Wie viel Profit ist hoch genug?
Die Pharmabranche wehrt sich vehement gegen die Aufhebung des Patentschutzes für Covid-Impfstoffe. Das ist nachvollziehbar. Nur fehlen ihr die überzeugenden Argumente.
Von Daniel Binswanger, 15.05.2021
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Oops! … He did it again! Es ist, als müsste Britney Spears ihren Jahrtausendwende-Hit dringend aufdatieren und von der ersten in die dritte Person setzen. Denn schon wieder hat er das bisher Undenkbare getan. Die Rede ist natürlich von Joe Biden: Es scheint kein geheiligtes Tabu der spätkapitalistischen Weltordnung mehr zu geben, das eben mal rasch infrage zu stellen der alte neue US-Präsident nicht gewillt wäre.
Nach einem 1,9-Billionen-Covid-Unterstützungspaket, einem 2-Billionen-Infrastrukturprogramm und einem Vorstoss zur weltweiten Gewinnsteuerharmonisierung schlägt Biden nun die temporäre Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Vakzinen vor. Es ist ein radikaler Bruch mit den Gepflogenheiten der US-Aussenhandelsdiplomatie und den ehernen Grundsätzen der Welthandelsorganisation – deren heutige Funktion weitgehend in der internationalen Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Bereich des geistigen Eigentums besteht. Man kann nur staunen, was alles plötzlich zur Agenda des mächtigsten Mannes der Welt gehört.
Obwohl die Schweizer Pharmaindustrie nun verzweifelt aus allen Rohren schiesst, um sich gegen die Aussetzung des Covid-Patentschutzes zu verwahren, besteht kein Zweifel: Diese Massnahme könnte extrem hilfreich sein – ein später Gamechanger im globalen Kampf gegen die Pandemie, der Hunderttausende Leben retten könnte. Und noch etwas ist klar: Auch wenn die Patentschutzaussetzung die Gewinne des einen oder anderen Konzerns reduzieren dürfte, wird sie die Geschäftsgrundlagen der Pharmaindustrie bestimmt nicht zerstören.
Die Abwehrreaktionen, die Bidens Ankündigung provoziert hat, sind dennoch heftig. Selbst die deutsche Kanzlerin legte dezidierten Protest ein. Allerdings haben sich in letzter Zeit die Stimmen immer zahlreicher erhoben, welche die Aussetzung des Patentschutzes fordern. Selbst die Gates Foundation, deren Gründer sein unermessliches Vermögen dem Copyright auf Microsoft-Produkten verdankt und der bislang nicht nur der wichtigste private Unterstützer des Uno-Impfprogramms, sondern auch ein entschiedener Gegner jeder Patentschutzaufhebung gewesen ist, hat sich nun der Forderung von Biden angeschlossen. Angesichts der horrenden Lage in vielen Schwellenländern bekommt die möglichst rasche Ausweitung der Impfstoff-Produktionsvolumen die oberste Priorität.
Was würde die Massnahme bedeuten? Impfstoffproduzenten rund um den Globus könnten Covid-Vakzine produzieren, ohne über Lizenzen zu verfügen oder – falls diese Lösung auf WTO-Ebene verhindert würde – indem sie mit Zwangslizenzen ausgestattet würden. Es sind in den letzten Monaten zahlreiche Beispiele von Impfstoffherstellern bekannt geworden, die zur Produktion befähigt sein sollten, aber mangels Lizenzen nicht aktiv werden können.
Natürlich ist die blosse Lizenzaufhebung noch keine Garantie dafür, dass ein Vakzin von einer beliebigen Firma auch nachproduziert werden kann. Nebst der Veröffentlichung der «Rezepte» und Anleitungen zu den Herstellungsverfahren dürfte in vielen Fällen auch ein Transfer von Material notwendig sein. Aber es ist nicht der Fall, dass anspruchsvolle pharmazeutische Produktion nur an ausgesuchten Standorten in Industrieländern stattfinden kann. Das Gros der Impfstoffherstellung hat sich bekanntlich schon lange in die Schwellenländer verlagert. Bei Aufhebung des Patentschutzes könnten zudem Vakzine auch in einem Land wie zum Beispiel Japan produziert und dann in andere Weltregionen exportiert werden.
Es wäre nicht nur im eminenten Interesse der Entwicklungsländer, möglichst rasch über substanzielle Impfmengen zu verfügen. Auch die reichen Industrieländer, deren Bedarf in absehbarer Frist fürs Erste abgedeckt sein sollte, müssen alles daransetzen, das Virus rund um den ganzen Globus zurückzudrängen – bevor sich in fernen Weltregionen resistente Mutationen ausbilden und in die Industrieländer eingeschleppt werden. Gegen eine globale Pandemie hilft einzig eine globale Strategie.
Die maximale Mobilisierung zur möglichst raschen Impfstoffproduktion sollte deshalb eine völlig unbestrittene Selbstverständlichkeit sein. Erst jetzt aber, mit Bidens Vorstoss, könnte sie zur Realität werden. Auch wenn weiterhin durchaus möglich bleibt, dass eine Koalition der Unwilligen – darunter auch die Schweiz – die Biden-Initiative zum Scheitern bringt oder ihre Umsetzung noch einmal monatelang verschleppt.
Das Hauptargument der Gegner der Patentaufhebung – nebst der zweifelhaften Behauptung, nicht lizenzierte Firmen seien zur Vakzinproduktion gar nicht imstande – ist die Befürchtung, dass die Pharmaindustrie aufhören würde, in Vakzine zu investieren, wenn in einer Notlage das geistige Eigentum missachtet und damit auch die Gewinnmöglichkeiten beschnitten werden. Im Grundsatz ist dieses Argument völlig richtig: Der Motor der Wirtschaftstätigkeit sind Profite. Wenn die Gewinne beschnitten werden, sinken potenziell auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung.
Forschungs- und Entwicklungsprojekte in der Pharmaindustrie sind häufig sehr kapitalintensiv, entsprechende Investitionen haben ein hohes Ausfallrisiko, weil sich die Mehrheit der entwickelten Stoffe als Nieten erweisen. Es ist deshalb notwendig, dass mit den letztlich erfolgreichen Produkten auch angemessene Gewinne gemacht werden können. Aber wie viel Gewinn ist genug? Die Zukunft der Forschung ist nur dann gesichert, wenn private Investoren für ihre Risiken kompensiert werden. Worauf eine funktionstüchtige Pharmaindustrie jedoch absolut nicht angewiesen ist, sind surreale Megarenditen. Oder wie es die für sozialistische Anwandlungen nicht bekannte «Financial Times» ausdrückt: «Jetzt ist nicht der Moment, privatwirtschaftlichen Superprofiten die Priorität zu geben.»
Die erfolgreichsten Impfstoffproduzenten – Pfizer/Biontech und Moderna – erzielen bereits heute massive Umsätze und entsprechende Gewinne mit ihren Entwicklungen. Auch wenn nun neue Wettbewerber in den Markt eintreten, ihre Produkte kopieren und die Preise zum Sinken bringen, werden ihre Einnahmen weiterhin kräftigst sprudeln. Weil der Aufbau von Kapazitäten durch Drittanbieter Zeit in Anspruch nehmen würde, weil in den reichen Ländern weiterhin das Originalprodukt gefragt wäre und vor allem, weil die voraussichtlich nötig werdenden Booster-Impfungen einen riesigen permanenten Markt offenhalten werden, der Neuentwicklungen in hoher Kadenz nötig macht und in dem Moderna und Biontech führend bleiben dürften. Diese Firmen werden auf längere Sicht extrem hohe Gewinne machen – auch bei einer zeitweiligen Aufhebung des Patentschutzes.
Pfizer geht für seinen Impfstoff von einem Umsatz von 26 Milliarden für das Jahr 2021 aus. Die «New York Times» schätzt den entsprechenden Vorsteuergewinn auf 900 Millionen – für das erste Quartal 2021. Moderna hat bisher leicht tiefere Umsätze, ist aber ebenfalls hoch profitabel. Das Aktienpaket von Moderna-CEO Stéphane Bancel hat inzwischen einen Wert von über 5 Milliarden Dollar. Ist wirklich unverzichtbar, dass sein Privatvermögen auf dem Rücken der Pandemie in den zwei- oder dreistelligen Milliardenbereich wächst, um künftigen Pharmainvestorinnen ja nicht das Gefühl zu geben, ihr Engagement könnte nicht einträglich genug sein?
Gerade Biontech und Moderna zeigen im Übrigen auf lehrbuchartige Weise, weshalb das Argument, nur Patentschutz erhalte den Anreiz zu Forschung und Entwicklung, mehr als problematisch ist. Einer Schätzung zufolge sind allein von Februar 2020 bis Januar 2021 weltweit rund 90 Milliarden Dollar an öffentlichen Geldern in die Entwicklung von Covid-Impfstoffen geflossen. Wie in vielen innovativen Wirtschaftsfeldern sind auch im Pharmabereich die mit Abstand wichtigsten unternehmerischen Kräfte die Staaten, welche die Grundlagenforschung und Entwicklungsprojekte finanzieren. Die Kosten werden zu einem grossen Teil von der Öffentlichkeit getragen. Es gibt deshalb nicht den geringsten Grund, weshalb die Gewinne des beteiligten Privatkapitals ins Unermessliche wachsen sollten.
Im Fall von Moderna wurden nach eigener Ansage der Biotechfirma die gesamten Entwicklungskosten des Covid-Vakzins vom amerikanischen Staat finanziert. Im Vorfeld hat das Unternehmen, wiederum nach eigener Aussage, zwar rund 3 Milliarden in die Entwicklung von mRNA-Technologie gesteckt. Angesichts der bereits dieses Jahr zu erwartenden Gewinne sind diese 3 Milliarden allerdings bescheiden.
Und noch wichtiger: Die mRNA-Technologie beruht auf Grundlagenforschung, die von staatlichen Forschungseinrichtungen bereits seit den 1960er-Jahren geleistet wird. Natürlich stellt die Fortentwicklung dieser Techniken mit dem Ziel von konkreten pharmakologischen Einsatzmöglichkeiten eine eigenständige Leistung dar. Aber der Löwenanteil der Gesamtentwicklungskosten des Moderna-Impfstoffs wurde dennoch nicht durch private, sondern durch öffentliche Investitionen gedeckt. Und jetzt sollen die privaten Profite durch alle Böden geschützt werden? Zum Preis einer verheerenden Impfstoffknappheit?
Angesichts des Argumentationsnotstands kann man sich nur wundern, mit welcher Entschlossenheit die Pharmaverbände sich gegen die Patentschutzaufhebung stellen. Schliesslich soll nicht der Patentschutz generell, sondern nur der Schutz von Covid-Vakzinen aufgehoben werden, und auch dies nur temporär. Der Schweizer Branchenverband Interpharma hat sich jedoch ebenfalls sehr dezidiert geäussert, obwohl die Schweizer Konzerne von der Massnahme nur marginal betroffen wären. Was die Branchenvertreter ganz offensichtlich fürchten, sind nicht die konkreten Folgen, sondern die Signalwirkung.
Was ist, wenn die Biden-Administration ganz grundsätzlich über die Preise von Pharmaprodukten nachzudenken beginnt? Wenn sie tut, was Trump immer nur angekündigt hat: den Kampf aufzunehmen mit Big Pharma, um die im internationalen Vergleich extrem überteuerten Medikamentenpreise in den USA zu senken? Diese Entwicklung hätte für die Schweizer Pharmaindustrie dramatische Konsequenzen. Da zieht man es offensichtlich vor, die eigene Pricing-Macht präventiv für unantastbar zu erklären. Koste es, was es wolle!
Es ist offen, wie die Sache ausgeht. Aber oops … Vieles, was bis vor kurzem undenkbar erschien, rückt heute in den Bereich des Möglichen. Biden ist nicht nur für Überraschungen gut. Er ist offensichtlich ein Wiederholungstäter.
Illustration: Alex Solman