«Pumpkins Screaming About Love Beyond Infinity» (2017/2021) von Yayoi Kusama im Botanischen Garten in der Bronx. Yayoi Kusama/Courtesy of Ota Fine Arts, Victoria Miro and David Zwirner

Weltkunst statt Benimmkurse

In New York werden derzeit drei herausragende Künstlerinnen ausgestellt. Auf einem Rundgang wird verständlich, was Yayoi Kusama, Niki de Saint Phalle und Alice Neel unterscheidet – und welche dunklen Lebens­erfahrungen sie teilen mussten.

Von Susanna Petrin, 03.08.2021

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Nach einem langen, harten Covid-Winter durch einen Park streifen und Kunst sehen, ist tatsächlich eine Erlösung. Vor allem, wenn es sich dabei um Yayoi Kusamas Ausstellung «Cosmic Nature» im Botanischen Garten in der New Yorker Bronx handelt. Einige Bäume hat die 92-jährige Künstlerin rot angemalt und mit ein paar grossen weissen Punkten versehen, sodass sie verkleidet aussehen wie Fliegen­pilze, die man gerne umarmen möchte.

Die polka dots, das Punkte­muster, sind das Marken­zeichen von Yayoi Kusama, die als junge Frau von Japan an die Ostküste der USA kam und sich auf dem Empire State Building schwor, die Welt in ihr Universum zu tauchen. Es sollte zwar noch einige Jahrzehnte dauern, bis sie zu einer der prominentesten Künstlerinnen der Gegenwart aufstieg. Aber sie hat es geschafft.

Im Metropolitan Museum of Art steht man stunden­lang, aber ebenfalls glücklich, in der Schlange, um die Einzel­­ausstellung «People Come First» über die Porträt­kunst von Alice Neel zu bewundern. Warten macht natürlich keinen Spass, aber die bis fast an ihr Lebens­ende gering geachtete Malerin bekommt ebenfalls endlich die Anerkennung, die ihr gebührt. Damals, zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren, widersetzte sich Alice Neel dem Mainstream des abstrakten Expressionismus und malte Menschen. Sie musste 74 Jahre alt werden, bis sie ihre erste wichtige Einzel­ausstellung bekam – 1974 im New Yorker Whitney Museum. Der Kritiker der «New York Times» überzog sie damals mit Häme. Jetzt, posthum, gibt es nur noch Lob.

Und schliesslich ist da auch noch die grosse Einzel­­ausstellung «Structures for Life» mit Werken der Künstlerin Niki de Saint Phalle im Moma PS1 in Queens. Ihre Nana, die am Zürcher Haupt­bahnhof über den Köpfen der Reisenden fliegt, kennen viele, doch in den USA, sagt Co-Kuratorin Josephine Graf, sei Saint Phalle etwas in Vergessenheit geraten. Man wolle ihr Werk wieder in Erinnerung rufen, «mit einem Fokus auf ihre weniger bekannten Skulpturen und architektonischen Werke in der Öffentlichkeit».

Das gilt vor allem für den Tarot Garden in der Toskana, Niki de Saint Phalles Lebens­werk. Hier habe sie einen alten Traum verwirklicht: ihr Vorbild, Gaudís Park Güell in Barcelona, zu überbieten. Im PS1 werden Abbilder und wunderbare Modelle dieses Spiel­platzes für Kinder und Erwachsene gezeigt.

Hier als Lithografie (1991), in der Toskana als Skulpturenpark: Der Tarot-Garten von Niki de Saint Phalle. Ed Kessler/2020 NIKI CHARITABLE ART FOUNDATION

Es ist wohl gerade und endlich en vogue, Frauen auszustellen. Wohin man auch schaut, Museen widmen den Grandes Dames oder solchen, die es eigentlich sein sollten, Gruppen- und Einzel­ausstellungen. Der Kurator Charles Riley, der im Nassau County Museum of Art auf New Yorks Long Island erst dieses Frühjahr eine reine Frauen­ausstellung zeigte, sagt, es sei eben endlich an der Zeit: «Sehr viele Männer waren und sind immer noch die gatekeeper: Kuratoren, Direktoren und Sammler.»

Feministische Kritik am männer­dominierten Kunst­betrieb wird schon seit langer Zeit vorgetragen. 1971 stellte Linda Nochlin in ihrem berühmten Essay die Frage «Why Have There Been No Great Women Artists?», um klarzustellen, wie systematisch Frauen über Jahr­hunderte daran gehindert wurden, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen – von Akademien ausgeschlossen, dem Anblick von Aktmodellen entzogen und qua Natur als nicht genius­würdig betrachtet. Den wenigen, die sich weigerten, sich nur dem Haushalt oder der Kinder­erziehung zu widmen, und stattdessen Kunst machten, wurde keine oder nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt.

Yayoi Kusama, Alice Neel und Niki de Saint Phalle, denen nun zeitgleich in New York die ganz grosse Bühne bereitet wird, waren da keine Ausnahmen. Die Familien aller drei waren gegen den Wunsch ihrer Töchter gewesen, Künstlerinnen zu werden.

«Ich weiss nicht, was du in dieser Welt zu tun erwartest, du bist nur ein Mädchen», soll Alice Neels Mutter zu ihr gesagt haben. Von Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle erwartete die aristo­kratische Familie, eine gute Partie zu heiraten. Intellektuell gefördert wurde nur ihr Bruder. Yayoi Kusamas Mutter riss der Zehn­jährigen die Zeichnungen aus der Hand. Als sie später trotz allen Widerstands in Kyoto an die School of Arts and Crafts ging, musste sie zu Hause versprechen, auch Benimm­kurse zu besuchen. Diese hat sie dann geschwänzt.

Yayoi Kusama: Räbeliechtli als Weltkunst

Silberne Kugeln schwimmen in einem kleinen See des Botanischen Gartens in der Bronx. Wenn der Wind weht, geraten sie in Bewegung. Sie spiegeln den Himmel. «Narcissus Garden» ist eine der poetischsten Arbeiten Kusamas, die wieder und wieder alles mit allem verschmelzen lässt: Mensch, Natur, Universum. Den Ausstellungs­machern in New York liegt diese Koexistenz der menschlichen und nicht menschlichen Welt auf Augen­höhe ganz besonders am Herzen: Kusama richte unsere Aufmerksamkeit auf die Zusammen­hänge, die nicht immer sichtbar seien, steht auf einer Tafel.

«Narcissus Garden» (1966/2021) von Yayoi Kusama im Botanischen Garten in der Bronx. Robert Benson Photography/Yayoi Kusama/Courtesy of Ota Fine Arts, Victoria Miro and David Zwirner

Die Tatsache, dass wir nur kleine Punkte im endlosen Weltall sind, kann aber auch Angst machen. Als Kind litt Kusama an halluzinativen Zuständen, in denen sie mit dem Muster einer Tisch­decke oder einem Feld voller Blumen zu zerfliessen drohte. Alsbald machte sie aus diesen Eindrücken Kunst; indem sie die Kontrolle über den Kontroll­verlust übernahm, geriet die Selbst­auflösung zum metaphysischen Erlebnis, an dem die Zuschauerinnen und Zuschauer heute teilhaben dürfen.

Am stärksten erfahrbar ist die Unendlichkeit in Kusamas sogenannten Infinity-Spiegel-Räumen. Auf den Seiten, oben und unten mit Spiegeln verkleidet, vervielfachen sie leuchtende Formen endlos in alle Richtungen. Für New York hat Kusama einen solchen Raum mit leuchtenden Kürbissen aller Grössen ausgestattet – Räbe­liechtli als Weltkunst. Eine einfachere, aber umso schönere Infinity-Hütte mit Punkten wie Sternen lässt sich, pandemie­bedingt, bisher leider nur durch Gucklöcher betrachten. Kinder pressen ihre Gesichter an die Wände, um einen Blick in den Kunst­himmel zu erhaschen.

Kusamas Kunst ist raumgreifend. Ihre Bild­flächen weiten sich, ihre Skulpturen wachsen. Im Gegensatz zu Neel und Saint Phalle würde sich Kusama zwar nicht als Feministin bezeichnen. In einer Zeit, als Homo­sexualität in den USA noch als Geistes­krankheit galt, inszenierte sie aber bereits eine Schwulen­hochzeit. An öffentlichen Demonstrationen gegen den Vietnam­krieg bemalte sie nackte Menschen mit ihren polka dots. Präsident Nixon schrieb sie einen Brief: Sie sprach ihn mit Richard an und offerierte, sie könnten sich gegenseitig mit Punkten bemalen, «um unsere Egos in der zeitlosen Unendlichkeit zu verlieren und endlich die nackte Wahrheit zu entdecken: Man kann Gewalt nicht mit noch mehr Gewalt auslöschen».

Niki de Saint Phalle: Mit den Waffen der Kunst

Sie wäre fast Terroristin geworden, sagte Niki de Saint Phalle von sich. Es ist eine der berühmtesten Selbst­auskünfte der Künstlerin, der viele auf den Grund gehen möchten. Beide Eltern waren gewalttätig. Als sie 11 Jahre alt war, wurde sie von ihrem Vater mehrfach sexuell missbraucht. Später würde ihr kein Psychiater glauben: Es konnte und durfte nicht sein, dass ein Aristokrat und Banker zu so etwas in der Lage war. Nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik gelang es der damals 22-Jährigen, ihre ganze Wut in die Kunst zu lenken.

Mit einer brutalen satirischen Kunst­aktion wurde Niki de Saint Phalle 1961 als erste der drei Künstlerinnen medial bekannt: Die 30-Jährige, ein ehemaliges Foto­modell, schoss mit einem Gewehr auf Gemälde. Das Fernsehen kam. Die Kunst­werke bluteten. Denn Saint Phalle hatte mit Farbe gefüllte Ballons in den Rahmen montiert. Es scheint, als habe sie auf den Vater, auf das Patriarchat geschossen – die kriegerische, männliche Haltung, Aggression und Gewalt für sich in Anspruch genommen, um sie umzulenken.

Saint Phalles frühe Kunst ist dunkel: Altäre, bestückt mit Fleder­mäusen, Waffen und den Gebeinen toter Kinder. Es ist das vielleicht bedrückendste Objekt in der aktuellen Ausstellung im PS1. In einer katholischen Schule erzogen, hatte Saint Phalle schon vor den grossen Enthüllungen der Missbrauchs­skandale verstanden, was sich in diesen Institutionen abspielen konnte. In einem anderen Raum hängen Plakate aus den 1980er-Jahren mit Pistolen, die auf Kinder gerichtet sind, darüber kritzelte sie die Frage: «Do Americans prefer guns to children?» Sie kritisierte die kaum regulierte Waffen­industrie, die Umwelt­verschmutzung, das Abtreibungsverbot.

Auch ihre Nanas sind monströs, obschon auf fröhliche Weise. Diese überall gut gerundeten Riesen­frauen nehmen sich, was sie wollen, beschränken sich nie. «Saint Phalle wollte Frauen erschaffen, die Männer physisch überragen», sagt Co-Kuratorin Josephine Graf. «Sie scheren sich nicht um akzeptierte Schönheits­ideale, nicht um guten Geschmack. Ich denke, neben dem Vergnügen, das sie bereiten, sind sie auch politisch.»

Besucherinnen betreten «Hon» durch die Vulva, 1966 im Moderna Museet in Stockholm. Hans Hammarskiöld

In der Ausstellung kann man verfolgen, wie die Nanas immer grösser und grösser werden. «Hon» (Schwedisch für «sie»), 1966 ausgestellt im Moderna Museet in Stockholm, ist so voluminös, dass sie in ihrem Bauch ein Kino und in ihren Brüsten eine Milchbar beherbergen kann. Die Zuschauerinnen, 70’000 innert dreier Monate seien es gewesen, haben «Hon» durch ihre Vulva betreten. Eine kunstschwangere Frau, so gross wie ein Walfisch.

Alice Neels Schweine fehlen

Auch Alice Neels Provokation waren schwangere Frauen­körper, sie malte sie nackt, ungeschönt, unmittelbar, ehrlich, das hatte es im Kanon der Akt­malerei noch nie gegeben. Und splitternackte Männer, gemalt von einer Frau, liessen sich in der Kunst­geschichte bis in die 1950er-Jahre an einer Hand abzählen. Neel liess jedes Haar an ihnen dran: normale Typen aus ihrem Quartier, keine glatten griechischen Helden. Sie drehte die übliche Situation um: Für einmal ist da nicht der begehrliche Blick eines Mannes auf eine Frau, sondern der weibliche auf den Mann. Ihr vielleicht provokantestes Werk fehlt leider im Metropolitan Museum of Art: die Karikatur eines Mannes zwischen drei Schweinen. Eines wird von seinem Schuh befriedigt. Es soll Neel darstellen, eine Frau, die sich die Befriedigung holt, die sie braucht.

Alice Neel hatte ein so intensives wie hartes Leben gewählt. Sie lebte prekär von der Hand in den Mund. Sie hatte vier Kinder von drei Männern. Das erste war als Baby an Diphtherie gestorben. Die zweite Tochter hatte der Ehemann nach Kuba mitgenommen – und dann dort bei seiner Familie gelassen. Wahrscheinlich der Haupt­grund für Neels Aufenthalt in der Psychiatrie, den sie ebenso gemalt hat wie eine desolate Geburten­station in einem New Yorker Spital. Später zog sie zwei Söhne allein auf. Das Bild ihres damals dreijährigen Kindes Hartley, mit schreck­starrem Blick auf einem Schaukel­pferd, soll zeigen, wie schwierig es war, Familie und Beruf zu vereinbaren.

Der Mensch und sein Körper sollten immer im Zentrum ihres Schaffens bleiben. Dabei interessierte sich Neel nicht für die coolen Typen im Künstler­quartier Greenwich Village, sondern zog 1938 hinauf nach Spanish Harlem – zu den Migrantinnen, den Arbeitern, den engen Wohn­verhältnissen der Massen. Auf der Leinwand hob sie diese als Individuen hervor. Wer sich in den Sälen des Metropolitan Museum umschaut, ist jedenfalls umgeben von der Vielfalt an Menschen, die New York zu dem Ort machen, der er ist. Da sind Politiker, Aktivistinnen, Intellektuelle; Feministinnen, Homosexuelle, Transvestiten; African Americans, Latinas und Latinos; Nachbarinnen, Freunde, Kinder.

«Jackie Curtis and Ritta Redd» (1970) von Alice Neel. The Cleveland Museum of Art, Leonard C. Hanna, Jr. Fund/The Estate of Alice Neel
«Andy Warhol» (1970) von Alice Neel. Whitney Museum of American Art, New York, Gift of Timothy Collins/The Estate of Alice Neel
«Dominican Boys on 108th Street» (1955) von Alice Neel. Tate: Presented by the American Fund for the Tate Gallery, courtesy of Hartley and Richard Neel, the artist’s sons 2004/The Estate of Alice Neel

In dieser repräsentativen Diversität wirken die Bilder so politisch wie Niki de Saint Phalles Nanas. Im Gegensatz zu den glatten digitalen (Selbst-)Darstellungen von heute sind Neels Porträts wahrhaftig, nicht schmeichelhaft. Lieber betont sie das Hässliche als das Schöne. Sie zeigt sogar Andy Warhol, vielleicht den bekanntesten Menschen, den sie je porträtierte, nicht als Star, sondern als verwundeten Mann mit Männer­brüsten. No filter. Vielmehr mit einem Röntgen­blick, der das Innen ins Aussen bringt. 1968 wurde Andy Warhol von Valerie Solanas, einer radikalen Feministin, angeschossen – Andy Warhol, der Pop-Artist, dem es immer um medialen Oberflächen­glanz gegangen war, musste fortan ein Korsett tragen.

An den Schalt­hebeln der Macht

Alice Neel, Niki de Saint-Phalle und Yayoi Kusama suchten den Erfolg und forderten ihn selbst­bewusst ein. Saint Phalle schoss auf die traditionelle Leinwand, um Platz zu schaffen für eine begehbare Frauen­skulptur. Neel, die Erstgeborene der drei, schlug sich als eigenständige Künstlerin durch. Kusama bewarb sich in New York geradezu aggressiv bei allen, die sie für mächtig genug erachtete, ihr zu helfen. 1966 ging sie so weit, eine der grössten Kunst­partys der Welt zu crashen: Ohne Einladung stellte sie auf der Biennale in Venedig aus.

In einem goldenen Kimono verkaufte Kusama 1500 spiegelnde Stahl­kugeln zum Preis für je 2 Dollar – dieselben, die jetzt im Park schwimmen. «Wie Hotdogs», sagte sie. Angeschrieben mit «Your Narcissism For Sale»: Ihr Narzissmus zum Verkauf. Erschwingliche Kunst für alle, als Happening doppelbödig inszeniert. Biennale-Angestellte wollten sie rauswerfen: Da streifte Kusama ihren Kimono ab und wälzte sich in einem roten Trikot­anzug in den Kugeln. Filmreif. 1993, fast 30 Jahre später, würde sie wieder an der Biennale ausstellen: als gefeierte Künstlerin, offiziell von Japan eingeladen. Obwohl sie geschickter und offensiver war mit der Selbst­vermarktung als Neel, schaffte Kusama den Durchbruch auch erst als ältere Dame.

Die Journalistin Jillian Steinhauer stellte erst kürzlich wieder die These auf, dass Frauen alt und sogar halbtot sein müssten, um im Kunst­betrieb ernst genommen zu werden. Im Gegensatz zu Anfängerinnen hätten alte Künstlerinnen bereits ihre Stimme gefunden und bewiesen, dass sie das Handwerk beherrschten – eine Investition in ihre Kunst stünde damit auf sicheren Füssen und würde sich ganz nebenbei auch marketingtechnisch auszahlen: Immerhin hätten solche Frauen dem Sexismus und Rassismus getrotzt und eigneten sich hervor­ragend als Aushänge­schilder für eine erfolg­reiche Emanzipations­geschichte.

Dabei geraten für gewöhnlich jedoch diejenigen aus dem Blick, die für die Diskriminierung doch in erster Linie verantwortlich waren. «Die Kunstwelt tut sich leichter mit den alten Frauen, denn sie bildet sich ein, durch sie die Kunst auszustellen, die sie noch nie gesehen hat, weil sie selber diese ignoriert hat», sagt die Künstlerin Pat Steir und richtet damit den Zeige­finger auf die Schalt­hebel der Macht, die seit eh und je mehr­heitlich von weissen Männern besetzt werden.

«Niki de Saint Phalle. Structures for Life», Installationsansicht im Moma PS1. Kyle Knodell/Image courtesy MoMA PS1
«Alone, Buried in a Flower Garden» (2014) von Yayoi Kusama. Yayoi Kusama/Collection of the artist

Im Fall von Yayoi Kusama war wirklich alles, was sie einzigartig und innovativ macht, schon da, als sie in den 1960er-Jahren als junge Frau New York einnehmen wollte. Mal um mal erfand Kusama neue Formen, Konzepte, Materialien. Doch mal um mal kopierte nur wenige Monate später ein Mann ihre Idee – und erntete Applaus. Genau nachgezeichnet wird dieser Raub geistigen Eigentums nicht im Botanischen Garten in der New Yorker Bronx, dafür aber im sehens­werten Filmporträt «Kusama – Infinity».

Im Juni 1962 nähte Kusama «Soft Sculptures», weiche Skulpturen aus gefülltem Stoff. Ein Sessel schaute aus, als ob lauter Penisse aus ihm wüchsen. Wenige Monate später feierte die Kunst­welt dann Claes Oldenburg für seine «Soft Sculptures».

1964: Kusama spielte mit der stetigen Wieder­holung desselben Musters auf allen Wänden. Andy Warhol kam zur Ausstellung, sah, lobte, kopierte – und wurde alsbald für dieselbe Idee gefeiert.

1965: Kusama kreierte ihren ersten spiegel­besetzten «Infinity Room». Wieder gereichte nur wenige Monate einem Mann, Lucas Samara, in einer bekannteren New Yorker Galerie dieselbe Idee zu weit mehr Ehre. Kusama verfiel in eine Depression. Sie sprang aus dem Fenster und überlebte nur, weil sie auf ein Fahrrad und nicht auf den Asphalt fiel.

Unter dem Jubel und dem Beifall des Publikums, das Yayoi Kusamas Werk und das von Alice Neel und Niki de Saint Phalle zurzeit und endlich bewundern darf, sollte man daher nicht vergessen: Die Künstlerinnen haben für ihren Weg oft einen hohen Preis bezahlt. Niki de Saint Phalle tat das damals fast Undenkbare: Sie verliess ihren ersten Mann und die beiden Kinder für die Kunst. Das schlechte Gewissen darüber sollte sie den Rest ihres Lebens plagen. Die Arbeit mit giftigen Polyester­fasern zerstörte ihre Lungen, 2002 starb sie daran. So wurde sie von ihrer Kunst erst gerettet – dann getötet.

Selbstporträt (1980) von Alice Neel. National Portrait Gallery, Smithsonian Institution, Washington, D.C./The Estate of Alice Neel

Alice Neel starb 1984 an Krebs. Nur wenige Jahre zuvor hat sie ein Nacktbild von sich gemalt: mit weissem Haar, dickem Bauch, hängenden Brüsten und einer Brille auf der Nase. Sie soll zu einem Kunst­kritiker gesagt haben: «Beängstigend, nicht? Ich liebe es. Wenigstens zeugt es von einer gewissen Revolte gegen alles Anständige.»

Zu den Ausstellungen

Yayoi Kusama
New York, Botanical Garden, bis 31. Oktober 2021: «Kusama: Cosmic Nature». Berlin, Martin-Gropius-Bau, bis 15. August 2021: «Yayoi Kusama: Eine Retrospektive. A Bouquet of Love I Saw in the Universe». London, Tate Modern, bis 12. Juni 2022: «Yayoi Kusama: Infinity Mirror Rooms».

Alice Neel
New York,
Metropolitan Museum of Art, bis 1. August 2021: «Alice Neel. People Come First». Bilbao, Guggenheim, 17. September 2021 bis 23. Januar 2022: «Alice Neel. People Come First». San Francisco, Fine Arts Museums, 12. März 2022 bis 10. Juli 2022: «Alice Neel. People Come First»

Niki de Saint Phalle
New York, Moma PS1, bis 6. September: «Niki de Saint Phalle. Structures for Life». Escondido, Kalifornien, bis April 2022: «Niki de Saint Phalle. Colorations».

Zur Autorin

Susanna Petrin lebt und arbeitet als Journalistin in New York. Sie hat ein Studium der Germanistik, Anglistik und Publizistik in Basel und Zürich abgeschlossen und als Redaktorin für diverse Zeitungen gearbeitet.

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