Wann kommt die Erlösung? Thuso Mbedu als Sklavin Cora in «The Underground Railroad». Kyle Kaplan/Amazon Studios

Unter Qualen

Eine schwarze Frau gegen die Südstaaten: «Moonlight»-Regisseur Barry Jenkins hat den Roman «The Underground Railroad» in zehn zutiefst verstörenden Episoden verfilmt. Warum Sie sich das antun sollten.

Von Theresa Hein, 19.05.2021

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Ein Schritt ins Wasser, noch ein Schritt und noch ein Schritt, und bald sieht man nur noch Coras Gesicht bis zum Hals. Wenig später noch den schwarzen Schopf, und dann entfernt sich die Kamera, und alles ist grüngraue Fläche.

Cora, die junge schwarze Protagonistin in «The Underground Railroad», stirbt natürlich nicht in dieser Szene, aber als Zuschauerin denkt man sich spätestens hier: Verdammt. Denn man ist nach ein paar Folgen schon so weit, dass man Cora, gespielt von Thuso Mbedu, die Erlösung wünscht. Und damit den Tod.

In jener Szene aber kommt ein Mann Cora nach und rettet sie, wobei es sich eher um eine Anti-Rettung handelt. Denn Cora ist eine Sklavin, die von einer Baumwoll­plantage in Georgia geflohen ist, und Ridgeway, der sie aus dem Wasser schleift, der Kopfgeld­jäger, der sie zurückbringen will. Wir hassen Ridgeway also vor dem Fernseher sehr dafür, dass er Cora nicht einfach ins Wasser gehen lässt. Nach dem Suizidversuch ist der Kopfgeld­jäger sauer, dass Cora ihm schon wieder weggelaufen ist, und denkt sich kurzerhand eine Bestrafung aus, die auf der langen Liste des Psychoterrors, der in dieser Serie ausgepackt wird, ziemlich weit oben rangiert.

Wer den Roman gelesen hat, reagiert meistens zerknirscht

Colson Whitehead erschrieb sich mit «The Underground Railroad» viele Preise, darunter den Pulitzer­preis für Belletristik im Jahr 2017. Der Roman erzählt von der jungen Schwarzen Cora, die von einer Baumwoll­plantage in Georgia Mitte des 19. Jahrhunderts flieht. Unter den Sklaven hat Cora einen Aussenseiter­status inne, weil ihre Mutter sie auf der Plantage zurückliess, um selbst zu fliehen – der einzig bekannte geglückte Fluchtversuch im Umfeld der Plantage. Auf ihrer eigenen Flucht wird Cora dann noch mehr zu etwas Besonderem, weil sie dem Schicksal, auf die Farm zurückgebracht und getötet zu werden, immer wieder entgeht. (Cora fragt sich allerdings häufiger, ob das eigentlich gut ist, so etwas Besonderes zu sein. Und wer davon etwas hat, ausser sie selbst.)

Fragt man Menschen, die man kennt, ob sie «The Underground Railroad» gelesen hätten, antworten die, die das Buch gelesen haben, beinahe immer mit erschrockenem oder zerknirschtem Gesicht, sie rufen «Oh Gott, ja» oder Ähnliches, weil sie sich daran erinnern, dass es keine einfache Lektüre war. Oder sie sagen, ehrlicherweise, sie hätten es «nicht gepackt», weil es einfach «zu krass» gewesen sei.

Um noch mehr Menschen an dieser Zerknirschung teilhaben zu lassen, wurde das Buch verfilmt, in zehn Folgen einer Serie, die man sich seit dem Wochenende auf dem Streaming­dienst von Amazon, er heisst Prime, ansehen kann. Nicht irgendjemand hat es verfilmt, sondern Barry Jenkins, Regisseur des Oscar-gekrönten, sensiblen Coming-of-Age-Porträts «Moonlight» und der herausragend schönen und empathischen James-Baldwin-Verfilmung «Beale Street».

Das ist an sich schon mal beruhigend, weil Jenkins für ein eher anti­plakatives Kino steht und Whitehead durch die Roman­vorlage genügend drastische Bilder liefert, die keinerlei zusätzlicher Übertreibung mehr durch Hollywood-Ästhetik bedürfen. Trotzdem kostet die Serie Mühe (wegen des Themas, nicht wegen der Machart), und genau deswegen ist es eine gute Idee, sie anzusehen.

Vom Bedauern zum Aufbruch

Der Regisseur Barry Jenkins schreibt in einem Begleittext zur Serie, er hätte nichts übertrieben in seiner Bildsprache, er habe einfach nur die Bilder dargestellt und versucht, die schrecklichen Szenen mit weniger schlimmen auszubalancieren. Die Tatsache, dass es Sklaverei nun mal in dieser Form gegeben habe, sei, das gibt er zu, eben schwer auszuhalten.

Am Set gab es für die Mitwirkenden therapeutische Betreuung, aber die hat man dann ja doch nicht zu Hause im Wohnzimmer. Dafür gibt es Mahalia Jackson, die im Abspann der Serie das Schicksal der Unterdrückten zusammenfasst: «Coming from the north, south, east, and west / They’re on their way to a land of rest». In der berühmten Interpretation des gleichnamigen Gospels fragt sie, wie sie und ihr Körper und ihr Geist das eigentlich alles geschafft haben, «How I got over»?

«The Underground Railroad» unterscheidet sich auf den ersten Blick zwar nicht von der irren Brutalität, mit der Steve McQueen in seinem Film «12 Years a Slave» die Ausweglosigkeit für Schwarze im Amerika vor dem Sezessionskrieg, dem Amerika der Plantagen­besitzer dargestellt hat (Peitschenhiebe, Verbrennungen, Vergewaltigung, Willkür, Schmerz). Aber auf den zweiten doch sehr. Anders als McQueen gelingt es Jenkins – einerseits, weil er die Zeit dazu hat, andererseits, weil er sich auf eine andere Buchvorlage stützt –, sich vom Leid der Bedauerns­werten, Unterdrückten wegzubewegen, hin zum Ausbruch.

Und damit zum Aufbruch.

Whiteheads grundlegende Idee im Roman war, die «Underground Railroad», ein Hilfsnetzwerk, das Sklaven aus den Südstaaten dabei half, über Mittelsmänner in den Norden und in Freiheit zu gelangen, von einer allegorischen Eisenbahn in eine physische Eisenbahn zu übersetzen. Cora und ihre jeweiligen Weggefährten fahren durch ein Tunnelsystem auf Eisenbahn­schienen, mal auf einem klapprigen Waggon, mal in einem luxuriösen Abteil im Zug, von Staat zu Staat.

Ist das mehr als Voyeurismus?

Barry Jenkins nun hat mit seinem Team Eisenbahn­tunnel nachbauen lassen, fährt mit der Zuschauerin durch die Erde und dann wieder, an der Oberfläche, durch das niedergebrannte, vom Gelbfieber gebeutelte Tennessee; durch grauschwarze und leblose Steppen in einer Cormac-McCarthy-Ästhetik; oder erzählt eine Folge ganz aus Coras klaustro­phobischem Versteck auf einem Dachboden (von dem aus sie mit ansehen muss, wie Schwarze beim wöchentlichen Theaterabend umgebracht werden).

Das Licht, in Jenkins Filmen häufig eingesetzt, um im wahrsten Sinne blendende Schönheit herauszustellen, nutzt er in der Serie unbarmherzig und grell, erst gegen Ende der Geschichte, im vermeintlich sicheren Hafen, tritt es wieder wärmend in den Hintergrund. So lange aber sind Rot, Grau, Braun die bestimmenden Farben in Jenkins Bildern. Über ihnen hört man die Arrangements von Nicholas Britell, der Hitze, Staub und Sumpf vertont; sie würden einen in den Schlaf verfolgen, würde Jenkins sie nicht im Abspann der jeweiligen Folgen mit Songs von Childish Gambino oder Kendrick Lamar unterbrechen.

Warum sollte man sich das also anschauen, wenn man doch die meiste Zeit nur durch die vors Gesicht geschlagenen Finger auf den Fernseher blickt? Kann man das nicht vielleicht einfach unter «pah, Voyeurismus» verbuchen und sich sparen? Oder doch das Buch lesen, um der Dauer­anspannung zu entgehen, die Jenkins in seinen Bildern hervorruft?

Am besten wäre es, man täte beides, nur dass hier ausnahmsweise die Reihenfolge – also Buch/Serie oder Serie/Buch – egal ist. Natürlich darf man nicht vergessen, dass es sich um die Verfilmung eines Fantasy-Romans handelt, eines Romans mit historischen Elementen zwar, aber voller fantastischer Übertreibungen, wie eben der einer Untergrund-Eisenbahn mitten durch Amerika. Trotzdem macht der Gedanke daran, was alles faktisch nicht genau so passiert ist, den Gedanken, was alles genau so passiert ist, nicht weniger einprägsam.

In der Baumwolle stehen die Ahnen aufgereiht

Als Barry Jenkins, heute 41 Jahre alt, zur Schule ging, habe es keine Vergangenheits­bewältigung gegeben, schreibt er zur Serie, die Geschichte sei immer gekürzt, geschönt, angepasst worden; seiner Meinung nach mündet der mangelhafte, schweigsame Umgang der öffentlichen Institutionen der USA mit der Geschichte der Sklaverei in dem Sirenenruf: «Make America Great Again». Jenkins stellt mit seiner Serie auch deshalb die Frage: Was, wenn Amerika nie great war?

Jenkins hat, bis sich die Protestrufe nach dem Mord an George Floyd auch langfristig in einer neuen Geschichts­schreibung manifestieren, mit seiner Verfilmung von «The Underground Railroad» ein Monument des Gedenkens geschaffen. Man kann es als Analogie auf die Gegenwart lesen. Und zwar nicht nur als Analogie auf die Polizeigewalt gegen Schwarze, die die USA mit verstörender Regelmässigkeit erschüttert, sondern auch auf die Flüchtlingspolitik, ob an den Grenzen der USA zu Mexiko oder an den Grenzen Europas: Einerseits geht es in der Serie immer um die Neuen, um die, die noch kommen, um die, die es noch zu retten gilt.

Und andererseits ist einer der wesentlichen Einflüsse, die Barry Jenkins zitiert, Paul Thomas Andersons Kapitalismus­kritik «There Will Be Blood». Der Film widmet sich der Gier des Ölmagnaten Daniel Plainview, der sich, wie der Sklavenhändler Ridgeway, einen kleinen Jungen als Familienersatz an seine Seite geholt hat und der, ähnlich wie der Sklavenjäger in Jenkins’ Serie, eine Verachtung für alle hegt, denen es gelingt, zu glauben.

Whiteheads Buch musste man aufgrund des Erscheinungs­termins im Trump-Wahljahr 2016 als Deutung der Gegenwart lesen. So ist es auch mit der Serie. Leserinnen und Zuschauer gleichermassen bekommen durch die Erzählung von «The Underground Railroad» ein anderes Bewusstsein für das, worauf die Geschichte der Vereinigten Staaten fusst.

Eine alte Frau erinnert sich am Ende von Whiteheads Erzählung angesichts des Ersten Weltkrieges in Europa an ihre eigene Jugend im 19. Jahrhundert. Sie fragt sich, warum der Krieg «the Great War» genannt wird – wo doch der eigentliche «Great War» schon immer der in den USA gewesen sei, zwischen Schwarz und Weiss. Die schönen Bilder der Menschen, die Cora zurückgelassen hat und die in sonnen­beschienenen Baumwoll­feldern stehen, mit denen Jenkins seine Episoden wie mit Stillleben durchsetzt, sehen nicht zufällig aus wie Familien­aufstellungen.

Was Jenkins in der Serie der Roman­handlung hinzugefügt hat, hat er in Absprache mit dem Autor ausgewählt. Am auffälligsten ist die Fokussierung auf den Sklaven­händler Ridgeway: Im Buch wurde der Sklaven­händler zum todernsten besessenen Antagonisten; in seiner Kompromiss­losigkeit erinnerte er an Ahab in «Moby-Dick» oder Anton Chigurh in «No Country for Old Men». Jenkins gibt ihm noch ein bisschen mehr Raum, macht ihn zum verzweifelten Pseudo-Intellektuellen mit angedeutetem Vaterkomplex und Alkohol­problem, was manchmal, auch dank Joel Edgertons Spiel, sogar überraschend witzig ist; die meiste Zeit allerdings ziemlich erbärmlich.

Die Sisyphusarbeit von Cora, die sich immer weiter müht, dem Sklavenleben zu entfliehen, und nur in winzigen Schritten vorankommt, wechselt Jenkins ab mit Szenen, für die man manchmal im Roman gar keinen Atem mehr hatte: Cora, die feststellt, dass es doch noch Menschen gibt, denen man vertrauen kann, oder die sich im Spiegel betrachtet und auf einen Tanz freut. In Indiana, als Cora erstmals in Sicherheit ist, wirft Jenkins dann sogar gönnerhaft mit schwülstigen Liebes­erklärungen um sich, als wolle er sagen: «Da, nehmt, solange noch was da ist.» (Natürlich braucht sich der Zuschauer in diesen Bildern nicht lange auszuruhen.)

Am Ende erzählt die Serie «The Underground Railroad», dass der Versuch, sich der Freiheit anzunähern, lange ausreichen musste, obwohl er nie genug sein kann; dass es immer noch Tage, Wochen, Monate und Jahre dauern wird, bis irgendwann tatsächlich das «land of rest» erreicht ist, von dem Mahalia Jackson singt. In einer der letzten Szenen hält Cora einen Pferdewagen an, man kann im Gegenlicht nicht erkennen, ob der Fahrer ein Weisser ist oder ein Schwarzer. Ob er ein guter Mensch sei, fragt Cora.

Der Fahrer antwortet, er taumle manchmal. Aber meistens ja.

Zur Serie und zum Buch

Barry Jenkins (Regie): «The Underground Railroad». Fernsehserie. Mit: Thuso Mbedu, Joel Edgerton. Musik: Nicholas Britell. Streaming via Amazon Prime, ab 14. Mai.

Colson Whitehead: «Underground Railroad». Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser-Verlag, München 2017. 352 Seiten, ca. 19 Franken.

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