Besteht die Zukunft des Kapitalismus ausschliesslich in der Herstellung von Monopolen? Das ist der Traum von Amazon (hier das Vertriebszentrum in Rugeley, England). Ben Roberts/Panos Pictures

«Diese Unternehmen existieren, um Märkte zu zerstören, nicht um sie zu beliefern»

Der Internetkapitalismus als gigantischer Markt der Ressentiments: Philosoph Joseph Vogl unterzieht im neuesten Buch die Plattformökonomie einer Fundamentalkritik. Ein Gespräch über die Macht von Big Tech, die Metamorphosen des Kapitalismus und die Urteilssucht auf Social Media.

Von Daniel Graf, 25.06.2021

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Herr Vogl, Ihr neues Buch heisst «Kapital und Ressentiment». Sie hätten es auch «Kapital durch Ressentiment» nennen können, oder?
Ich habe mit dem Titel tatsächlich auf eine unbestimmte Kausalität gesetzt, denn man muss sich bei der Analyse und der Geschichte von wirtschaftlichen Sach­verhalten von streng kausalen, determinierten Entwicklungen lösen. Es gibt immer einen grossen Kontingenz­spielraum bei der Entstehung und der Durchsetzung bestimmter Wirtschafts­systeme. Und der Titel soll mit diesem eigentümlichen Bindewort «und» zumindest festhalten, dass die Entstehung moderner Markt­gesellschaften nicht ohne die Produktiv­kraft von bestimmten Affekten auskommt.

Um ein komplexes und dichtes Buch auf eine schlichte Formel zu bringen: Die Plattform­ökonomie in ihrer heutigen Form führt zu einer Aushöhlung der Demokratie, lautet der Grund­befund.
Das sind Formulierungen, die gut in den Klappen­text passen würden, die aber im Buch selbst etwas anders gewendet werden. Was mich interessiert hat, ist eine Untersuchung mit einem längeren historischen Atem, die Entstehung dessen, was ich Finanz­regime nenne und was in seiner Genese auf die Frühe Neuzeit zurück­zudatieren ist. Verbunden damit ist die These, dass so etwas wie das Finanz­wesen nicht einfach ein ökonomischer Sachverhalt ist, sondern in einer engen Austausch­konstellation zwischen Staats­apparaten und privaten Financiers entstanden ist. Seit der Frühen Neuzeit ist das Finanz­wesen eng verwoben mit regierungs­technischen Fragen, in jüngerer Zeit mit dem Ausbau von Governance-Strukturen. Es geht also um privat-öffentliche Osmosen. Da hat sich eine Dynamik entwickelt, die das Finanz­regime mehr und mehr aus der Überprüf­barkeit durch rechts­staatliche demokratische Ordnungen heraus­gelöst hat.

Hin zu einem parastaatlichen Gebilde?
Auf die Finanzmärkte bezogen hat sich etwas eingestellt, was ich die vierte Gewalt oder die «Monetative» nenne – spätestens dort, wo sich diese Konstellationen auch einen festen institutionellen Rahmen gegeben haben, beispiels­weise in der Entstehung von Zentral- und National­banken. Diese Banken erfüllen auf der einen Seite eine Regierungs­aufgabe, nämlich Geld- und Währungs­politik, auf der anderen Seite sind sie in fast allen westlichen Ländern dezidiert von der Exekutive und von der Legislative abgetrennt und damit auch deren Zugriff entzogen. Oder umgekehrt: Sie müssen keine Rechenschaft gegenüber Parlamenten und gewählten Regierungen abgeben. Und nun gibt es jüngere Bewegungen, die dieses ältere, regierungs­gesteuerte Finanz- oder Währungs­system bereits überbieten und zu einem markt­gesteuerten Finanz­system übergehen.

Das heisst?
Der Einfluss der Zentral­banken, etwa auf die Geld­schöpfung und auf das Kredit­verhalten, ist in den letzten Jahrzehnten geschwunden. Die Märkte sind selbst die grössten Produzenten von Liquidität. Zudem lösen sich internationale Verträge auf dem Gebiet der Finanz­wirtschaft mehr und mehr vom national­staatlichen öffentlichen Recht. Man gibt sich eine eigene «Lex Mercatoria», eine Art privatisiertes Privat­recht mit eigenen, privaten Schiedsgerichten.

Zur Person

Joseph Vogl ist eigentlich Literatur- und Kultur­wissenschaftler. Nach der Finanzkrise 2007/2008 ist er jedoch zu einem der profiliertesten Kritiker der Finanz­ökonomie und zu einem public intellectual geworden. Sein Buch «Das Gespenst des Kapitals» (2010) hat es zum Bestseller gebracht, obwohl Vogl aus seiner Vorliebe für anspruchs­volle Theorie nie den geringsten Hehl macht. Mit «Der Souveränitäts­effekt» legte er 2015 nach: Das moderne Finanz­wesen, so Vogl, habe sich von der Volks­souveränität entkoppelt und sei zu einer «Ausnahme­macht» geworden, die die eigenen Risiken in Gefahren für die Allgemeinheit verwandle. Nun hat er sein neues Buch mit dem Titel «Kapital und Ressentiment» vorgelegt, eine kultur­geschichtlich fundierte Analyse des Plattform­kapitalismus von Amazon, Facebook, Uber und Co.

Sie haben die Zentral­banken angesprochen. Wie sehen Sie die geldpolitischen Veränderungen durch Krypto­währungen?
Im Augenblick gibt es wohl circa 10’000 verschiedene Krypto­währungen, und die Hoffnung dahinter war einmal, den Geldtransfer sowohl von Staaten und deren Dominanz in nationalen Währungen als auch von inter­nationalen Banken zu lösen. Das ist eigentlich ein altes liberalistisches Ideal, das man beispiels­weise bei Ökonomen wie Friedrich von Hayek oder Milton Friedman findet: Auch das Geld muss radikal privatisiert werden, jedem politischen Zugriff entzogen. Aber gerade dadurch – an Bitcoin ist das am deutlichsten erkennbar – ist das private Geld zu einem aberwitzigen Spekulations­objekt geworden.

Derzeit ist Facebooks Währung «Diem» in aller Munde.
Die Idee hat natürlich etwas Schlagendes, einen Konzern mit einem Nutzer­stamm von knapp drei Milliarden Leuten in einen Finanz­konzern zu verwandeln und die Nutzer im Grunde in Konto­inhaber zu transformieren. Dadurch kann eine letzte Bastion staatlicher Hegemonie, nämlich das Währungs­monopol, unterlaufen werden. Und aus der Perspektive von Facebook ist es eine überaus interessante Angelegenheit, Geld­schöpfungs­privilegien, also das, was man früher Seigniorage oder Schlag­schatz genannt hat, zu privatisieren. Man baut den Konzern zu einer Art Investment­gesellschaft um, die ihr Geld mit der Ausgabe von Geld verdient.

Nun gibt es neben dem Finanz­wesen einen weiteren zentralen Strang in Ihrem Buch, der sich speziell um Plattform­ökonomie und Social-Media-Unternehmen dreht. Ihre These ist, dass bei diesen Platt­formen die ständige Zirkulation von Ressentiments zum Geschäfts­modell wird. Wie hängt das mit dem ersten Aspekt zusammen, dem Finanzwesen?
Da muss ich verschiedene Zwischen­schritte vornehmen. Ein erster wichtiger Schritt besteht in der Feststellung, dass die Plattform­unternehmen, deren Entstehung in den Neunziger­jahren zu beobachten und deren grosser Take-off nach der Dotcom-Blase zu verzeichnen ist, aufgrund verschiedener geschäftlicher Vorteile eine hohe Attraktivität für Finanz­investoren haben. Beispiels­weise haben diese Konzerne wenig Fixkapital zu pflegen: Uber besitzt keine Autos, Airbnb keine Wohnungen.

Sie lösen sich im Grunde von den Produktionsmitteln.
Genauer: Ihre Produktionsmittel sind vor allem Hard- und Software. Zugleich können sie eine rabiate Externalisierung von Arbeits­kosten betreiben, etwa durch Wegwerf­arbeiter oder Tagelöhner, die überall unterwegs sind in unseren Städten. Wie Finanz­unternehmen auch sind die Plattformen zudem überaus artistisch in der Steuer­vermeidung, weil lizenzierte Daten­produkte recht leicht über die Grenzen zu transportieren sind, anders als Fabrik­anlagen. Und was diese Unternehmen, aber auch die Finanz­investoren besonders lieben: Sie folgen dem power law, also dem exponentiellen Wachstum, das durch Netzwerk­effekte generiert wird. Das prägt eine gleichsam natur­wüchsige Tendenz zur Monopol­bildung und dazu, bestehende Märkte zu zerstören.

«Netzwerkeffekte» meint die Potenzierung von Nutzerzahlen – Nutzerinnen generieren Nutzerinnen?
Ja, bei einem linearen Wachstum von Knoten im Netz zeichnen sich die möglichen Beziehungen, die zwischen den Knoten existieren, durch nicht-lineare oder konvexe Wachstumskurven aus. Nutzer verzinsen sich gewisser­massen mit Nutzern. Damit können die sogenannten Grenzkosten radikal gesenkt werden. Für den Ausbau der Unter­nehmen muss man dann nicht etwa zusätzlich Immobilien bauen, sondern nur die Rechner­kapazitäten erweitern.

Wenn man die Veränderungen berücksichtigt, die Sie eben beschrieben haben, was passiert dann mit klassischen kapitalismus­kritischen Kategorien wie Ausbeutung, Entfremdung, Mehrwert? Taugen die noch zur Beschreibung?
Eine Sache ist entscheidend: Diese Unternehmen haben mit Gütern zu tun, die Ökonomen nicht-rivalisierende Güter nennen, also Güter, die sich durch Unknappheit auszeichnen. Information wird durch den Gebrauch nicht weniger, anders als der Wein in der Flasche oder das Benzin im Tank. Aus diesem Grund, und das ist so simpel wie clever, müssen diese Unternehmen den Zugang zur Information asymmetrieren. Diejenigen, die Daten produzieren – also das, was man User oder sogar «Produser» nennt –, müssen vom Zugang zu dem, was sie selbst in diesen Netzwerken produzieren, konsequent ausgeschlossen werden.

«Nachdem der Sturm auf das Kapitol gescheitert war, hat man den noch amtierenden Präsidenten auf Twitter und Facebook schlicht abgesetzt – öffentlich entmachtet und kastriert»: Joseph Vogl. Julia Baier/laif

Der «Produser» unterliegt einer anderen Art der Entfremdung von dem Produkt, das er herstellt – gar nicht mit dem Willen, ein Produkt herzustellen?
«Produser» sind ja Nutzer oder User, die gar nicht merken, wie und wo sie mit beliebigen Netzaktivitäten Daten­rohstoffe produzieren. Allerdings würden die Geschäfte der Daten­raffinerien nicht funktionieren, wenn sie den Nutzern nicht auch Spass machen würden. Und Spass lässt sich nicht unbedingt als krasse Entfremdungs­erfahrung fassen. Also werden dort bestimmte Verträge geschlossen, bewusst oder unbewusst, und ich würde diese Verträge Kontroll­verträge nennen. Man nutzt das Privileg kostengünstiger oder kostenloser Angebote – die Nutzung von Apps, Maps, Navigations­hilfen, Wörter­büchern, Such­maschinen, was auch immer – unter der Bedingung, dass man die damit produzierten Daten abtritt. Dabei, und das ist das Entscheidende, findet so etwas wie digitale Enteignung statt. Deswegen entwickeln diese Unter­nehmen auch einen so hohen advokatorischen Grimm, um den Zugriff auf diese Daten durch die Nutzer zu verhindern.

Wenn man das User-Verhalten auf die digitale Öffentlichkeit hin befragt: Sie sprechen bei diesen Plattformen, speziell den Social Media, von einer Ausbeutung der Urteils­lust. Was ist damit gemeint?
Ich muss vielleicht noch etwas über den Zusammen­hang von Finanz­ökonomie und Plattformen vorweg­schicken. Eine meiner Thesen ist, dass die proto­typischen Plattformen entstanden sind, bevor eigentlich die digitale Netzwerk­architektur zur Verfügung stand. Und zwar sind das privatisierte Börsen­schauplätze gewesen wie etwa Nasdaq. Over-the-counter-Geschäfte; die Loslösung der Finanz­geschäfte von reglementierten Börsen­schauplätzen in private Handels­plätze hat sich dort vollzogen. Und spätestens mit der Privatisierung des Internets 1996 und der Freigabe des Netzes für Finanz­transaktionen ist das Netz zu einem der grössten Umschlag­plätze für Finanz­transaktionen überhaupt geworden. Schon im Jahr 2000 flossen täglich knapp zwei Billionen Dollar durch die elektronischen Netze von New York.

Mit der Privatisierung des Internets 1996 meinen Sie den Telecommunications Act in den USA?
Ja. Das Gesetz, mit dem die Netzwerk­architektur – die ja öffentlich war, zwischen Universitäten und Militär­institutionen hervor­gebracht wurde, die lange Zeit eine Art Ladenhüter war und nicht wirklich Gross­investoren angezogen hat – radikal privatisiert wurde.

Jetzt haben Sie beiläufig das gängige Narrativ aus dem Silicon Valley über den Haufen geworfen. Das lebt ja vom Erfinder­geist im Garagen-Start-up, die Erzählung beginnt mit der genialen Einzel­person. Bei Ihnen ist das eher ein Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung.
Völlig richtig. Die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato beispiels­weise hat nachgewiesen, dass dieser Mythos vom kühnen Erfinder­geist die Lage nur partiell trifft. Die wichtigsten Produkte etwa für die Funktions­tüchtigkeit des Internets – einheitliche Daten­formate und Protokolle, Mikro­prozessoren, Betriebs­systeme oder E-Mail-Programme – wurden zunächst mit grossen staatlichen Mitteln gefördert, um dann aus gewisser Distanz privat und profitabel verwertet zu werden. Für Mazzucato war das ein weiterer Beweis dafür, dass man Kosten sozialisiert und Gewinne privatisiert. Und es kommt mit dem Telecommunications Act von 1996 ein Zusatz­gesetz hinzu, das etwas erzeugt hat, was man Internet-Exzeptiona­lismus nennt, nämlich das sogenannte Haftungs­privileg. Mit Paragraf 230 des Communications Decency Act, dieses Zusatz­gesetzes, werden Internet­provider von der Verantwortung gegenüber den eingestellten Inhalten befreit. Dadurch entstand eine Situation, die man mit einem Paradox formulieren kann, das bis heute gilt: Wer veröffentlicht, ist nicht verant­wortlich. Wer aber Content verantwortet, betreibt keine Veröffentlichung.

Ist das ein weiteres Beispiel für Privatisierung von Gewinnen, Sozialisierung von «Kosten»?
Es ist eine meiner Thesen, dass die Privilegien, die das Finanz­kapital historisch immer ausgezeichnet haben, sich mit dem Internet-Exzeptionalismus kombinieren, also mit einem einzigartigen Geschäfts­modell: Wir haben es heute mit Unternehmen zu tun, die für ihre Produkte keinerlei Verantwortung übernehmen müssen. Selbst ein Konzern wie Monsanto beziehungs­weise Bayer kann irgendwann mal Ärger mit Glyphosat bekommen. Aber die Konzerne der Plattform­industrie kriegen mit keinem Algorithmus und keinem vertriebenen Produkt Schwierigkeiten. Im Gegenteil, sie haben inzwischen so etwas wie normative Enklaven hergestellt. Wie wir alle wissen, entscheiden in letzter Konsequenz die Unter­nehmen selbst, welche Inhalte sie einstellen oder löschen. Sie können vielleicht angefleht werden, nachträglich zu löschen, aber sie werden nicht dafür verantwortlich gemacht, was einmal eingestellt worden ist.

Heisst das, Social Media sollten Ihrer Meinung nach als Medien­unternehmen behandelt werden – wie klassische Medien?
In der besten aller publizistischen Welten: ja. Hier gibt es ein Loch an Verantwortlichkeit, an Haftung, an Legitimation. Und natürlich würde sich das Geschäfts­modell radikal ändern, wenn man solche Medien­unternehmen direkt verantwortlich machen könnte und nicht bloss nachträglich darum bitten müsste, sich selbst ein paar Regeln zu geben. Private Schieds­gerichte ersetzen den Rechtsweg.

Deswegen bleibt ja das Dilemma: Wenn de facto Firmen die Rolle von Gerichten übernehmen, also beispiels­weise über Löschung entscheiden, dann ist das ein grund­sätzliches Problem für den Rechts­staat. Wenn aber umgekehrt vielleicht staatliche Stellen die Aber­millionen Tweets in Echtzeit kontrollieren sollten: Wie soll das gehen?
Gar nicht. Aber dabei wird deutlich, wie technologisch-ökonomischer Druck eine rechtliche Zwangs­lage erzeugt. 6000 Tweets pro Sekunde oder 3 Millionen Posts pro Minute sind eben nicht mehr oder nur maschinell überprüfbar. Die gegenwärtige Reform des Urheber­rechts und die hitzigen Debatten über Uploadfilter zeigen das: Solche Diskussionen werden seltsamer­weise unter der Voraussetzung geführt, dass das Geschäfts­modell der Plattform­industrie selbst nicht infrage gestellt wird. Das bleibt ein blinder Fleck.

Mal ganz konkret: War die Sperrung von Donald Trump auf Facebook und Twitter eine Stärkung oder eine Schwächung der Demokratie?
Weder noch. Sie hat bloss gezeigt, wie diese neue Medien­souveränität funktioniert. Nachdem der Sturm auf das Kapitol gescheitert war, hat man den noch amtierenden Präsidenten auf Twitter und Facebook schlicht abgesetzt – öffentlich entmachtet und kastriert. Bis zu diesem Augenblick aber war die Symbiose mit dem präsidialen Grimm ergiebig und sinnvoll.

Ökonomisch sinnvoll?
Ökonomisch sinnvoll für die Plattformen und politisch sinnvoll für Trump. Danach wurde es für die Konzerne ökonomisch und politisch riskant, und man tat, was clevere Gewinner tun: Man gab den Verlierer verloren.

Von kapitalismus­kritischer Seite lautet das Narrativ häufig: Der Markt dominiert die Politik. Lässt das nicht manchmal übersehen, dass einige dieser Platt­formen auch regelrecht markt­feindlich sind? Nehmen wir Amazon: Mit der Allvermessung und Big Data soll ja nichts dem Zufall überlassen, Konkurrenz möglichst ausgeschaltet werden, ebenso wie Zwischen­instanzen. Ist Amazon in Wirklichkeit eine Plan­wirtschaft, wie das Leigh Phillips und Michal Rozworski in ihrem Buch nahelegen?
Interessant ist, dass sich seit geraumer Zeit etwas anbahnt, was selbst Erzliberalen etwas unheimlich erscheint. Auf der einen Seite herrscht eine demonstrative Apologie des Monopols. Man tut alles, um sich aus dem Wettbewerb freizukaufen. Konkurrieren sollen die Arbeits­kräfte, konkurrieren sollen die kleinen Geschäfte, konkurrieren sollen Handwerker. Aber Gross­unternehmen konkurrieren nicht wirklich, das ist unter ihrer Würde. Aber das hat man hingenommen. Neu ist jedoch, dass diese Monopole nun Gegenstand einer ideologischen Verstärkung werden und dass Leute auftreten und sagen: Die Zukunft des Kapitalismus besteht ausschliesslich in der Herstellung von Monopolen.

Im Amazon-Vertriebszentrum werden lebensgrosse Mitarbeiterporträts eingesetzt, um das Personal zu motivieren. Dabei sind sie nicht viel mehr als «Wegwerfarbeiter oder Tagelöhner», wie Joseph Vogl sagt. Ben Roberts/Panos Pictures

Sie spielen auf Aussagen zum Beispiel des Investors Peter Thiel an?
Ja, und diese neue Verlautbarungs­logik ist das eine. Damit ist zweitens verbunden, dass diese Unternehmen nicht auftreten, um Märkte zu beliefern, sondern um sie zu zerstören. Das Ziel ist, drittens, selbst die Rahmen­bedingungen für Markt­zugänge zu setzen, von denen man früher glaubte, der liberale Staat würde so etwas regeln. Deswegen kann man heute eine gewisse Nähe zwischen einer durchaus radikalen Kritik und einer älteren liberalen Kritik am gegenwärtigen Plattform­kapitalismus erkennen. Man sollte diese Nähe und die Koalitionen, die da möglich sind, nicht unterschätzen.

Kommen wir noch einmal auf den «Produser» zu sprechen, die Social-Media-Plattformen und Ihren Schlüssel­begriff des Ressentiments, den Sie aus dem 19. Jahrhundert herleiten. Wie definieren Sie Ressentiment?
Lassen Sie mich zunächst eine längere Herleitung versuchen. Seit der Entstehung von bürgerlichen Markt­gesellschaften in der Frühen Neuzeit, also spätestens seit dem 17. und 18. Jahrhundert, gibt es Sozial­theoretiker und Moral­philosophen, die so etwas wie eine anthropologische Revolution konstatieren. Man spricht von neuen Trieben der Selbst­erhaltung und der Selbst­liebe, Kant macht eine «ungesellige Geselligkeit» geltend, und im Zusammen­hang mit neuen Markt­dynamiken möchte man beobachten, wie ehemalige christliche Todsünden oder Hauptlaster – also Neid, Habgier, Geiz, Verschwendung – produktiv werden. Dieser Laster­katalog könnte nun als gesellschaftliche Produktiv­kraft adressiert werden. Viel klüger als die Tugenden sind die Laster; mit ihren Tricks und Kniffen tragen sie gewisser­massen zur Beförderung des Markt­geschehens bei.

Das Thema der «Bienenfabel» …
Ja, in der «Bienenfabel» von Bernard Mandeville ist das sozusagen in Verse gefasst. Der Wirtschafts­historiker Albert Hirschman hat in seinem Buch über das Verhältnis von Interessen und Leidenschaften in der Frühen Neuzeit genau diesen Sachverhalt nachgezeichnet: wie der Markt eine Maschine zur Erzeugung, aber auch zur Abschöpfung und zur Transformation von Leiden­schaften und Affekten wird. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das heisst in einer Zeit, in der sich der Finanz- und Industrie­kapitalismus entwickelt hatte, fanden dann vermehrt Beobachtungen über das statt, was nun «Ressentiment» genannt wurde. Ganz prominent natürlich bei Nietzsche, aber auch bei Autoren wie Tocqueville, Kierkegaard und Dostojewski. Und diese verstreuten Untersuchungen werden später nochmals aufgegriffen, unter anderem von Werner Sombart und Max Scheler. In all diesen Studien wird der Sozial­affekt des Ressentiments mit den Bewegungen des modernen Kapitalismus in Verbindung gebracht, mit Konkurrenz­gesellschaften oder mit der Dynamik von Gründerzeiten.

Das heisst?
Das Ressentiment ist ein ökonomisches Moral­prinzip kapitalistischer Gesellschaften. Mit Kierkegaard gesagt, wäre das ein «negativ-einendes Prinzip», in ihm erweist sich eine «negative Einheit der negativen Gegen­seitigkeit der Individuen». Anders formuliert: Das Ressentiment ist die Affekt­ausstattung von Gewinnlern und Profitlern im entwickelten Konkurrenz­system – stets wird einem etwas weggeschnappt, immer hat ein anderer mehr, und was einem fehlt, spiegelt sich im Phantasma eines fremden Geniessens. Im Grunde kombiniert sich darin ein abstraktes Begehren mit einem abstrakten Vergeltungsgefühl.

So würden Sie auch die gegenwärtige Plattform­ökonomie definieren: als Markt für die Zirkulation von Ressentiments?
Ja, und zwar durch die Mobilisierung von separaten Communitys und sozialen Monaden, durch die Stimulierung einer affektiven und kognitiven Segregation, durch eine ballistische Schnell­kommunikation, in der es um fixe Treffer und Schläge geht. Privilegiert wird das bloss Meinungs­hafte, samt selbst­verstärkender Feedback­schleifen. Das alles sind gute Voraussetzungen für die Produktion sozialer und politischer Schismen. Das Ganze wird von den technologisch-ökonomischen Infra­strukturen unterstützt, und die Förderung von Ressentiment­bereitschaft gehört mit zum Geschäft.

Es geht um Meinung, entkoppelt von Gründen und Reflexion?
Meinungen sind Äusserungen minus Beweis- und Begründungslast. Darum sind sie so leicht prozessierbar, skalierbar, automatisierbar, während die Herstellung von Wissen, die Verwicklung in Begründungs­lasten und Legitimations­pflichten Lebenszeit verschlingt und maschinelle Schnell­kommunikation blockiert. Das bloss Meinungshafte besitzt also einen systemischen Vorteil in der digitalen Netzkommunikation.

Sie schreiben, auf den Plattformen ist das Ressentiment zugleich Produkt und Produktiv­kraft. Steckt dahinter nicht ein extrem negatives Menschen­bild? Wir sind alle von der Feindseligkeit getrieben und wollen das dann auch noch konsumieren!
Ich bin da viel weniger radikal als andere, als beispiels­weise Nietzsche, der tatsächlich den Menschen selbst als ein ressentimentales Tier bestimmt hat. Ich bin vorsichtig und meine nur: Das Ressentiment ist eben nicht einfach eine psychische Innen­ausstattung, sondern Teil einer ökonomisch-technischen Infrastruktur, und wird dort erstens benutzt und zweitens produziert, es ist also Produktiv­kraft und Produkt zugleich. Geschäfts­modelle auf den sogenannten Social Media funktionieren nur unter der Bedingung der Community-Feedback-Loops, also indem man partikulare Konformismen herstellt, die dann adressiert, gepflegt und kommerzialisiert werden können. Das heisst, vor dem Hintergrund eines allgemeinen Inklusions­anspruchs werden zugleich partikulare Identitäten hervorgebracht. Es gibt eine geschäftlich motivierte Identitäts­politik in diesen Unternehmen. Und dass damit soziale Kollisionen und Reibungen zum Geschäfts­modell gehören, leuchtet, glaube ich, unmittelbar ein. Diese Unternehmen gehen also einen entgegen­gesetzten Weg zu dem, was man in jüngeren Demokratie­theorien unterstellen würde: nämlich dass man von partikularen Identitäten ausgeht und sie überschreitet, um sich auf einen Horizont des Universellen hin zu öffnen.

Letzteres könnte auch eine Beschreibung des Projekts emanzipatorischer Identitäts­politik ausserhalb dieser Netzwerke sein.
Genau. Aber dieser Prozess wird im Businessplan der Plattformen radikal umgekehrt. Man geht von einer allgemeinen Inklusion der Nutzer aus: je mehr Nutzer, je universeller die Inklusion, desto besser die Beherrschung des Markts. Als Effekt davon wird aber Partikularität produziert: soziale Monaden, die nur unter der Bedingung einer gewissen Reibungs­intensität neben- oder mit- oder gegen­einander existieren.

Sie sagen, Sie seien weniger radikal als Nietzsche. Dennoch: Wo ist in Ihrer «kurzen Theorie der Gegenwart» die positive, die konstruktive, die einhegende Kraft?
Lassen Sie es mich direkt sagen: Ich habe sie nicht gesehen. Ich bin aber gerne bereit, auf meinen blinden Fleck verwiesen zu werden. Und vielleicht muss ich dazusagen, dass es mir widerstrebt hätte, ein Buch mit der Gattungsformel «Die Risiken und Chancen von …» zu schreiben. Das ist ein Genre, in dem andere wahrscheinlich artistischer oder einfalls­reicher sind. Darum ging es mir nun tatsächlich nicht.

Ist aus Ihrer Sicht eine Social-Media-Plattform denkbar, die den von Ihnen beschriebenen Dynamiken des Ressentiments entkommt?
Es gibt ja durchaus Netzaktivisten, die mit einer gewissen Sentimentalität auf die Achtziger- und frühen Neunziger­jahre zurückblicken. Und es gibt – diese Dinge habe ich selbst tatsächlich nur indirekt aufgegriffen – natürlich auch Digital­spezialisten wie die Working Group on Infodemics, die konkrete Vorschläge zur Entgiftung des Netzes machen. Zum Beispiel die Verzögerung von Reiz- und Reaktions­zusammenhängen und das Erzeugen von technologischen Abkling­becken. Es geht letztlich um die Frage: Lassen sich in die digitale Netzkommunikation auch Unter­brecher, Pausen, Störquellen einfügen? Ausserdem werden derzeit Vorschläge von ehemals erzliberalen Institutionen gemacht, beispiels­weise der Europäischen Kommission. Die hat nun bemerkt, dass es zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Staats- beziehungsweise Internet­kapitalismus einen dritten, europäischen Weg geben sollte, der von einem Informations­begriff im Sinne des Gemeinguts ausgeht. Und dass deswegen der Gebrauch, die Nutzung und der Vertrieb von Information in den elementaren Funktions­weisen nicht ausschliesslich in privater Hand liegen dürfen. Seit Ende des letzten Jahres gibt es den sogenannten Digital Services Act, den Digital Markets Act und den Data Governance Act.

Das sind momentan noch Entwürfe.
Gesetzesentwürfe, die spätestens seit Dezember 2020 kursieren und wenigstens drei Dinge in den Blick nehmen. Erstens die Monopol­stellung bestimmter Unternehmen. Zweitens die Daten­extraktion zu geschäftlichen Zwecken, das Absaugen von europäischen Daten, auch öffentlichen Daten, in amerikanische Unternehmen – und damit natürlich auch in die konzertierte Nutzung durch Privat­unternehmen und amerikanische Geheim­dienste. Drittens das damit verbundene Haftungs­privileg, die strukturierte Verant­wortungs­losigkeit, wenn man so will. Die offene Frage also ist, wie weit sich Europa in Richtung digitale Souveränität bewegt oder wird bewegen können.

Nun gibt es seit der Finanzkrise einen Boom an kapitalismus­kritischen Büchern. Allein jüngst etwa von Katharina Pistor, Quinn Slobodian, Thomas Biebricher, Philipp Staab. Kann es sein, dass die intellektuelle Kapitalismus­kritik mittlerweile rituell bejubelt wird – und zugleich ändert sich an den Verhältnissen herzlich wenig?
Ein paar freundliche Rezensionen bedeuten noch keinen allgemeinen Jubel, und ich würde es anders­herum drehen: Die Kapitalismus­kritik ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Auch dazu gibt es ja Studien, etwa von Boltanski/Chiapello, die zeigen können, welch grosse Rolle mittlerweile die sogenannte Rück­übertragung spielt, also die Integration von Kapitalismus­kritik in bestimmte Geschäfts­modelle. Deswegen ist auch der Begriff der Kapitalismus­kritik eine ratlose Berufs­bezeichnung und enthält noch kein intellektuelles, kein theoretisches oder praktisches Programm. Allerdings glaube ich nicht, dass man die gegenwärtige Lage analysieren kann, ohne die soziale und politische Gewalt des aktuellen Wirtschafts­systems zu berücksichtigen. Und wenn man dabei zu düsteren Farben greift, wie ich das getan habe, so heisst das eben: Die Verhältnisse werden sich nicht ändern, wenn man sie nicht ändert.

Wie kommen wir von einer Kultur des Ressentiments zu einer Stärkung reflektierter Kritik?
Ressentiment ist ja durchaus eine Spielart von Kritik, und niemand kann wohl behaupten, er oder sie wäre ganz und gar frei davon. Es produziert den bösen Blick, es sinnt auf Genugtuung, es aktiviert Kränkungs- und Verletzungs­gefühle. Aber – und das ist die Falle des Ressentiments – es nimmt meist einen mehr oder weniger polizeilichen Weg: Das Ressentiment fahndet und verdächtigt, gibt sich einer gewissen Straffreudigkeit hin, ruft nach stärkeren Instanzen und Mächten, die sich um die Schädigung oder Bändigung der Beleidiger kümmern sollen, schliesslich sucht es stets nach konkreten Schuldigen – irgendjemand muss ja schuldig sein, wenn es mir schlecht geht. Das wäre die Falle oder Sackgasse ressentimentaler Kritik. Kritik selbst aber sollte den umgekehrten Weg nehmen: heraustreten aus der Urteilssucht, aus der Vergeltungslust. «Schluss mit dem Gericht», wie es bei Deleuze einmal geheissen hat, das wäre tatsächlich ein Leitmass für die Erzeugung von nicht ressentimentalen Milieus.

In einer früheren Version war eine Aussage über nicht-lineares Wachstum von Knoten im Netz nicht korrekt. Wir haben die Stelle angepasst und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

Zum Buch

Joseph Vogl: «Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart». Verlag C. H. Beck, München 2021. 224 Seiten, ca. 27 Franken.

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