Kunstvolles Oszillieren zwischen Klischee und Subversion, zwischen Idylle und Gewalt: Kara Walker, «Fealty as Feint (a drawing exercise)», 2019. Kreide auf Papier. Kara Walker/Fredriksen Family Collection

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Kara Walker ist die wichtigste Künstlerin der Black-American-Art. Die spektakuläre Retrospektive im Kunstmuseum Basel zeigt erstmals auch eine grosse Sammlung ihrer Zeichnungen und Collagen – und trifft ins Innerste.

Von Max Glauner, 16.06.2021

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Es ist technisch perfekt auf höchstem Niveau. Hübsch anzusehen – aber nur auf den ersten Blick. Der Auftakt zu Kara Walkers Ausstellung «A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be» in Basel gibt sich betont zugänglich. Gleich rechts beim Eingang hat man sechs Scherenschnitt­collagen im Querformat als Eyecatcher an der Wand platziert. Diese Arbeiten der 51-jährigen schwarzen Künstlerin Kara Elizabeth Walker – ohne Titel, aus dem Jahr 2000 – glauben unsere Augen spielerisch dechiffrieren zu können.

Die putzigen Silhouetten in Lichtkegeln, Höhlen, Tür­durchgängen mit Hütchen, Röckchen, Löckchen erinnern an ein Kinder­märchenbuch aus dem Biedermeier. Es wirkt harmlos, verspielt, wenn ein Männchen ins Loch purzelt und ein zweites mit einem Fischgebiss in den Händen vor sich her stolziert, eine schwarze Frau im Rock sich von Baum zu Baum hangelt.

Untitled, 2016. Tinte und Gouache auf Papier. Kara Walker/Archive of the artist
Untitled, 2002–2004. Scherenschnitt. Kara Walker/Archive of the artist

Auch den Mann, der an der Tür einer Frau unter den Reifrock greift, können wir grade noch mit Konventionen der Illustration vereinbaren: offenbar doch nicht ganz jugendfrei. Wenn wir jedoch genau hinsehen und bemerken, dass der Mann mit seinem Arm durch den Körper der Frau hindurchfährt und aus deren Mund heraus mit einem eleganten, peitschenförmigen Bogen sich selber ihr Herz reicht, kippen die Darstellungen ins Verstörende.

Da ist sie schon, die Walker-Methode: ein kunstvolles Oszillieren zwischen Klischee und Subversion, zwischen Idylle und Gewalt, dem niemand sich entziehen kann.

Untitled, 2018. Aus der Serie: «The Gross Clinician. Presents: Pater Gravidam». Grafit, Tusche und Gouache auf Papier. Kara Walker/Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett

Es folgen über 600 Arbeiten auf Papier, Kunst, die einen vor den Kopf schlägt, verstörend, sinnlich, unerträglich und schön. Da gibt es zum Beispiel mit sicherem Strich gezeichnet eine schwarze Frau mit Turban, nackt im Schulterporträt, die sich versonnen in der Nase bohrt, «ohne Titel», 2002. Ein Moment der Intimität, des Voyeurismus, des Banalen?

Daneben gibt es aber auch die vielen Szenen von Leid und Gewalt. Ein Weisser sitzt zeternd auf einer Kiste: «Success and the Stench of Ingratitude», 2012. Er erwartet offensichtlich, dass eine schwarze nackte Frau ihm die Schuhe leckt. Sie erbricht sich stattdessen. Ein Blatt weiter ein Erhängter, «2008 Scroll». Ist es ein Schwarzer? Ein Weisser? Wir stellen uns unweigerlich die Frage, aber es bleibt unbestimmt. Der zynische Kommentar darüber: «True Painters Understand Tradition». Dann ein kopulierendes Paar, eine nackte Schwarze steht daneben.

So reiht sich Skizze an Skizze, Szene an Szene. Es ist ein Pandämonium der Niedertracht. Über allem hängt die Gewaltsamkeit rassistisch geprägter Wahrnehmungs­formen – und die finstere Aura einer rassistischen Realität.

Walker Superstar

Kara Walker gehört nun seit fast einem Viertel­jahrhundert in den Kreis der bedeutendsten Künstlerinnen der US-amerikanischen Szene. Als sie 2014 dem verwöhnten New Yorker Kunstpublikum in der verlassenen Domino Sugar Factory an der Williamsburg Bridge, Brooklyn, ihr «A Subtlety, or the Marvelous Sugar Baby» («Eine Köstlichkeit, oder das wunderbare Zuckerschätzchen») präsentierte, kam es aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Sie bringt die gängigen Repräsentationen und die Narrative schwarzer Kultur gehörig durcheinander: Kara Walker, im Kunstmuseum Basel. Kunstmuseum Basel/picturepark

Aus dem Dunkel der ausgeräumten Fabrikhalle erhob sich eine gewaltige schwarze Sphinx aus Styropor und Zucker. Gross, mächtig, erhaben reckte das Ungetüm den Besucherinnen üppige Brüste und Lippen entgegen. Auf dem Kopf trug sie statt einer Pharaonen­krone das stereotype Wickeltuch der buffonesken Black Mama aus dem Hollywood-Film der 1930er-Jahre. Mit dieser heftigen Inszenierung hatte sich Walker definitiv in die Hall of Fame der US-Gegenwartskunst eingeschrieben – und das einige Jahre bevor die Black-Lives-Matter-Bewegung auch den Kunst- und Museumsbetrieb in den USA zu transformieren begonnen hat.

Walker wurde 1969 in Stockton, Kalifornien, geboren und wuchs in einem behüteten Mittelklasse­milieu auf, in dem Herkunft und Hautfarbe wenig bedeuteten. Das änderte sich schockartig, als sie 13-jährig war. Sie zog mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Atlanta, Georgia, von der geschichts­vergessenen Westküste ins Kernland des US-Rassismus, nachdem ihr Vater, der schwarze Künstler Larry Walker, dort eine Professur erhalten hatte.

Zu seinem 80. Geburtstag organisierte die Tochter, längst zu Ruhm und internationaler Anerkennung gekommen, dem wenig bekannten Vater eine Ausstellung in ihrer New Yorker Galerie. Es sei ihr ein Bedürfnis, «Zusammenhänge zu verstehen, um die herum ich gelebt und gegen die ich angearbeitet habe», kommentierte sie den Side-Event gegenüber der «New York Times». Auf den ersten Blick scheinen sie wenig gemeinsam zu haben. Der Vater produziert wilde Tafelbild­collagen, die Tochter präzis definierte Figurationen. Hier der Chaotiker, dort die Destilliererin. Als Frau und schwarze Künstlerin zumal schien es Kara Walker unmöglich, in die Fussstapfen ihres Vaters zu treten.

Auflehnung gegen das Establishment

Gezeichnet hat Walker seit ihrem vierten Lebensjahr, und so entwickelte sie aus der Zeichnung früh eine ganz eigene Ausdrucksform, die zu ihrem unverwechsel­baren Markenzeichen werden sollte: grossformatige figurative Scherenschnitte, die in betont harmloser Kinderbuch­manier oft brutale, häufig sexualisierte Szenen der Repression und Unterdrückung aus der US-amerikanischen Geschichte darstellen.

Gewalt weisser Herren gegen schwarze Sklaven, von Männern gegen Frauen, aber auch Brutalität in die Gegenrichtung. Walker lässt sich nie eindeutig festlegen. Sie wäre wohl auch nie so erfolgreich gewesen, wenn sie ein glasklares Freund-Feind-Schema bedient hätte. Sie zog es vor, immer zwischen allen Fronten zu stehen.

«’merica», 2016, 2018. Grafit, Tusche und Gouache auf Papier. Kara Walker/Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett

So ist sie den einen zu weiss, zu wenig Aktivistin, eine Verräterin an der Sache des Black Movement, wie Maurice Berger in seinem Katalogbeitrag festhält. Dem weissen Establishment wiederum ist sie zu schwarz, zu denunziatorisch, zu pornografisch, zu sarkastisch. Karriere hat sie dennoch gemacht: Ihr Beharren auf künstlerischer Autonomie und ihr kompromissloser Ausdruckswille haben alle Vorbehalte überwunden. Dabei sind ihr die Beschränkungen und Ambivalenzen ihres Tuns durchaus bewusst.

Bediente sie mit ihrer «Subtlety», ihrer «Süssigkeit» nicht die von ihr kritisierte neoliberale, von weissen alten Männern in Gang gehaltene Eventmaschine? People of Colour, «nicht weisses» Publikum, waren in Brooklyn unterrepräsentiert. Das in den Himmel gereckte Hinterteil der Monumental­skulptur wurde zum tausendfach geposteten Selfie-Hintergrundmotiv.

Die alte Frage, ob mit provokanter Kunst Austreibung des Negativen respektive Bösen betrieben oder wider ihre Intention das Gegenteil bewirkt wird, fand mit Walkers Intervention erneut reichlich Futter. Dass man über sie redet, dass sie Erfolg hat und anerkannt wird, wie kaum eine Künstlerin ihrer Generation, eröffnet ihr jedenfalls neue Möglichkeiten und Räume.

So wurde ihr 2019 die Ehre zuteil, die Kathedrale der zeitgenössischen Kunst, die Londoner Tate Modern, zu bespielen. Sie baute mit «Fons Americanus», was so viel bedeutet wie «Amerikanische Wasserquelle», eine bitterböse, postkoloniale Persiflage auf das kolossale Victoria Memorial am Buckingham Palace in die berühmte Turbine Hall und schaffte es auch hier, dem kollektiven Gedächtnis jenseits des Mainstreams unbequeme und verstörende Bilder unterzujubeln.

Die gängigen Repräsentationen und die Narrative schwarzer Kultur bringt Walker gehörig durcheinander, sowohl mit ihrer brutalen Direktheit als auch mit ihrer respektlosen Ironie. Dadurch, dass sie erwartbare Zuschreibungen unterläuft, durchbricht sie billiges Pathos und ruft etwas Humanes auf, das uns alle an der Kehle packt.

Der Blick in die Werkstatt

Walkers Mission ist nur mit grosser Präzision zu erfüllen. Ihre bekannten Scherenschnitte bedürfen einer hohen handwerklichen Fertigkeit, zumal, wenn es um die monumentalen Zyklen, Panoramen und Video­animationen geht, für die sie bekannt ist. Basel hält im Museum für Gegenwart im St. Alban zwei solche Arbeiten aus der eigenen Sammlung bereit. Sie wirken so selbstverständlich und gekonnt, dass die Betrachtenden den langen Weg ihrer Findung und Fertigung leicht vergessen können.

Die Ausstellung im Basler Kunstmuseum füllt hier eine Lücke: Mit der Präsentation bisher überwiegend nicht veröffentlichter, teils grossformatiger Zeichnungen dokumentiert sie die Schwierigkeit und Dramatik dieses Findungs­prozesses. Statt überwältigt zu werden, ist die Besucherin eingeladen, sich in die Zeichnungen zu versenken und sich einzulassen auf die Abgründe von Walkers Bildwelten.

«Barack Obama as Othello ‹The Moor› With the Severed Head of Iago in a New and Revised Ending by Kara E. Walker». Kara Walker/The Joyner/Guiffrida Collection/Jason Wych

Im Gestus repräsentativer Barockmalerei porträtiert Walker 2019 etwa Barack Obama in vier grossformatigen Kreide-Pastell-Zeichnungen. In «Barack Obama as Othello ‹The Moor› With the Severed Head of Iago in a New and Revised Ending by Kara E. Walker» schält sich der 44. Präsident der Vereinigten Staaten nur schwer aus dem Schwarz des Hintergrunds, während der abgeschlagene Kopf des 45., Hautfarbe als medialer Geländevorteil, im Schoss Othellos aus dem Dunkel herausleuchtet. Oder «Barack Obama as ‹An African› With a Fat Pig», wo der Präsident als Stammeshäuptling mit Speer und Fellüberwurf auf einer erlegten Sau sitzt – eine zynische Reaktion der Künstlerin auf die rassistischen Schmähungen, denen der erste schwarze Präsident der USA ausgesetzt war.

In «I AM NOT MY NEGRO!» tritt die Künstlerin 2020 ihren Betrachterinnen dann ebenso grossformatig in schwarzer Kreide vor einem dunkelwolkigen Hintergrund entgegen, aus dem sich, schwer zu erkennen, ein weiblicher Dämon herausschält. Die provokante Widerstandsgeste – und der implizite Appell an die Betrachterinnen, sich nicht zur Sklavin der eigenen Vorurteile machen zu lassen – darf als Subtext und Handlungs­anweisung für die gesamte Ausstellung und das künstlerische Schaffen Kara Walkers gelesen werden. Darin ist sie durch und durch Aufklärerin in der abendländischen Traditionslinie von Jacques Callot und William Hogarth über Honoré Daumier, Otto Dix und Maria Lassnig bis zu Tomi Ungerer und Robert Crumb.

Zur Ausstellung von Kara Walker

«A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be»: Die Ausstellung im Kunstmuseum Basel dauert noch bis zum 26. September 2021.

«Niemand will sich Kunst anschauen, die sich eindeutig als politisch ankündigt», gibt Walker in einem Interview zu Protokoll. «Die Karikatur, der Witz, die fluide Form des Scherenschnitts, Dinge nicht ganz sichtbar zu machen, ist eine Art List, die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen.» Wir ergänzen: sie dazu zu bringen, ihr Hirn einzuschalten.

An den Stellschrauben der Repräsentationen

Dabei mutet Walker ihren Betrachterinnen einiges zu, insbesondere in den bis zu 10 Meter langen Skizzenrollen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, die in Basel in Vitrinen ausgelegt sind. Meist in Tusche und Grafit folgen tagebuchartige Figuren, Szenen, Sentenzen wie «Paint Will Not Save You», neben der eine geisterhaft getuschte Figurine sich hält, sowie die Transformation des Wortes paint (Farbe) in pain (Schmerz): «Tortures Love to Paint, the Exquisit Pain of it».

Untitled, 2016. Tusche auf Papier. Kara Walker/Archive of the artist

Schmerzen, Qualen, Torturen finden sich in Walkers Zeichnungen zuhauf. Doch wie Thomas Hirschhorns «Gräuelbilder» rufen auch sie: Aushalten! Lasst das Verdrängte hochkommen. Seht es an, statt wegzukucken, sonst blüht euch Schlimmeres, der Rückfall in die Barbarei. «Face it!», so könnte Walkers zweite Parole an den Betrachter lauten. Nur so wird sich etwas ändern. Deshalb führt die Künstlerin uns ätzende Parodien vor, verspielte, gewalttätige Appropriationen des offiziellen Bilderschatzes der Ausbeuter, Vergewaltiger und Mörder.

Walkers Werk zeigt eines deutlich: Kunst hat nichts mit Abbilden, getreuem Schildern einer gerahmten Welt zu tun. Sie dreht an den Stellschrauben der Repräsentationen und Identitäten. Sie deutet insistierend auf ihre Risse und Wunden, auf das Verdrängte und Verlogene in diesen Konstrukten. Walkers Sicht und Gegenentwurf betrifft uns im Innersten. Niemand wird die Ausstellung unberührt verlassen.

Zum Autor

Max Glauner arbeitet als freier Kultur­journalist für den «Freitag», den «Tages­spiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung», «Frieze», «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.

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