«Von der Tora und auch von Gott her ist es erwünscht, dass wir uns empören. Auch über Gott empören»

Welche Vorbilder finden Frauen heute in den religiösen Schriften? Was heisst dies für das Verhältnis zu Gott? Und was bedeutet jüdischer Feminismus? Ein Interview mit der Rabbinerin und Judaistik-Professorin Elisa Klapheck.

Von Jana Avanzini (Text) und Marc Krause (Bilder), 21.05.2021

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«Man soll das Besondere in sich als das Heilige annehmen»: Elisa Klapheck in ihrer Wohnung in Frankfurt am Main.

Elisa Klapheck war Journalistin und Medien­sprecherin, bevor sie auf eine Frau traf, die ihr Leben veränderte. Heute ist sie eine von weltweit rund 1000 Rabbinerinnen und setzt sich international für den jüdischen Feminismus ein. Klapheck will einen Beitrag leisten für eine Erneuerung des jüdischen Lebens in Europa sowie für die Sichtbarkeit des Judentums und dessen Traditionen innerhalb unserer Gesellschaft.

1999 initiierte sie deshalb gemeinsam mit zwei Kolleginnen das Netzwerk «Bet Debora». Es dient als Forum jüdischer Frauen in Europa und vereint Aktivistinnen aller jüdischen Strömungen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen sowie Rabbinerinnen.

Derzeit ist sie Gastprofessorin am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern. Wir haben sie zu einem Gespräch über das Verhältnis von Glauben und Feminismus getroffen.

Frau Klapheck, Sie haben einmal gesagt, «Normalität» sei unjüdisch. Was meinen Sie damit?
Das hat mit Deutschland zu tun, wo unterschwellig verlangt wird, das Jüdische solle endlich zur Normalität gehören. Und einerseits möchte ich natürlich auch, dass Juden Teil der deutschen oder eben der Schweizer Gesellschaft sind und diese aktiv mitgestalten – also normal in ihr sind. Andererseits heisst es in der jüdischen Religion: Ihr sollt anders sein. Was aber nicht heisst: Ihr sollt euch in jedem Fall abgrenzen. Ich verstehe das so, dass man das Besondere heraus­arbeiten soll im Leben. Man soll sich nicht anpassen und kleinmachen, sondern das Besondere in sich als das Heilige annehmen.

Lässt sich diese Überlegung auch auf den jüdischen Feminismus beziehen?
Absolut. Judith Plaskow hat Anfang der Neunziger­jahre anhand dieses Punktes eine jüdisch-feministische und zugleich pluralistische Theologie formuliert. Sie übersetzte das hebräische am segulla nicht als «auserwähltes Volk», sondern als «besonderes Volk» und meinte, dass wir von der «Auserwählung» Abschied nehmen müssen. Auserwählung gehöre zu einer hierarchischen Vorstellung, in der das jüdische Volk höher­wertig als andere Völker erscheine, und ähnlich auch der Mann höherwertig gegenüber der Frau. Aus dem Feminismus heraus hat Plaskow, bevor der Begriff «Pluralismus» überhaupt bekannt war, eine Vorstellung von Judentum vorgeebnet, die das Besondere hervorhebt. Jeder Mensch ist besonders, egal ob Mann oder Frau – und jedes Volk, jede Gruppierung, jede Religion ist auf ihre Weise besonders.

In Ihrer Veranstaltung an der Universität Luzern zur «Frauen­emanzipation in der jüdischen Religions- und Kultur­geschichte» zeigen Sie auch auf, dass Frauen­emanzipation in der Tora angelegt ist. Wo sehen Sie das?
Beispielsweise an Pessach, wenn der Auszug aus der Sklaverei in die Freiheit gefeiert wird. Die Geschichte des Exodus wurde immer wieder neu auf die jeweilige Gegenwart hin interpretiert, etwa in den Siebziger­jahren mit Blick auf die Bürgerrechts­bewegung. Damals wurden viele traditionelle Texte des Judentums mit aktuellen politischen und mit feministischen Frage­stellungen verbunden. Die rabbinische Exegese der Tora erlaubt diese Möglichkeit. Unmittelbar nachdem in der Tora der Pharao und seine Soldaten im Meer untergegangen sind, tanzt die Prophetin Mirjam zusammen mit den Frauen einen ekstatischen Tanz in der Wüste, der sich auch auf die Befreiung der Frauen beziehen lässt. Auch die Frauen, so sagt der Talmud, waren an dem Wunder, das Wirklichkeit wurde, beteiligt. Von den talmudischen Rabbinern wird Mirjam als eine von mehreren Prophetinnen gewürdigt. Ich persönlich mag vor allem die Geschichte der fünf Töchter Zelophechads im 4. Buch Mose. Diese fünf jungen Frauen erstreiten von Gott das Recht, dass auch Frauen Land erben können. Damit zeigt sich, dass Gott in der Tora seine Gesetze durchaus ändern kann. Man muss einfach eigene Vorschläge einbringen.

Diese Beziehung zu Gott scheint sehr unverkrampft.
Das Wort «Israel» heisst: Er kämpft mit Gott. Es ist also nicht eine Beziehung der Unterwerfung, sondern eher eine Beziehung des Miteinander-Ringens. Gott lässt mit sich verhandeln. Er lernt dazu. Das ist für mich ein wichtiger Teil gelebter Religiosität – eine Gott-Mensch-Beziehung, in der sich auch Gott vom Menschen beeindrucken lässt.

Für eine Modernisierung der Religion oder für einen religiösen Feminismus scheint das ein grosser Vorteil gegenüber der Vorstellung eines unfehlbaren Gottes zu sein?
Nicht nur. Denn das Verhandeln mit Gott ist nicht nur eine Möglichkeit, nicht nur etwas Erlaubtes. Es ist auch eine Pflicht. Das heisst auch eine Pflicht für die Frau, für sich einzustehen und Ansprüche zu stellen, wo Ungerechtigkeit ihr gegenüber besteht. Und wenn sie es nicht tut, ist sie selbst schuld.

«Wo bist du?» heisst das Bild von Marion Kahnemann …
… und «Debora» heisst die stilisierte Figur von Rachel Kohn.

Wo sehen Sie denn die Baustellen bei der Gleich­stellung der Frau in der jüdischen Gemeinschaft?
Im liberalen Judentum herrscht zwar formelle Gleich­berechtigung, gleichwohl sieht man in Gemeinden immer noch die Situation, dass die Frauen eher die Arbeit machen und die Männer eher repräsentative Funktionen anstreben. Auch gibt es immer noch zu wenig Rabbinerinnen. Allerdings kann sich das ändern. In den USA gibt es inzwischen mehr Studentinnen als Studenten an liberalen Rabbiner­seminaren. Manche sehen darin ein Zeichen für eine Entwertung des Rabbinates, indem es sich zu einem Frauen­beruf wandeln würde. Dem muss entgegen­gesteuert werden. Das extreme Gegenteil hierzu sehen wir wiederum im Staat Israel, wo das orthodoxe Ober­rabbinat die Definitions­macht über das Judentum hat und das Personenstands­recht bestimmt. Dort kann sich ein Ehemann weigern, seiner Frau einen Get, einen Scheide­brief, auszustellen, den sie braucht, um wieder heiraten zu können. Das ist höchst problematisch. An der Kotel, der Klage­mauer in Jerusalem, erleben wir derzeit so etwas wie einen Kultur­kampf. Mehr und mehr wurde dieser offene Platz in den vergangenen Jahr­zehnten zur ultraorthodoxen Synagoge. Frauen dürfen sich nur noch in einem kleinen Bereich aufhalten, sollen sich dort zurück­haltend verhalten und nicht laut singen.

Halten sie sich daran?
In den letzten Jahren gehen regelmässig die «Neschot Hakotel» dorthin, die «Frauen der Mauer», ein Bündnis von selbst­bewussten jüdischen Frauen aller religiösen Richtungen, und feiern eigene Gottes­dienste. Das erzeugt mitunter lauten und sogar gewalt­tätigen Protest auf der Männer­seite. Die Frauen tragen auch den Tallit, den Gebets­schal, mit dem sie äusserlich ihre Gleich­berechtigung zeigen, was übrigens von der Halacha, also den jüdischen Religions­gesetzen her, nicht verboten ist. Schon der Talmud erlaubt, dass Frauen einen Tallit tragen und aus der Tora vorlesen. Es setzen sich auch viele moderne jüdische Männer dafür ein, egalitär mit den Frauen Gottes­dienste zu feiern. Es ist nicht nur ein Kampf für religiöse Gleich­berechtigung, sondern auch ein politischer für die allgemeine Religions­freiheit in Israel.

Sie sagen: Die religiöse Sozialisation von Juden in Deutschland sei seit der Shoah orthodoxer geworden. Weshalb ist das so?
Das klingt, als wäre sie orthodox gewesen und noch etwas orthodoxer geworden. Das trifft es nicht. Das Judentum in Deutschland war vor der Shoah mehrheitlich liberal. Das bedeutet, dass die Halacha im Alltag zwar eine Stimme hat, aber kein Veto. Dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland nach der Shoah mit Ausnahme von Berlin einen ausschliesslich orthodoxen Ritus praktizierten, liegt daran, dass nur noch wenige deutsche Juden in Deutschland lebten und die jüdischen Gemeinden überwiegend von überlebenden Juden aus Osteuropa wiedergegründet wurden. Das liberale Judentum war in dieser Zeit passé. Es hatte sich ja als Teil der Gesellschaft verstanden – und war so schrecklich betrogen worden. Seine Vorstellungen wurden für eine Illusion gehalten.

Was hat das mit der Frauen­bewegung innerhalb des Judentums gemacht?
Die Emanzipation der Frau war sehr lange kein Thema mehr. Dass es in den Dreissiger­jahren in Berlin die erste Rabbinerin Regina Jonas gegeben hat, wurde verschwiegen und dann vergessen. Erst in den Siebziger­jahren wurde in den USA der Faden der jüdischen Frauen­emanzipation wieder aufgegriffen. In Deutschland wurde die jüdische Frauen­bewegung von vor der Shoah erst in den Neunziger­jahren wieder­entdeckt. Von einer neuen Generation, zu der auch ich gehöre, die wieder am liberalen Judentum anknüpfte.

Sie erwähnen Regina Jonas. Sie war die erste Rabbinerin und wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sie haben sich in Ihren Arbeiten intensiv mit ihr beschäftigt. Wie wichtig war sie für Ihren Weg?
Die Bedeutung von Regina Jonas ist so überwältigend, dass sie sich gar nicht ermessen lässt. Sie wurde für mich und andere Frauen, die Rabbinerin geworden sind, auf viele Weisen zum Vorbild. Wie sie ihren Weg ohne Vorbild und gegen viele Widerstände gegangen ist, bleibt für alle nachfolgenden Rabbinerinnen eine Inspiration. Auch die Frage, die sie in ihrer Abschluss­arbeit stellte – «Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?» –, ist für mich nicht nur eine «halachische», also religions­gesetzliche Arbeit, nicht nur ein Prüfen von Quellen und eine Begründung, dass Frauen gleichberechtigt sein können.

Sondern?
Es ist die Frage, die sich an jede jüdische Frau stellt: Kannst du das? Eine Aufforderung, sich selbst zu befragen. Gerade heute, da es zu wenige Menschen gibt, die sich ernsthaft mit religiösen Themen beschäftigen, ohne in alte Klischee­vorstellungen von Religion zu fallen, ist diese Frage eine ganz dringende.

Wie kamen Sie selbst dazu, zu sagen: Ich kann das?
Ich hatte schon in der Zeit meines Politologie­studiums den Drang, die Tora für mich zu erschliessen. Während meiner «ersten Karriere» als Journalistin habe ich mich mit der Tora und dem Talmud mehr als Hobby beschäftigt. Freunde sagten mir jedoch, wie interessant meine Lesart der Tora für sie sei, wenn ich zum Beispiel über Politik in der Tora oder über Felder der Gleich­berechtigung der Frau im rabbinischen Schrifttum sprach. Eine Freundin sagte mir damals: «Wenn du darüber redest, strahlst du eine ganz eigene Überzeugungs­kraft aus.» In den Neunziger­jahren, als das liberale Judentum in Deutschland wieder entstand, habe ich mich entschieden, davon Teil zu sein. Der letzte Push jedoch kam von aussen.

Inwiefern?
Es war die Dekanin eines amerikanischen Rabbiner­seminars, die gerade in Berlin war. Sie schlug mir vor, ich solle doch mal einen Event des Seminars besuchen, um zu sehen, ob das etwas für mich ist. Damals zweifelte ich noch, ob ich religiös genug bin. Tatsächlich hatte sie mich aber bereits als Kandidatin aufgenommen. Ich selbst wäre wohl zu zögerlich gewesen. Man muss die eigenen Fürsprecherinnen und Fürsprecher erkennen. Das sind die Engel, die «göttlichen Boten». Man soll sie nicht abweisen, denn sie zeigen einem plötzlich die eigene Bestimmung auf. Für mich gab es in dem Moment kein Zurück mehr. Ich wusste, ich würde im Verlauf der Ausbildung heraus­finden, ob ich religiös genug bin und ob ich die Kraft für die Fortsetzung meines Lebens als Rabbinerin habe. Das kann man vorher nicht wissen. Ausser Regina Jonas hatte ich keine Vorbilder, wohl aber einige jüdisch-feministische Mitstreiterinnen, die mir viel Bestätigung gaben.

Als Rabbinerin und jüdische Feministin werden Sie gerne als «moderne Jüdin» bezeichnet. Wie stehen Sie zu diesem Label?
Positiv. Ich möchte in keiner anderen Gesellschaft leben als in einem modernen demokratischen Rechts­staat. Die Aufklärung, wissenschaftliche Erkenntnisse, der universelle Charakter der Menschen­rechte sind für mich unhintergehbare Massstäbe. Ich habe keine Angst vor bibel­kritischer Geschichts­forschung und archäologischen Befunden, die die biblischen Darstellungen modifizieren könnten. In ihrem Licht erscheinen die Botschaften der biblischen Autoren nur noch grossartiger. Deshalb bin ich auch dafür, das Politische in der Religion neu zu erschliessen – dafür, dass die Religion anteilig im Politischen mitgedacht wird, um die Demokratie von der Religion her zu unterstützen. Ich sehe das als eine Gegenbewegung zu theokratischen und fundamentalistischen Vorstellungen von Religion. Die Trennung von Staat und Kirche ist notwendig. Aber die geistige Schnitt­menge etwa bei den Vorstellungen von Freiheit, wie sie vonseiten religiöser sowie politischer Anschauungen begründet werden, die gilt es verstärkt bewusst zu machen.

«Das Judentum in Deutschland war vor der Shoah mehrheitlich liberal.»

Gibt es trotzdem Aussagen in der Tora, die Sie nicht mit Ihren Vorstellungen zusammen­bringen können? Oder ist alles nur eine Frage der Auslegung?
Die Bibel enthält viele fürchterliche Geschichten, bei denen auch das göttliche Verhalten inakzeptabel ist. Die Rolle von Moses ist bisweilen schrecklich, wenn er zum Beispiel ein Massaker anordnet, in welchem auch Kinder und Frauen umgebracht werden sollen. Man muss die Tora an diesen Stellen kritisch lesen. Ich meine, dass es von der Tora und auch von Gott her erwünscht ist, dass wir uns empören. Auch über Gott empören. Ich lese die Tora nicht so, dass wir alles darin gut finden müssen. Auch nicht in Bezug auf Gott. Wie gesagt: Wir sollen mit ihm ringen. Der Prozess mit Gott, wie er am Ende im Buch Hiob anklingt, ist ein uraltes jüdisches Thema. Und heute ist eine solche Beziehung des kritischen Dialogs mit Gott noch viel angemessener.

Viele dieser Themen werden von grossen Teilen der Bevölkerung nicht wahrgenommen, auch im feministischen Fokus. Was fehlt Ihrer Meinung nach im öffentlichen Diskurs über die jüdische Frauenbewegung?
Das Problem ist, dass das Judentum insgesamt nicht gesehen wird. Wenn ich also bedauere, dass der jüdische Feminismus nicht gesehen wird, dann muss ich zuerst bedauern, dass die jüdische Tradition insgesamt nicht gesehen wird. Oder nur die Klischees: das Bild von Männern mit Schläfen­locken und schwarzen Hüten. Immer noch wird das Judentum als etwas Fremdes wahrgenommen. Dass es Teil unserer Gesellschaft ist, sie massgeblich mitprägt und immer schon mitgeprägt hat, wird ausgeblendet. Zum Beispiel wurde der biblische Bundes­schluss am Sinai zwischen Gott und dem Volk Israel zur Vorlage für den Gesellschafts­vertrag im modernen Denken. Er war übrigens auch die Inspiration für den Bund der Eidgenossen­schaft – und vieler anderer Bündnisse, etwa in der amerikanischen Revolution. Für mich stellt sich heute durchaus die Frage, ob die Europäische Union ebenfalls die Dimension eines religiös motivierten Bundes­schlusses enthält.

Noch mal zum Feminismus: Was unterscheidet den jüdischen Feminismus vom christlichen?
Im Judentum beziehen wir uns auf das Alte Testament, den Tanach, sowie auf das rabbinische Schrifttum, vor allem den Talmud und die Traditionen, die daraus hervor­gegangen sind. Die christliche Auffassung von Vater und Sohn, von der heiligen Familie, sind keine Bilder, mit denen ich als Feministin in meiner Religion ringen muss. In der Tora wird Gott keinmal als Vater beschrieben und so gut wie nie als König. Das Bild des patriarchalischen Gottes ist vom Alten Testament nicht unbedingt vorgegeben. Im klassischen Patriarchat ist die Frau dem Mann zugeordnet und ist der Sohn der Nachfolger des Vaters. Im Christentum ist es fast unmöglich, von der göttlichen Vater-Sohn-Beziehung als Grundlage von allem wegzukommen. Damit haben die christlichen Feministinnen zu ringen. Das ist aus meiner Sicht nur dann ergiebig, wenn man Maria stärkt. Wenn man sie als die irdisch-physische Playerin in der göttlichen Konstruktion stark macht und sie als Sinnbild der konkreten Kirche und politischen Gemeinschaft wahrnimmt. Das gibt die christliche Theologie durchaus her. Aber es steht mir nicht zu, für die christlichen Feministinnen zu sprechen.

Wie ist es in der jüdischen Tradition?
Dort ist es wiederum wichtig, die eigenen emanzipatorischen Inspirationen hervorzuheben. Zum Beispiel würde ich zur christlichen Maria in den Evangelien und zur Maryam im Koran gern die hebräische Mirjam gesellen. Nicht nur als Namens­geberin, sondern als Vorbild, da sie die konkrete Befreiung von der Unterdrückung gefeiert hat und im Talmud zusammen mit sechs anderen biblischen Prophetinnen gleichwertig neben den männlichen Propheten Israels genannt wird.

Sie setzen bei den Frauen­figuren in der Tora an, christliche Feministinnen bei Maria. Wo setze ich denn für den atheistischen Feminismus an?
Das kann ich wahrscheinlich nicht beantworten. Ich glaube nicht an den Atheismus, denn ich bin ja religiös. (lacht) Gleichwohl sehe ich in Olympe de Gouges, die in der Französischen Revolution die Frauen­rechte forderte, bis hin zu den heutigen Anführerinnen der Demokratie­bewegung in Belarus das Kaliber biblischer Prophetinnen, auch wenn diese Frauen nicht religiös argumentieren. Wo haben sie ihre Überzeugungs­kraft her? Ich glaube nicht, dass ethische Vorstellungen hier allein zur Erklärung ausreichen. Es geht um eine viel tiefer in den Persönlich­keiten dieser Frauen gelegene Kraft. Versuchen Sie diese ganz ohne Gott, ohne religiöse Vorbilder zu formulieren, dann haben Sie wahrscheinlich bereits die wichtigsten Komponenten für einen atheistischen Feminismus.

Zur Autorin

Jana Avanzini ist freie Journalistin, Texterin und Theatermacherin.

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