Binswanger

Marktbesoffen

Die Marktwirtschaft ist in einer profunden Krise. Denn sie anerkennt keinen Wert mehr, sondern nur noch Preise. Ein neues Buch erklärt das Problem am Beispiel von – Grappa.

Von Daniel Binswanger, 10.07.2021

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Kann man Grappa zurück­verwandeln in Wein? Ein Buch, das diesen Frühling erschienen ist und «Value(s)» heisst – also «Wert(e)» –, gibt auf diese vertrackte Frage eine sechs­hundert­seitige Antwort. Die Lektüre lohnt sich trotzdem.

Erstens ist die Person, welche die Antwort gibt, Mark Carney, ehemaliger Gouverneur der kanadischen Notenbank, ehemaliger Gouverneur der Bank of England und heutiger Uno-Sonder­beauftragter für Klima­massnahmen. Und zweitens ist die Sache mit dem Grappa tatsächlich etwas komplizierter.

Der Branntwein ist eine Parabel, deren ausführlichere Version so lautet: «Unsere Mahlzeit wird von Wein begleitet, der vieles gleichzeitig sein kann. Er hat Bouquet, Farbe, geschmacklichen Reichtum, der so gut zum Essen passt. Alkohol kann zudem unseren Geist beflügeln und unsere Sinne stimulieren. Zum Schluss jedoch werden wir Grappa trinken. Grappa ist nur eines: Alkohol. Grappa ist destillierter Wein. Auch die Menschheit ist vieles gleichzeitig – leidenschaftlich, neugierig, vernünftig, altruistisch, kreativ, egoistisch. Der Markt aber ist nur eines: egoistisch. Der Markt ist destillierte Menschheit.»

Ebenfalls bemerkenswert an dieser Tischrede ist die Quelle: Papst Franziskus. Carney traf ihn als Gouverneur der Bank of England bei einem Arbeits­besuch im Vatikan. Im Lauf seiner Karriere sass er an den G-7- oder G-20-Konferenzen überhaupt mit quasi allen mächtigen Menschen dieser Welt an einem Tisch. Allerdings zählt er inzwischen zu den nicht mehr so raren ehemaligen Führungs­figuren des globalen Wirtschafts­systems, die fundamental von der Notwendigkeit überzeugt sind, den Kapitalismus zu reformieren. Er tut es nicht nur auf eine anekdotenreiche, sondern auch auf eine extrem informations­reiche Art.

Warum muss die Marktwirtschaft weniger hochprozentig werden? Weil wir – das ist die Grundthese von Carney – inzwischen gar nicht mehr in einer Markt­wirtschaft, sondern in einer Markt­gesellschaft leben. Weil der Wettbewerbs­gedanke nicht mehr bloss ein Mechanismus ist, um das gesellschaftlich Gewünschte wirtschaftlich möglichst effektiv herbei­zuführen, sondern weil er sich verselbst­ständigt hat, zu einem quasi­religiösen Prinzip geworden ist und alle Lebens­bereiche der heutigen Gesellschaft kolonisiert. Carney erblickt in dieser Entwicklung vor allem eine Wertekrise.

Nur weil wir keinen Begriff mehr davon haben, was eine gute Gesellschaft überhaupt sein soll, haben sich die Leitprinzipien von Wachstums-, Produktivitäts- und Profit­steigerung als letzter quasi universeller Massstab heraus­destilliert. Wir kennen zwar den Preis von allem, aber den Wert von gar nichts mehr, sagt Carney – diesmal nicht mit den Worten von Papst Franziskus, sondern mit einem Aphorismus von Oscar Wilde. Er plädiert für einen «missions­getriebenen Kapitalismus», das heisst einen Kapitalismus, der sich gesellschaftlich ausgehandelte Ziele gibt, der sich nicht ausschliesslich von Preis­signalen lenken lässt und der Märkte so gestaltet und eingrenzt, dass diese Ziele auch erreicht werden können.

Ganz bewusst hat Carney seine «Values» zum Pandemie­ende geschrieben. Es ist tatsächlich das Buch der Stunde – auch wenn von einem Ende der Pandemie unter Beihilfe «preisgetriebener» Organisationen wie der Uefa ja leider keine Rede sein kann. Dennoch ist es so, dass das Leben wieder Fahrt aufzunehmen beginnt, die Wirtschaft sich vielerorts in rasantem Tempo erholt, wenigstens die Geimpften sich wieder weitgehend frei bewegen können. Und zugleich dominiert ein profundes Gefühl der Ratlosigkeit.

Die epochalen Herausforderungen der Vor-Covid-Zeit – die Klima­erwärmung, die Ungleichheit – haben sich nicht in Luft aufgelöst. Ganz im Gegenteil: Das ökonomische Gefälle hat sich noch einmal massiv gesteigert. Die CO2-Emissionen unterlagen zwar einer kurzen Lockdown-Baisse, aber mit jedem Tag, der ins Land geht, wird deutlicher, dass wir das Problem nicht im Griff haben und dass die Konsequenzen immer dramatischer werden.

Jetzt kommt noch eine neue Belastung hinzu: Die extrem durchzogene Bilanz der Covid-Bewältigung hat das Vertrauen in unsere kollektive Handlungs­fähigkeit unterminiert. Können wir den Branntwein wieder in Wein verwandeln? Oder werden wir zu Schnaps­leichen? Können wir die Markt­wirtschaft, die rund um den Globus heute den Horizont des Möglichen definiert, in den Dienst einer höheren Mission stellen? Das ist tatsächlich die Frage, die sich vielleicht dringlicher stellt denn je.

«Values» hat mehrere Teile. Der erste hat den Titel «Der Aufstieg der Markt­gesellschaft» und gibt einen Abriss des ökonomischen Denkens von Aristoteles bis Hayek. Das absolute Kernereignis in dieser Geschichte, die kopernikanische Wende, die bis heute definiert, wie wir die Welt sehen und wie wir sie gestalten, ist für Carney der Übergang von der klassischen zur neoklassischen Wertetheorie, der im 19. Jahrhundert stattfand. Die Klassiker, zu denen noch Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx zählten, waren der Überzeugung, dass der Wert eines Produkts eine objektivierbare Basis hat: die zu seiner Herstellung nötige Arbeit.

«Arbeit ist das wahre Mass des Tauschwerts aller Waren», heisst es bei Adam Smith, dem Gründer­vater des Liberalismus. Es gab zwischen den «Klassikern» fundamentale Unterschiede, und ihre jeweiligen Theorien waren in vielen Aspekten nicht haltbar. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass sie ökonomischen Wert über die Arbeit in der realen Welt in der gesamt­gesellschaftlichen Wirklichkeit verankerten.

Das ändert sich fundamental mit der sogenannten neoklassischen Revolution von Carl Menger, Léon Walras und William Jevons. Wert ist für die Neoklassiker keine objektive Eigenschaft mehr, sondern immer nur das subjektive Urteil einer Konsumentin. Damit wird der ökonomische Wert von der übrigen Welt entkoppelt. Der Wert eines Produkts ist immer ganz genau das, was auf einem Markt dafür erzielt werden kann, und dieser Marktwert kann als solcher nicht infrage gestellt werden. Die Neoklassik, so Carney, schafft die Voraussetzungen für eine Pseudo-Theologie des Marktes. Sie anerkennt im Grunde keinen Wert mehr, sondern nur noch Preise. Sich selber hält sie für wertneutral.

Als einer der ehemals wichtigsten Finanzmarkt­regulatoren entwickelt Carney ein massives Argumentarium, um diese Weltsicht zu zerpflücken. Nein, Märkte sind aus unzähligen Gründen inkomplett, instabil, ineffizient. Vor allem aber können sie auch in hohem Masse destruktiv sein. «Die Markt­wirtschaft ist zentral für den Fortschritt», schreibt Carney, «aber sie existiert nicht in einem Vakuum. Wenn sie nicht beaufsichtigt wird oder wenn es ihr gelingt, die politische Sphäre zu dominieren, untergräbt sie genau die Werte, auf denen sie in Wirklichkeit beruht.»

Carney ist ein globalisierter Super­technokrat – aber genau weil er das ist und weil er sein Geschäft versteht, argumentiert er aus ethischer, gesamt­gesellschaftlicher Perspektive. Er plädiert für einen «inklusiven Kapitalismus», das heisst ein Wirtschafts­modell, das die Ungleichheit so weit als möglich reduziert. Er argumentiert dabei sowohl mit ethischen Erwägungen als auch mit der strikt ökonomischen Wohlfahrt: Es gibt starke empirische Evidenz dafür, dass weniger ungleiche Gesellschaften nicht nur wirtschaftlich stabiler sind, sondern auch besser prosperieren.

Im zweiten Teil seines Buches diskutiert Carney die drei fundamentalen Krisen unserer Epoche: die Finanz­krise, die Covid-Krise und die Klimakrise. Alle drei nimmt er wahr als Werte­krisen der Markt­gesellschaft: die Finanz­krise, weil sie gezeigt hat, dass der unbedingte Glaube an den Markt den profitabelsten Zweig der Wirtschaft zu guten Teilen unproduktiv werden liess und sterile Gewinn­abschöpfung zu einer vernichtenden Bedrohung für das ganze Wirtschafts­system wurde. Die Covid-Krise, weil sie dramatisch vor Augen führte, dass die Markt­gesellschaft Prävention und Resilienz nicht ausreichend garantieren kann und in vielen Fällen bei der Abwägung zwischen wirtschaftlichen Kosten und dem Schutz der Bevölkerung zu Entscheidungen kommt, die den gesellschaftlichen Werte­präferenzen nicht entsprechen. Die Klimakrise schliesslich, weil die Schwierigkeiten, sie adäquat zu adressieren, immer verheerendere, extrem kostspielige Konse­quenzen haben und weil es einen fundamentalen Umbau der Markt­wirtschaft erfordert, will man an dieser Heraus­forderung nicht definitiv scheitern.

Alle diese Problemfelder diskutiert Carney mit der Präzision des Fach­experten und den Erfahrungen des Noten­bankers, der in Echtzeit auf die Krisen reagieren musste. Seine Botschaft ist aber letztlich immer dieselbe: Wenn wir uns nicht über unsere Werte verständigen und konsequent auf deren Grundlage handeln, werden wir in allen Politik­feldern scheitern.

Stellenweise liest sich Carneys Buch ein bisschen wie ein Manual für Führungs­kräfte. Er scheint überzeugt zu sein, dass die Welt sich dramatisch zum Besseren wenden könnte, wenn doch nur die Entscheidungs­trägerinnen ihre Verblendung überwinden und eine verantwortliche Politik umsetzen würden. Warum die politischen Systeme momentan einer nicht unbedingt fortschrittlichen Dynamik unterliegen, warum die gesellschaftliche Entwicklung auch ganz andere Kräfte freisetzt, ist nicht sein Thema.

Carney ist und bleibt ein Spitzen­funktionär. Aber er ist auch ein Vertreter der Aufklärung im allerbesten Sinne. Bitte mehr davon!

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