Mon Dieu!

Diese Wahl wird auch über Europas Zukunft entscheiden: Emmanuel Macron hat gute Chancen, in knapp einem Jahr als französischer Präsident wiedergewählt zu werden. Wie macht er das? Und was, wenn es doch nicht klappt?

Von Joseph de Weck, 21.06.2021

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Bereit für das Duell um eine zweite Amtszeit: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Christopher Anderson/Magnum Photos/Keystone

In elf Monaten findet der für Europa vielleicht folgenreichste Urnengang der kommenden Jahre statt: Frankreich kürt seinen Wahl­monarchen. Kein europäischer Politiker hat innen­politisch so viel Macht wie der Hausherr – oder bald erstmals die Hausherrin? – des Élysée-Palasts. Und kein anderes Staats­oberhaupt hat sich die letzten Jahre aussen­politisch so stark engagiert, um die europäische Integration voran­zubringen.

Die anstehende Entscheidung setzt ein Land unter Hoch­spannung, das sich im Grunde schon seit Jahren im mentalen und realen Ausnahme­zustand befindet. Und aller Voraussicht nach kommt es zur Wieder­holung des Zweikampfs von 2017.

Umfragen zeigen, dass Emmanuel Macron und Marine Le Pen aktuell im ersten Wahlgang gleichauf lägen, beide mit rund 26 Prozent der Stimmen und mit grossem Vorsprung vor allen anderen potenziellen Kandidaten. Unwahrscheinlich ist, dass Le Pen oder Macron bei den Anteilen noch starke Verluste erleiden. Ihre Umfrage­werte haben sich in den vergangenen vier Jahren wenig bewegt. Die beiden Lager sind stabil. Alles spricht dafür, dass die Citoyennes sich im zweiten Wahlgang im Mai 2022 zwischen dem Amtsinhaber Macron und der rechts­extremen Heraus­forderin Le Pen entscheiden müssen.

Macrons Wiederwahl wäre fast eine Anomalie. Neben Charles de Gaulle (1959–1969), dem Helden des Zweiten Weltkriegs und Landes­vater, wurde in der Fünften Republik nur François Mitterrand (1981–1995) und Jacques Chirac (1995–2007) eine zweite Amtszeit zuteil. Letztere hatten jedoch einen grossen Vorteil: Im Moment der Wiederwahl gab es eine «Kohabitation», also eine Zusammen­arbeit zwischen dem Präsidenten und einem Premier­minister aus den Reihen der Opposition. Der Staatschef im Élysée konnte die Schuld an allen Missständen dem Regierungschef im Hôtel Matignon am anderen Ufer der Seine in die Schuhe schieben.

Macron hingegen trägt die volle Verantwortung für die Politik der vergangenen vier Jahre: Regierung und Parlament sind in seiner Hand. Das sind schwierige Voraussetzungen für die Wieder­wahl, zumal der Amtsinhaber mit seiner Reform­politik das Land an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht hat.

Die äusserst gewalttätigen Demonstrationen gegen den Abbau des Kündigungs­schutzes (2017), die 36 Streiktage gegen die Streichung des privilegierten arbeits­rechtlichen Status der Bähnler (2018), die monatelangen Proteste der Gelbwesten nach der Erhöhung der Benzin­steuer (2018/2019) und schliesslich die breite Bewegung gegen die Renten­reform mit einem Rekord von 43 Streiktagen (2019–2020): Kein Präsident der Fünften Republik hat den Französinnen so viel zugemutet – und sich dennoch am Schluss meist durchgesetzt.

Doch kein Präsident hat auch dermassen viel Widerspruch von der Strasse erfahren. Das liegt auch daran, dass Macron seine Reform­gegner zu demütigen pflegt. Der Präsident in seinem Palast kanzelt sie als «Faulpelze» ab und rät, sie sollten ihre Zeit lieber darauf verwenden, sich eine Arbeitsstelle zu suchen, statt zu demonstrieren und «Chaos» zu stiften.

Der Unbeliebtere verliert

Kein Wunder, hassen viele Franzosen Macron leidenschaftlich. Gelbwesten köpften schon mal eine Macron-Puppe, sie errichteten Guillotinen mit dem Spruchband «Macron, wir warten auf dich» und riefen zum Sturm auf den Élysée-Palast. Links aussen ist Monsieur «Weder links noch rechts» sowieso eine Unperson. Bereits 2017, vor Macrons Duell mit Le Pen im zweiten Wahlgang, gab der links­nationalistische Populist Jean-Luc Mélenchon keine Wahlempfehlung ab.

Die Stimmung «Alles, nur nicht Macron» und eine Linke, die im zweiten Wahlgang den Urnen fernbleibt: Könnte es Le Pen auf diese Weise gelingen, bei ihrem dritten Anlauf an die Macht zu kommen?

Das erscheint trotz allem unwahrscheinlich. Macron ist weiterhin erstaunlich beliebt. Die Popularitäts­werte des 43-Jährigen stehen bei 50 Prozent. Das ist zwar deutlich unter dem Level, das etwa eine Angela Merkel hat, aber für französische Verhältnisse ausser­gewöhnlich hoch. Ein Jahr vor der 2012 knapp verpassten Wiederwahl lag Nicolas Sarkozy bei 35 Prozent, François Hollande 2016 bei kümmerlichen 21 Prozent Zustimmung.

Üblicherweise gilt im zweiten Wahlgang: Der Unbeliebtere verliert. Das wurde zum Beispiel Nicolas Sarkozy zum Verhängnis. Man verspottete ihn als halbseidenen «Präsidenten Bling-Bling» mit Luxus­drang. Die Mehrheit der Bevölkerung, sofern sie ihn nicht regelrecht verabscheute, betrachtete Sarkozy mit seiner Rolex um das Hand­gelenk als Witzfigur. Ein Jahr vor der Wiederwahl lag die Ablehnungs­quote Sarkozys bei 68 Prozent.

Macron jedoch kann sich halten. Nicht nur, dass die Gelbwesten sein Stamm­lokal La Rotonde (das Rindstatar für 23 Euro) verschonten, während sie Sarkozys Lieblings­restaurant Fouquet’s (das Rindstatar für 34 Euro) kurz und klein schlugen. Nein, «bloss» 53 Prozent der Franzosen haben gemäss einer Umfrage einen «schlechten Eindruck» von Macron.

Kurzum: Der Präsident hat beste Chancen, von seinem rebellischen Volk im Amt bestätigt zu werden. Im zweiten Wahlgang wird Macron ein Sieg über Le Pen vorausgesagt, 54 Prozent gegen 46 Prozent. Doch Macrons Vorsprung könnte auch 4 bis 5 Prozent­punkte grösser sein: Im Unterschied zu ihren Kollegen in den USA oder in Gross­britannien überschätzen Frankreichs Meinungs­forscher die Unter­stützung für das rechts­populistische Lager regelmässig. Das zeigt sich auch bei den gestrigen Regional­wahlen, in denen Le Pens Partei landesweit bloss 19,4 Prozent der Stimmen holte im Vergleich zu 27,7 Prozent im Jahr 2015. Zwar liegt sie in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur gemäss den exit polls im ersten Wahlgang ganz knapp auf dem Spitzen­platz, schneidet aber insgesamt wesentlich schlechter ab als erwartet.

Wer ist Macron?

Wie lässt sich Macrons politischer Erfolg erklären? Ähnlich wie bei der erfolgreichsten Politikerin unserer Zeit, Angela Merkel, lässt sich auf ihn alles und jedes projizieren. «Er ist ein seltsamer Mensch. Nicht fassbar. Er lässt sich nicht dechiffrieren», vermerkt der Schrift­steller Michel Houellebecq, der als Reaktionär gelten muss. Auch der linken Philosophin Myriam Revault d’Allonnes erscheint Macron als «ungreifbar».

Die Linke beschimpft Macron als «Präsidenten der Reichen» und «neoliberalen Abbauer des Sozialstaats». Und in der Tat: Reiche, die ihr Vermögen in Aktien und Finanzmarkt­anleihen halten, profitieren übermässig von Macrons Steuer­senkungs­politik. Er ist stolz darauf, pro business zu sein, und schwächt ohne Zögern den Arbeit­nehmer­schutz. Macron singt das Hohelied der Erfolg­reichen, die das Land wie Bergführer zum Gipfel hieven sollen. Den Ehrgeizigen will Macron unter die Arme greifen, denn «wenn man beginnt, den Ersten am Seil mit Steinen zu bewerfen, dann stürzt die ganze Seilschaft ab».

Ohnehin erscheint der aus der nord­französischen Stadt Amiens stammende Aufsteiger oft wie ein abgehobener Silicon-Valley-Star – etwa wenn er mit der Ruhe des Selbst­gerechten erklärt, er sei kein Bankier- oder Politiker­sohn, sondern habe es nur durch harte Arbeit und viel Risiko­bereitschaft an die Staats­spitze geschafft.

Gute Stimmung im Élysée-Palast: Brigitte und Emmanuel Macron im präsidialen Privatbüro. Christopher Anderson/Magnum Photos/Keystone

Aber: Als Präsident hat Macron den Netto­mindestlohn und die Mindest­rente stärker angehoben als seine beiden Vorgänger zusammen. Er verabschiedete ein Gesetz, das der Steuer­fahndung erlaubt, Daten sozialer Netzwerke wie Instagram zu verwenden, um Steuer­hinter­ziehern auf die Schliche zu kommen – wenn sie beispiels­weise behaupten, nicht in Frankreich zu leben. Er verdoppelte zudem die Urlaubs­tage bei Vaterschaft.

Vor allem geht Macron in Sachen Chancen­gleichheit weiter als seine Vorgänger. Nicht nur, dass er die Elite-Verwaltungs­hochschule ENA abschafft – zu deren Absolventen er selber zählt und die zum Symbol für eine sich selbst reproduzierende Pariser Politik­elite geworden war. Er investiert auch massiv in die Bildung der breiten Bevölkerung. Die «Lehrkraft pro 100 Schüler»-Quote stieg seit Macrons Amtsantritt 2017 um 6 Prozent. Die Grösse von Schul­klassen in sozialen Brenn­punkten beschränkt er auf maximal 12 Schülerinnen.

Dazu hat er Tausende neue Lehrkräfte eingestellt und ihre Löhne um 3000 Euro jährlich angehoben. Das Schul­frühstück ist nun gratis, damit Kinder aus ärmeren Familien nicht mit leerem Magen in den Unter­richt gehen müssen. Die Schulen haben zudem betreute Haus­aufgaben­stunden eingeführt. Es soll nicht länger so sein, dass Töchter und Söhne aus bildungs­fernen Haushalten ihre Hausaufgaben schlechter oder gar nicht machen, weil ihre Eltern sie wenig unterstützen.

Macron der Wirtschaftsliberale, der Soziale – und Macron der Konservative: Der Präsident trägt auch Europas hartherzige Migrations­politik mit, die es darauf ankommen lässt, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Der Mann, der Merkel als Präsidentschafts­kandidat für ihre humanitäre Politik in der Flüchtlings­krise 2015 lobte, hat die Stellschrauben des eher liberalen französischen Ausländer­rechts angezogen und pocht vor allem auf eine unbarmherzige Umsetzung.

Den Kampf gegen den Islamismus bezeichnet Macron als eine zivilisatorische Auseinander­setzung zwischen dem Europa der Aufklärung und dem Obskurantismus. Er hat verfügt, dass künftig nur noch in Frankreich ausgebildete Imame in französischen Moscheen predigen dürfen. Zur Debatte um die Denkmale historischer Figuren, die in den Sklaven­handel involviert waren, befindet Macron «klipp und klar», die Republik werde keine Statuen vom Sockel stossen. Der erste Rechtsakt schliesslich, den die neue Macron-Mehrheit 2017 im Parlament verabschiedete, war ein Terrorismus­gesetz, das viele einschränkende Bestimmungen aus dem Notstands­gesetz in die permanente Rechts­ordnung übernahm.

Trotzdem taugt Macron nicht als «abendländischer» Politiker. Gottes­diensten bleibt er grundsätzlich fern, nicht nur weil er, wie er öffentlich bekennt, Präsident einer laizistischen Republik sein will. An den öffentlichen Schulen wird der Arabisch­unterricht ausgebaut mit dem Ziel, dass Frankreichs Muslime den Koran selber lesen können.

Macron anerkennt, dass man als weisser Mann privilegiert ist, und sagt der «Menstruations­armut» den Kampf an. Er lässt in Schulen und bei lokalen Tafeln für Bedürftige Automaten mit kosten­freien Hygiene­artikeln aufstellen. Er lädt eine Gruppe schwarzer Tänzer aus der LGBTQI-Community für eine Performance in den Élysée-Palast. Neben der lasziv in Netzshirts gekleideten Truppe lässt der Präsident sich knabenhaft grinsend ablichten.

Auch ein «Krieger» ist Macron nicht. Den Militär­einsatz in Mali zur Stützung der Regierung gegen islamistische Milizen, den Hollande 2013 lancierte, beendet Macron 2021. Man müsse die Lehren aus dem Einsatz ziehen, der zu Frankreichs Afghanistan zu werden drohte. Frankreichs 5000 Soldatinnen könnten dort nicht die politische Stabilität garantieren.

Überhaupt ist er der erste Präsident der Fünften Republik, der keinen neuen Truppen­einsatz im Ausland genehmigt hat. Als der Generalstabs­chef gegen Kürzungen des Militär­etats öffentlich protestierte, zwang ihn Macron zum Rücktritt und betonte in einer Rede vor Offiziers­anwärtern unmiss­verständlich: «Ich bin euer Chef.»

Wie de Gaulle und Mitterrand hat Macron ein autoritäres Verständnis der Macht­ausübung. Er will sich durchsetzen, ob nun gegen den deep state, wie er den Beamten­apparat nennt, oder gegen die Strasse.

Doch darüber hinaus sind sich Frankreichs Kommentatorinnen bis heute im Unklaren, wen sich die Franzosen 2017 da eigentlich angelacht haben. Ist er ein Sozial­demokrat, ein Neoliberaler, ein Progressiver oder ein Reaktionärer? Oder ein bisschen alles? Mit seiner anhaltenden Unkategorier­barkeit entspricht Macron Frankreich.

Von den Bürgerinnen des Landes, das die politischen Begriffe «links» und «rechts» erfand – in der verfassungs­gebenden National­versammlung von 1789 sassen die republikanisch-revolutionären Kräfte links und die zurück­haltenden Anhänger einer konstitutionellen Monarchie rechts –, glauben inzwischen 64 Prozent, diese Einteilung sei überholt. Gerade mal 8 Prozent betrachten das Links-rechts-Schema überhaupt noch als massgeblich.

Grenze zu rechts aussen verschwimmt

Doch so gross Macrons Erfolg ist, so hoch bleibt dennoch das Risiko – aus drei Gründen.

Erstens hatten Aussenseiter bislang nur dann eine Chance, an die Macht zu kommen, wenn der Amtsinhaber nochmals antrat. Bewirbt sich der Präsident für eine neue Amtszeit, ist bei der Wieder­wahl sein Ergebnis fast immer schlechter als bei der Erstwahl. Viele sind von seiner einsamen Macht­ausübung enttäuscht worden, Wechsel­stimmung hat sich breitgemacht.

Die Sozialisten François Mitterrand und François Hollande schafften es nur dank diesem Bonus gegen unpopulär gewordene Mitte-rechts-Amtsinhaber ins Élysée. Würde Macron verzichten, wäre Le Pen gegen einen neuen Heraus­forderer aus dem Mitte-rechts-Lager, womöglich den sehr beliebten Ex-Premier­minister Édouard Philippe, mit Sicherheit chancenlos. Macron hingegen bringt den Malus des Bisherigen mit, auch wenn seine guten Umfrage­werte diese Gefahr verdecken.

Zweitens hat Macron mit seinem Rechtskurs in der Sicherheits- und Migrations­politik zwar erfolgreich die konservative Partei Les Républicains in die Enge getrieben, damit aber auch Le Pens Narrativ des durch Kriminalität und Identitätsverlust bedrohten Frankreichs befördert. Er setzt gezielt auf mehr Repression im Kampf gegen Kriminelle und stockt die Polizei um 10’000 Stellen auf. Mehr «Polizeiblau» auf der Strasse beruhige die Bevölkerung, so Macron.

Der Präsident hält auch an seinem Innen­minister Gérald Darmanin fest, der in einer TV-Debatte den Islam pauschal als «Problem» bezeichnet hatte. Darmanin geisselt auch die «Verwilderung» gewisser Gegenden, was ihm von links den Vorwurf eines kolonialen Sprach­gebrauchs einbringt. Die neue Identitäts­politik amerikanischer Prägung bezeichnet Macron selber rundweg als «Gefahr für die Republik». Das Problem mit diesem rechten Diskurs? All das sagt auch Le Pen. Die Grenze zwischen Macron und rechts aussen droht zu verschwimmen.

Drittens könnte es zum Bumerang werden, dass Macron den Kampf um das Narrativ über die EU-Mitgliedschaft gewonnen hat. Im Wahlkampf 2017 lautete Le Pens Kern­forderung: Frexit. Ohne einen Austritt aus der EU liessen sich 70 Prozent ihres Programms nicht umsetzen, erklärte Le Pen.

Doch im zweiten Wahlgang holte sie damit nur ein Drittel der Stimmen. Die Französinnen mögen eine ambivalente Beziehung zum Staaten­bund haben, austreten wollen sie keinesfalls. Auch Boris Johnsons Brexit macht nicht gerade Lust auf mehr. Unter Macron schafft es Paris zudem, Berlin Zugeständnisse abzuringen. So etwa die Verankerung des Prinzips «Gleiche Arbeit, gleicher Ort, gleicher Lohn», um Lohndumping zu verhindern. Oder den Corona-Fonds von 750 Milliarden Euro, mit dem die Europäer gemeinsam Schulden aufnehmen und teils auch die Kosten der Pandemie gemeinsam tragen. Erstmals seit 2009 wettet niemand mehr auf den Kollaps der Einheitswährung.

Und so hat Le Pen wie ihre rechts­extremen italienischen Freunde Matteo Salvini und Giorgia Meloni in der Europafrage eine totale Kehrtwende vollzogen. Den EU-Austritt hat sie aus dem Programm gestrichen. Sowohl die Personen­freizügigkeit als auch das Schengen-Abkommen unterstützt die Nationalistin nun. Sie will auch nicht mehr aus der Europäischen Menschenrechts­konvention austreten und erklärt die Begleichung der französischen Staats­schulden bei der Europäischen Zentral­bank zur «moralischen Pflicht». Früher forderte sie deren Annullierung. Die harten EU-Gegnerinnen haben aus Protest die Partei verlassen.

Le Pen will die Macht und drängt deshalb ins Zentrum, koste es, was es wolle. Sie weiss, dass 2022 das Jahr ist, in dem sich ihr eine reale, wenn auch kleine Chance zum Wahlgewinn eröffnet. Fünf Jahre später nämlich werden die Karten neu gemischt werden, da Macron nach einer zweiten Amtszeit abtreten muss. Dann tritt vielleicht ein Grüner auf den Plan, falls die linken Kräfte zusammen­finden. Oder eine Mitte-rechts-Politikerin schnellt empor, die wie Sarkozy 2007 oder Macron 2017 für einen Neuanfang steht und Hoffnungen weckt.

Die Linke ist abgetaucht

Sollte Le Pen überhaupt eine Chance haben, liegt das an einer weiteren Entwicklung, für die Macron ausnahms­weise keine Verantwortung trägt: Frankreichs politische Linke ist wieder einmal daran, sich ins Abseits zu dribbeln.

Zu allen entscheidenden Themen – Europa, Atomausstieg, Identitäts­politik – ist das linke Lager hoffnungslos zerstritten. Um eine linke Alternative zu Macron in den zweiten Wahlgang zu bringen, wollen Grüne und Sozial­demokratinnen zwar eine gemeinsame Kandidatin. Doch Links­aussen Jean-Luc Mélenchon will nicht mitmachen.

Stattdessen verunglimpft Mélenchon seine linken Konkurrenten und überrascht mit abstrusen Äusserungen: Man werde sehen, in der letzten Woche vor der Präsidentschafts­wahl werde es einen Terror­anschlag geben, damit die Islamisten beschuldigt werden könnten. Durch solche und andere Verschwörungs­erzählungen hat sich Mélenchon, der im Jahr 2017 mit 19,6 Prozent ein Glanzresultat erzielte, inzwischen weitgehend unwählbar gemacht. In den Umfragen dümpelt er seit längerem bei 10 Prozent.

Hinzu kommt, dass das Wähler­potenzial der linken Parteien von Wahl zu Wahl schwindet. Frankreich driftet nach rechts. Das zeigt sich auch daran, dass Mélenchon gemäss Umfragen in einem Duell um die Präsidentschaft mit Le Pen haushoch verlieren und bloss 40 Prozent der Stimmen erhalten würde. Selbst die Pariser Bürger­meisterin und Sozial­demokratin Anne Hidalgo (50 Prozent) oder der Kandidat der Grünen (47 Prozent) müssten gegen Le Pen um ihre Wahl bangen.

Geschieht kein Wunder, werden sich die linken Kräfte im ersten Wahlgang somit wieder selbst eliminieren. Das bedeutet, die linken Wähler werden es in der Hand haben, den zweiten Wahlgang zu entscheiden.

Wäre kein schlechtes Symbolbild, wenn Macron die Wahl verlöre. Aber so weit ist es noch lange nicht. Christopher Anderson/Magnum Photos/Keystone

Klar trennen Macron und Le Pen immer noch Welten. Macron will weder die automatische Ausweisung krimineller Ausländer noch ein Verbot des Baus von Minaretten, was die Schweiz praktiziert und Le Pen fordert. Macron will ein «souveränes Europa», das sich gegenüber Peking und Washington behaupten kann und in der Industrie- und Sozialpolitik enger zusammen­arbeitet. Le Pen dagegen will über Europa gar nicht mehr reden.

Aber jedes Mal, wenn Macron nach rechts blinkt, lässt er die Tochter des antisemitischen Partei­gründers Jean-Marie Le Pen etwas weniger gefährlich erscheinen. Und schafft es Marine Le Pen, Europa als Kampagnen­thema zu neutralisieren, fehlt Macron genau das Kernanliegen, auf das er setzt, um die Mitte-links-Wählerinnen zu mobilisieren.

Vor diesem Hintergrund unterstellen einige Linke, dass eine Präsidentin Le Pen zwar ein paar Ausländer mehr abschieben und die sozialen Spannungen anheizen, aber wenigstens Tabula rasa machen würde. Hier liegt die grosse Gefahr: dass sich die Linke aus Frustration auf gefährliche Experimente einlassen will. Sie würde missachten, mit welcher Macht­fülle das Amt des Präsidenten ausgestattet ist. Es gibt kaum Institutionen, die sich dem Élysée in den Weg stellen können. Der Staats­präsident ist Ober­befehls­haber der Streitkräfte und kontrolliert die Inlands- und Auslands­geheim­dienste. Er hat bei der Berufung der Chefs des öffentlichen Funks und Fernsehens ein Wort mitzureden und ernennt sogar die Museums- und Opern­direktoren. Frankreich könnte sehr schnell Ungarn oder Polen gleichen.

Auch wenn sich Le Pen neuerdings handzahm gibt – sie bleibt eine Antidemokratin. Im April 2021 drohte eine Gruppe von zwanzig Generälen im Ruhestand in einem Brand­brief unverhohlen mit einem Putsch, da Präsident Macron nicht entschieden genug gegen den «Islamismus und die Horden der Banlieue» vorgehe. Wenig fehle, und die Militärs sähen sich gezwungen einzugreifen. Der offene Brief erschien am sechzigsten Jahrestag des gescheiterten Putsches gegen Charles de Gaulle, der im letzten Augenblick Algeriens Unabhängigkeit verhindern sollte. Le Pen aber verurteilte den anti­demokratischen Appell nicht; vielmehr verkündete sie, die Analyse der Ex-Generäle zu teilen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Macron den Sieg davontragen. Doch wie in allem, was Macron tut, geht dieser Vabanque­spieler ein bewusstes Risiko ein. Bislang hat er immer die Kurve gekriegt. Er hat die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben: als der erste Präsident, der zehn Jahre mit eigener Mehrheit im Parlament durchregiert und das Land und den Kontinent nachhaltig verändert. Oder er verkommt zum welt­historischen Verlierer, zum Steigbügel­halter von Marine Le Pen. Bald heisst es: Les jeux sont faits.

Zum Autor

Joseph de Weck ist Historiker und Politologe. Vor zwei Wochen ist sein neues Buch «Emmanuel Macron: Der revolutionäre Präsident» erschienen. Er leitet die Europa-Abteilung eines Beratungs­unternehmens für geopolitische und makro­ökonomische Risiken. De Weck ist Kolumnist der «Internationalen Politik Quarterly» und Fellow des Foreign Policy Research Institute. Er lebt in Paris.

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