Binswanger

Die grosse Desintegration

Das Scheitern des Rahmen­abkommens wird erst allmählich spürbar werden. Unmittelbar evident wird bloss die Schweizer Handlungs­unfähigkeit.

Von Daniel Binswanger, 29.05.2021

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Wir sind ein Land ohne Plan. Das ist die Einsicht, die am Mittwoch wie ein Komet ins öffentliche Bewusstsein einschlug. Eigentlich ist es erstaunlich, dass der Schock, den der definitive Abbruch der Verhandlungen zum Rahmen­abkommen ausgelöst hat, so heftig war. Schon seit Monaten ist schliesslich klar, dass Brüssel auf Nach­verhandlungen nicht eintreten wird und dass in der Schweiz der nötige Parteien­konsens nicht gegeben ist, um den vorliegenden Vertrags­entwurf zu paraphieren.

Trotzdem hat die bundes­rätliche Presse­konferenz vom Mittwoch die Nation sehr unsanft aus dem Schlummer ihrer Selbst­gefälligkeit gerissen: Es gibt keinen Plan B, keine weiter­führende europa­politische Perspektive, keine einzige vernünftige Begründung, weshalb die Eidgenossen­schaft sich selber auf hundert jahre­langen Umwegen in diese Sack­gasse führen musste. Ausser Spesen nichts gewesen – nur eine desavouierte Landes­regierung, verschlissene Verhandlungs­führer und grosser Schaden für die Beziehungen zu Brüssel.

Warum haben die Bundesräte Schneider-Ammann und Cassis im Sommer 2018 die Gewerkschaften im Regen stehen lassen und entgegen dem Verhandlungs­mandat die roten Linien des Lohn­schutzes aufgegeben? Haben sie geglaubt, man würde die Linke schon noch ins Boot holen können, wenn man sie nur brutal genug vor vollendete Tatsachen stellt? Warum hat der Bundesrat im Dezember 2018 einen Vertrags­entwurf akzeptiert und die Verhandlungen für abgeschlossen erklärt, obwohl er ebendiesen Vertrags­entwurf dann nicht paraphieren wollte, sondern in eine innen­politische Konsultation schickte? War man sich nicht bewusst, dass einem dann für Nach­justierungen kaum mehr Spiel­raum bleiben wird?

In einem normal regierten Land wird erst innen­politisch die eigene Position ausgehandelt und dann versucht, diese aussen­politisch durch­zubringen. Der Bundesrat hingegen hat erst aussen­politische Fakten geschaffen und dann innen­politisch versucht, den passenden Konsens dazu zu zimmern. Oder besser: Er hat es nicht einmal versucht. An die Mehrheits­fähigkeit des von ihm selber verhandelten Abkommens mochte er schon gar nicht mehr glauben. Mehr Inkohärenz geht kaum. Nicht einmal die Regierung wusste, was sie eigentlich will.

In manchen Kommentaren wurde der letzte Mittwoch mit dem «schwarzen Sonntag» verglichen, der EWR-Niederlage im Jahr 1992. Das ist nicht die instruktive historische Parallele. Eher schon sollten wir uns an den 21. Mai 2000 erinnern, an den Tag, an dem die Bilateralen I inklusive flankierender Massnahmen im Anschluss an die Parlaments­debatten vom Herbst 1999 von der Stimm­bevölkerung gutgeheissen wurden.

Damals wurden die Voraussetzungen geschaffen für eine beispiel­lose Erfolgs­geschichte. Die Schweizer Wirtschaft erholte sich von der schweren Krise der Neunziger­jahre, das Wachstum entwickelte sich ausgezeichnet, und die Lohn­verteilung blieb – im Gegen­satz zum gesamten europäischen Umland – erstaunlich ausgeglichen. Jetzt wäre es darum gegangen, diese Erfolgs­geschichte zu sichern. Warum schaffen wir nicht mehr, was Ende der Neunziger noch möglich war?

Zitieren wir, um zu verstehen, was die Schweiz von 2021 von der Schweiz von 1999 trennt, einfach eines der grossen Schwer­gewichte der damaligen Politik: «Es ist wichtig, dass wir uns bei den flankierenden Massnahmen zusammen­raufen, denn nach wie vor gilt das Wort: Einigkeit macht stark» (zitiert nach der NZZ vom 31. August 1999). Das sagte damals Ernst Mühlemann, führender FDP-Politiker und gemäss seinem geläufigen Übernamen der «Schatten­aussen­minister» der Schweiz.

Man mag es heute kaum mehr glauben, aber Sie haben richtig gelesen: So redeten damals freisinnige Politiker. Wäre jemals in irgend­einer Phase der Verhandlungen über das Rahmen­abkommen von der heutigen FDP etwas Vergleichbares zu hören gewesen? Einigkeit macht stark? Wir müssen uns bei den Flankierenden zusammen­raufen? Diese Tonlage ist aus dem bürgerlichen Diskurs verschwunden.

Die SP bezieht nun schwere Prügel für ihren «gewerkschaftlichen Links­nationalismus», und gänzlich unberechtigt sind diese Tiraden nicht. Die Linke hat sehr deutlich gesagt, was sie nicht akzeptiert – eine Schwächung der flankierenden Massnahmen (FlaM) –, aber sie hat wenig dazu gesagt, wie eine europa­kompatible Gewähr­leistung des Lohn­schutzes aus ihrer Perspektive dennoch möglich sein könnte. Die gewerkschaftliche Besorgnis, die FlaM könnten durch das Rahmen­abkommen ausgehöhlt werden, ist vollkommen berechtigt und hat mit den blödsinnigen Debatten um die 8-Tage-Regel nur wenig zu tun. Allerdings trifft es natürlich auch nicht zu, dass jedes Mitsprache­recht des Europäischen Gerichts­hofes die Schweizer Lohn­struktur sofort und irreversibel zerstören würde.

Wenn die Politik den Konsens gesucht hätte und alle Sozial­partner sich hätten einigen wollen, wäre ein Kompromiss zu finden gewesen.

Rein gar nichts beizutragen zu einem solchen Kompromiss wussten jedoch die bürgerlichen Parteien. Wo war das Vermittlungs­angebot? Wo war der Versuch, sich zusammen­zuraufen? Eine löbliche Ausnahme gibt es: Der aussen­politische Thinktank Foraus hat entsprechende Konzept­papiere produziert und versucht, eine gemeinsame Position der Sozial­partner zu erarbeiten. Aber das sollte nicht eine Aufgabe sein, die man einem Nachwuchs-Thinktank überlässt. Die Mitte, die FDP und die Wirtschafts­verbände hätten diese Rolle spielen müssen. Hätten.

Warum kann die sogenannte Willens­nation einen gemeinsamen Willen nicht mehr aufbringen? Es gibt im Wesentlichen zwei Gründe: zum einen die Desintegration des Parteien­systems. Zum anderen die immer stärkere Polarisierung.

Die bürgerlichen Kräfte, die 1999 einen Kompromiss vermitteln konnten, das heisst die ehemalige CVP und die FDP, sind heute wesentlich schwächer. Die FDP muss akut um ihren zweiten Bundesrats­sitz fürchten, Die Mitte hat den ihren schon verloren, und es droht ihr eine immer noch stärkere Schrumpfung des Stimmen­anteils in den traditionellen Stamm­landen. Beide Parteien beurteilen den Wähler­verlust an die SVP als die entscheidende strategische Gefahr. Beide Parteien ziehen daraus den Schluss, dass die Sicherung der rechten Flanke die oberste Priorität hat. Anstatt mit der Linken vernünftige Lohnschutz­massnahmen auszuhandeln, zeigen sie sich deshalb unerbittlich bei der Unions­bürger­richtlinie. Anstatt das Rahmen­abkommen aus wirtschaftlichem Pragmatismus zu retten, eröffnen sie eine zweite Front, um es definitiv zum Scheitern zu bringen.

Die Desintegration des traditionellen Parteien­systems manifestiert sich auch im Aufstieg der Grün­liberalen. Sie sind die einzige Kraft, die konsequent für die Ratifizierung des Abkommens eingestanden ist, und treten mehr und mehr an die Stelle des europa­freundlichen FDP-Flügels. Aber um Brücken­bauerin zu sein, ist die GLP zu klein. Im Gegenteil: Im Wahlkampf­jahr 2019 hat die Partei voll auf Europa gesetzt und das Thema mit aller Macht zum Knüppel gemacht, mit dem auf die Linke eingeprügelt und ihr möglichst viele Wähler abspenstig gemacht werden sollten.

Einmal abgesehen davon, dass das ein grotesker strategischer Fehler war, weil 2019 ausschliesslich das Öko-Thema zog und weil das substanziellste Wachstums­reservoir der GLP nicht in der linken, sondern in der bürgerlichen Wählerschaft liegt, verunmöglicht es sich die GLP auf diese Weise auch, eine neue Koalition der Vernunft anzuführen. Entweder man macht Wahlkampf, oder man stiftet Kompromisse. Als macht­bewusste Kleinpartei hat die GLP sich für Ersteres entschieden.

Schliesslich und endlich: Die Schweiz ist heute noch einmal deutlich polarisierter als 1999. Schon damals bekämpfte die Zürcher SVP unter der Führerschaft von Christoph Blocher die Bilateralen, aber noch kontrollierte die Zürcher nicht die Schweizer SVP. Ein wackerer Partei­präsident namens Ueli Maurer tingelte unermüdlich durchs Land, um für die Bilateralen Stimmung zu machen. Heute scheint es Maurers intimster Wunsch zu sein, zum Toten­gräber seines eigenen Werks zu werden.

Der Himmel wird uns nicht auf den Kopf fallen, aber der Bilateralismus ist gefährdet und wird erodieren. Die tiefe Verstörung, die nun um sich greift, hat jedoch einen noch fundamentaleren Grund: Eine Willens­nation, die keinen gemeinsamen Willen mehr hat, verliert ihre politische Identität. Der 26. Mai 2021 dürfte deshalb in der Tat ein Tag für die Geschichts­bücher sein. Nicht nur in aussen­politischer Hinsicht.

Illustration: Alex Solman

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