste notiert er am 1. April:

Am Nachmittag wandern wir zum schönen Kebble Cliff. Pfoten­abdrücke von Hasen im Schlamm zeigen ihre leicht- und tief­füssigen Kapriolen. Sie sind wieder überall. Geheimnis­voll tauchen sie hinter Gras­büscheln auf, sitzen eine Weile da, als nähmen sie uns in Augen­schein, dann verschwinden sie. Bussarde und Raben kommen, zeitweise, suchen, kreisen, zu verschiedenen Tages­zeiten, und ein Wander­falke taucht auf, saust herab, ist nicht mehr zu sehen. Wir scheuchen beim Gehen Schnepfe und Wald­schnepfe auf, ihr verängstigtes Fliehen überrascht und beglückt uns. Feld­lerchen und Wiesen­pieper schrauben sich weiter in die Lüfte, steigen auf, ihr Gesang reicht bis in jeden Teil meines Wesens, schlängelt sich empor.

Aus: Dara McAnulty, «Tagebuch eines Naturforschers».

Diese Erfahrung soll nun ein Teil von Dara werden, für die Zukunft:

Müde vom Wandern und Erkunden fahren wir zum Pub, essen zu Abend und spielen Billard. Ich fange an, jeden Moment in meinem Kopf zu speichern, damit ich in einer Woche oder in einem Monat, zu irgend­einem unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft, wenn ich das gute Gefühl mal wirklich brauche, mir die Details in Erinnerung rufen kann.

Wenn man aus diesen Texten eine Botschaft heraus­lesen wollte, wäre es diese: Jede Wiese, jeder Baum, jeder Vogel ist etwas Besonderes, und kein Jugendlicher ist wie der andere. Ob erwachsen oder nicht, jung oder alt – diese Frage scheint hier ganz neben­sächlich.

Was die Menschen verbinden kann, ist die Sprache, in der sie davon erzählen, was es heisst, Teil eines riesigen Netz­werks zu sein – in dem nicht nur Menschen eine Stimme haben.

Zur Autorin

Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozial­anthropologie und Empirische Kultur­wissenschaft der Universität Zürich sowie Literatur­kritikerin. Aktuell beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Mensch und Natur in der Literatur sowie mit Coming-of-Age-Erzählungen. 2020 erschien ihr Buch «Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populär­kultur» im Metzler-Verlag.

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