Melancholische Tristesse: Die Bilder wurden für diesen Beitrag irgendwo in Ungarn aufgenommen.

Haydn im Plattenbau

Der Komponist Joseph Haydn liebte die Überraschung und das Spiel mit langen und kurzen Bögen. Dass man damit auch in der Literatur spielen kann, zeigt der ungarische Autor Péter Nádas mit seiner Hommage an Haydn. Die eigentlich ein Requiem für den verstorbenen Freund Péter Esterházy ist.

Von Péter Nádas (Text) und Peter Puklus (Bilder), 16.04.2021

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Der folgende Essay von Péter Nádas ist im Rahmen eines monumentalen Projekts entstanden: Unter dem Schlagwort «Haydn 2032» organisiert die Stiftung Joseph Haydn in Basel die Aufführung und die Aufnahme sämtlicher 107 Sinfonien des Komponisten. Seit 2014 läuft das Projekt, zu Haydns 300. Geburts­tag im Jahr 2032 soll es abgeschlossen sein. Begleitet wird die Konzert­reihe von einem literarischen Programm, das der Schrift­steller Alain Claude Sulzer organisiert: Zu den Aufführungen schreiben zeit­genössische Literatinnen Essays, die dann jeweils vor dem Konzert verlesen und später in einer LP-Edition der Aufnahme veröffentlicht werden.

Am Samstag, 17. April, wird in Basel wieder Haydn aufgeführt, den literarischen Part bildet dabei der folgende Text. Darin schreibt Péter Nádas zwar auch über seine Beziehung zur Musik Joseph Haydns, der Hofkomponist bei der ungarischen Fürsten­familie Esterházy war. Vor allem geht es in Nádas’ ebenso persönlichem wie literarischem Essay aber um einen späten Nachkommen dieser Familie: den 2016 verstorbenen Péter Esterházy, wie Nádas ein Autor von Weltrang. Beide verband eine jahrzehnte­lange, durchaus nicht unkomplizierte Freundschaft. Denn so unterschiedlich ihre Literatur, so verschieden waren auch ihre Prägungen und ihr Naturell.

Aus dem Plattenbau am Stadtrand, wo wir wohnten, vom achten Stock oben, sah man bis in die unendliche ungarische Einöde, die Puszta, hinüber.

Nicht etwa, dass sie mit Leere gleichbedeutend ist, bei weitem nicht, die Puszta hat eine reiche Flora und Fauna. Die verbreitetste Pflanze ist die Trespe, und in den Löchern dieses uralten, abgewetzten gelben Teppichs wachsen, gezählt habe ich sie zwar nicht, aber gut und gern weitere tausend Pflanzen, die Frühlings-Adonis­röschen, das violette Kleine Knaben­kraut, die Bastard-Schwertlilie, im Buschwerk der Sumpf­farn, keine Angst, ich werde nicht alle aufzählen, auch wenn ich hier das gesamte Inventar der Puszta­botanik vor mir habe. Also, nicht einmal in der Einöde ist es öd und leer. Und wo Wasser durch die Oberfläche bricht und Quelle eines Bächleins oder einer kleinen Wasserader wird, um dann mit flachländischer Unverzagtheit in irgendeine Richtung zu rinnen, entstehen richtige Haine, Gruppierungen von Stieleichen, von Pappeln, die bei jedem Lufthauch silbrig aufblitzen, von kurzlebigen Birken, das Ganze gesäumt von einem Ensemble aus Weissdorn, Sanddorn und dem gelb blühenden Geissklee, als folgte es dem Plan eines Landschafts­architekten. Grosse Herren bauen sich an solchen lieblichen Orten ihre Sommer­schlösschen.

Nicht einmal da, wo wirklich nur das Nichts gedeiht, bleiben Leer­stellen. Das sogenannte Natürliche, das Haydn, zumindest am Anfang seiner Laufbahn, so lebhaft erfasst und verfolgt, kennt zwar die Lücke zwischen zwei Tönen, wie denn nicht, aber Leere ist auch ihm fremd. Diese wird sogleich ausgefüllt, aufgefüllt, bewohnt, organisiert. Die Pause hat eine grössere Masse als die Töne. Mit der Leere mögen sich die Malerei, die Physik herumschlagen. Haydn operiert mit der Symmetrie gegen die Stille, geht mit dem Harmonie­bedürfnis gegen die Lücke an. Das ist die grosse Lektion des Klassizismus, dieses streng Symmetrische, Zuverlässige, fast schon kasernenhaft Disziplinierte. Die Welt selbst ist ja nichts als Wiederholung und Variation. Haydn entführt uns ins leicht theatralisch, leicht ironisch aufgefasste Unendliche. Der Wind bläst Sand darauf, der auch nicht aus nichts besteht, sondern aus Silizium­kristallen. Man hört das Geriesel, die Partikel klackern gegeneinander. Mein lieber Freund Péter Esterházy hingegen brüllt in meinem wohlgepflegten, von mir selbst angelegten riesigen Garten, als ich ihn zu einem Rundgang einlade und er mit eigenen Augen sehen kann, wie schön mein auf den Hügel­abhang gepflanzter Mischwald gedeiht, er hasse die Natur.

Ich hasse die Natur.

Was soll man da sagen, dann hasse sie eben, mein Bester.

Mit Verliebten lasse ich mich nicht auf Diskussionen ein.

Er sei Teil von nichts, brüllt er zwischen die schlanken Setzlinge hinein.

Ein Schwärmer, das bist du, Péter Esterházy.

Denn dort, wo auf der ungarischen Puszta, dem einstmaligen Meeres­boden, wirklich nichts wächst, fast nichts, praktisch nichts, schlagen nach mehreren Jahr­millionen immer noch die Salzblumen des Meeres­bodens aus. Mangels Leere können sie nicht anders. Sie wissen nicht mehr, wohin mit sich selbst. So sehr nicht, dass der gequälte Boden unter ihnen nicht einmal mehr sichtbar ist, sie decken ihn in dicker Schicht, so viele sind es.

Exakt so viele, wie es kein Wasser gibt. Die vielen Salzblumen gehen den Gesetzen der Kristallisierung folgend gleichmässig ineinander über. Auf die Art spriessen bei dir die vielen barocken Satzblumen der Intelligenz, du neunmal­kluger Esterházy. Und du kannst in meinem Wäldchen noch so gegen deine Natur anbrüllen, wenn du ja doch in deiner Vergangenheit und Zukunft schwelgst.

So habe ich, falls man mich richtig versteht, in diesen ersten zehn Absätzen nebenbei vorgeführt, auf welche Art längere und kürzere Sätze rhythmisch aufeinander­folgen, auf welche Art ich mit ihnen Raum und Zeit gliedere, auf welche Art ich den Zeitstrom aufhalte, auf welche Art und wann ich etwas weiterführe, auf welche Art ich vor und zurück verweise, auf welche Art ich Symmetrie und Asymmetrie herstelle, auf welche Art meine Akzente steigen und fallen, auf welche Art die Aussage abgestumpft oder verschärft wird, also, auf welche Art man aus Wörtern und Bezügen das Thema aufbaut und woran man die Melodie der Mutter­sprache festmacht. Auf welche Art man etwas aus der Alltags­sprache höher hebt, auf welche Art man das Hoch­geschraubte, das Literarische, das Obszöne verwendet, beziehungs­weise wie man mit dem allem das nächstgrössere Struktur­element der Text­komposition herausarbeitet, den Absatz.

In einem Prosatext baut sich die Aussage aus Absätzen auf. In der Aussage muss auch enthalten sein, was nicht auf dem Papier steht. So entsteht das harmonische Gesamt von Klang, Intervall und Bedeutung.

Um die Wahrheit zu sagen, ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert.

Dort das System der Tongruppen, hier die Bedeutungs­vermehrung, die sehr schwer in einer einzigen Tonart zu halten ist. Obendrein ist nur ein Teil der in Tonarten gegliederten Bedeutungen auf der Partitur notiert. Der Rest entsteht meinem Gehör entsprechend in der Materie meines Geistes.

Womit ich nur sagen will, dass die Verwendung der Sprach­musik etwas viel Persönlicheres ist als die der grammatikalisch korrekten Aussage. Nichts gegen die Korrektheit und nichts gegen die Aussage, nur muss man das Übergewicht der stummen Poetik im Auge behalten. Das hat mir Herr Haydn tüchtig eingebläut. In seine Stunden ging ich hier im Plattenbau. Ich brauchte sie nicht einmal zu bezahlen. Dankbar bin ich auch nicht. Zuvor war ich zu Bartók gegangen, masslos viel zu Beethoven, massvoll zu Mozart, Bach kommt dann einiges später und hört nicht auf. Vorher musste ich noch lange Jahre zu Gluck, zu Wagner.

Wenn man so im Lauf der Jahre da oben im achten Stock auf einen der Häuserfabrik-Balkone hinaustrat, konnte man durchaus lustvoll auf die jenseits der Eisenbahn­schienen gelegenen näheren und ferneren Höfe des mit Einfamilien­häusern aufgefüllten Strassen­netzes hinunter­blicken. Dahinter hörte die Stadt dann wirklich auf. Es gab kahle, es gab üppigere, es gab gepflegte und peinlich verlotterte Höfe. Sie waren nicht dafür geschaffen, dass man von oben im Plattenbau in sie hineinstarrte. In den meisten Höfen stand ein ausladender Nussbaum. Diese wunderschönen Nussbäume, die im Zeichen des geborgenen Familien­lebens seit rund sechzig Jahren hier wuchsen, wurden etwas später von einer Kraft­maschine an den Stämmen gepackt und so lange geschüttelt, mitsamt ihrem dichten Laub geschüttelt, bis sie alle aus dem Boden herausgedreht waren. Die Leichen wurden auf Zügen abtransportiert. Die Einfamilien­häuser bescheidenen Ausmasses und mässiger Ansprüche wurden abgerissen. Verblüfft starrte man von oben in die leeren Kellermägen. Und doch sind es nicht die gottverfluchten Zerstörungs­experten von Städte­planern, die sagen, was ästhetisch besehen einen Wert hat, sondern ich sage es, mit Sätzen, die meinem musikalischen Musterbuch und der Musikalität meiner Mutter­sprache entspringen.

Ich füge meine Wörter so eng aneinander, dass niemand Klang und Bedeutung meiner Sätze trennen kann. Auch darüber haben Esterházy und ich einmal gesprochen, dass im Text nicht nur Satzteile und Sätze, die dastehen, eine Bedeutung haben, sondern auch die, die wir aus irgendeinem Grund gestrichen haben. Anstelle des Gestrichenen bleibt das Nichts erhalten. Was dem Text eine beispiellose Sicherheit gibt.

Wie schön bin ich herangewachsen, sagt der Pilz zu sich, wie prächtig ist mein Hut, wie reich werde ich meine Sporen ausstreuen.

Es gibt auch keine Gnade.

Keine Vergebung.

Natürlich kommt heute mein Freund zu spät.

Interessantes Phänomen, dass er in den folgenden Jahrzehnten unserer Freundschaft nie mehr zu spät kommen wird. Warum er es beim ersten Mal so gewaltig tat, hat er nie erklärt. Er erwartete von mir, dass ich mich freute, als er endlich kam. Seine reine Existenz eine frohe Botschaft, und ich freute mich tatsächlich. Viel später einmal, in Amsterdam, schon weit drinnen im Wald unserer Freundschaft, war er es, der mich bezichtigte, zu spät zu sein. Ich bin nie zu spät. Er platzte fast vor Wut, so wie er dort bleich in der Hotelhalle stand, weil ich ihn hätte warten lassen. Ihn, das Oberhaupt der Familie, den Repräsentier­schriftsteller, das Gewissen der Nation, den unvergleichlichen Grossen, diesen Esterházy, den Häuptling des Stamms, nach dem ein europaweit bekannter Rostbraten sowie eine Torte benannt sind. Seine Leser sind auch da und tragen ihm, damit er ja keinen Augenblick Hunger leidet, ausgesuchte Leckerbissen zu.

In Selbstdisziplin konnte auch er sich sehen lassen. Er schrie nicht in seiner furchtbaren Wut, er brüllte nicht, sondern beugte sich mir richtiggehend ins Gesicht und zischte schwer atmend zwischen zusammen­gepressten Lippen.

Du bist zu spät.

Zu spät, na hör mal.

Du bist zu spät.

Zu meinem Glück hing über der Rezeption eine goldbarocke Wanduhr mit grossem Sekunden­zeiger, ich zeigte darauf, schau doch selbst, mein lieber Freund, und tatsächlich, in diesem Augenblick ruckte der grosse Zeiger auf die abgemachte Zeit.

Ich stehe hier und warte und mache mir Sorgen, zischte er. Als wäre auch seine Besorgnis eine Tugend.

Aber wieso Sorgen, ich verstehe das nicht, ich bin ja rechtzeitig da.

Dass dir etwas zugestossen ist.

Was hätte mir zustossen sollen, entschuldige schon.

Ich habe sogar bei dir angerufen.

Ach, wirklich, dann warst du das.

Du bist nicht drangegangen.

Eben, um mich nicht zu verspäten. Um zur abgemachten Zeit hier zu sein. Und jetzt bin ich hier. Und was kann ich sonst noch für dich tun.

Aber was machtest du, warum bist du nicht ans verdammte Telefon.

Ich war zwanzig Sekunden zu früh da. Komm zu dir, Péter, ich bin zur abgemachten Zeit da.

Aber warum gehst du nicht ans Telefon, wenn ich dich anrufe.

Da konnte ich nur noch lachen. Woher soll ich denn wissen, dass er es ist, wenn ich nicht drangehe.

Also gut, ich kann ja ausnahms­weise sagen, warum ich nicht ans Telefon bin. Ich bin nicht ans Telefon, weil ich gerade kackte. Es kam mir gerade zum Arsch heraus, und ich wollte ihn auf dem Bidet noch anständig waschen. Höllisch anständig, wie ich bin. Um dann nicht einmal zu spät zu kommen, um zwanzig Sekunden zu früh hier zu sein.

Damit endete der Dialog über meine Verspätung ein für allemal.

Es tat mir aber doch enorm gut, dass die liebevolle Besorgnis meines Freunds gross genug war, sekunden­schnell in Hass umzuschlagen.

Jetzt aber war noch alles unversehrt. Die Häuser, die Höfe, die Nussbäume, die Zäune und unsere Freundschaft. Nichts störte in dieser Stunde die Ruhe des ins Unendliche strebenden peripheren Strassen­netzes. An jedem Strassen­rand stechen kleine Ausrufe­zeichen, turmhohe Pappeln, in den blassen Himmel. Auch die werden ausgerissen werden. Über Ödland ist der Himmel blass. Die Strassen, auf denen sich jetzt kurz vor Mittag niemand zeigt, werden von gestutzten Buchen­hecken, Buchs­sträuchern, Liguster­hecken, unordentlichen Goldrauten, tobendem Jasmin und verstaubten Flieder­sträuchern gesäumt. Es ist allerdings nicht leicht zu sagen, was Freundschaft ist. Für eine Antwort wende ich mich meistens an Aristoteles. Es verkehren auch keine Autos, die den Staub aufwirbeln würden. Auch kein Zug fährt durch, kein Geratter, kein Gepfeife auf diesem öden Bild am Stadtrand. Bis doch menschliche Rufe zu hören sind. Der Blick folgt ihnen blind. Er kann nicht anders. Ob wir es wissen oder nicht, wir arbeiten mit allen unseren Sinnen synchron. Eine junge Frau kommt auf die Terrasse eines der Häuser herausgelaufen, eine wahre Athletin, weiter über drei Stufen hinunter auf den Rasen. Unter dem Arm ein protestierendes, nacktes kleines Kind. Das dichte Laub des Nussbaums lässt sie für ein paar Augenblicke verschwinden. Als sie mit dem tobenden Kind wieder zum Vorschein kommt, wird ersichtlich, dass sie das sonnenwarme Wasser einer türkisblauen Kunststoff­wanne anpeilt. Der Kleine will nicht, beisst die Mutter in den Arm, strampelt.

Es ist schön warm, das Wässerchen.

Ertränken will sie ihn, das will sie, seine Mutter.

Das Wasser spritzt in die Höhe, als sie ihn hineinschmeisst.

Sie packt eine Kanne, ebenfalls mit sonnen­warmem Wässerchen, und übergiesst ihn.

Man hört von weitem das Protest­gekreische, es hat aber nichts Qualvolles mehr, sondern ist in höchste Wonne umgeschlagen.

Schön stillhalten, ich hab einen Schwan für dich, eine Ente für dich.

Sie schreit mit ihm zusammen, stillhalten, wir wollen auch die Härchen waschen.

An solchen Sommer­vormittagen, als die Sonne schon fast im Mittag steht, aber das Mittags­geläut noch immer nicht hereinklingt, sind die nussbaum­bestandenen Höfe leer. Es gibt aber einen kahlen Hof, ohne Strauch, Baum oder eine einzige Blume, wo ein Mann in Arbeits­kluft immer an irgendetwas werkelt, dauernd hämmert, zwischen auseinander­genommenen, ausgestreuten Maschinen­wracks, Traktoren, Benzin­kanistern, Schmiere­behältern, Fässern, Eimern, Motor­rädern, Karosserien, Hebern, Radnaben, Sauerstoff­flaschen, Keilriemen, Achsen, Seiten­wagen, Brecheisen, eingesackten Anhängern und rostigen Fahrrädern. Auf handteller­grossen Flecken gedeiht immerhin Unkraut. Rote Borsten­hirse mit ihren samtigen Ähren, Zurück­gebogener Amarant, Gemeiner Stechapfel oder die hoch aufgeschossene Esels­distel. Was immer es ist, mit seinen Stiefeln, die nicht einmal zugeschnürt sind, trampelt er alles nieder, verwüstet es, vergewaltigt es. Was er hier rausmontiert, montiert er dort rein. Anderes montiert er nicht rein, sondern trägt es von hier nach dort, wo er es vergisst. Dazwischen flucht er wahrscheinlich, ich sehe ja, wie er herumdrischt, seine Zange, seinen Hammer gegen etwas knallt. Das sind alles Personen. Mit Körpern aus Eisen. Oder dann schleppt er etwas, damit etwas anderes Platz hat, von dort herüber, und dafür muss er noch einmal etwas anderes beiseitewuchten. Eine Kette anhängen, mit dem Traktor abschleppen. So lange ich auch zuschaue, ich verstehe es nicht, verstehe nichts. Aus dem Nichts kann doch etwas werden, sagt Haydn. Mit Nichts bezeichnet er sich selbst, als er sieht, dass dieses Nichts eine grosse Zukunft vor sich hat. Der Mann ist allein, ich sehe nie jemanden zu ihm kommen. Nachmittags um fünf Uhr zwanzig kommt allerdings eine Frau, offenbar seine angetraute Gattin. Sie geht mit ihrem Einkaufs­netz ins Haus und taucht bis zum nächsten Morgen nicht mehr auf. Kostümchen, halbhohe Schuhe. Sie bringt blutige Fleisch­stücke, Blut tropft aus dem Einkaufs­netz. Sie arbeitet im Büro. Die arme Seele auf dem Schrott­friedhof hingegen kennt weder Winter noch Sommer. Der Mann arbeitet morgens, arbeitet abends, in seinen Stiefeln, seinen dreckigen Leibchen. Manchmal auch nachts, in gleissendem Lampen­licht. Die Lampe hängt an einem weiteren Irgendwas, bis Mitternacht so, schaffend und werkelnd, aber auf dem Hof verändert sich nie etwas. Entsetzt erkenne ich mich selbst in diesem Riesen­bordell. Auch ich nehme nichts mit, auch mir nimmt man nichts ab. Ich kann schreiben, was ich will, ich stehe unter Publikations­verbot, was ebenfalls streng geheim ist. Nicht einmal ich darf davon wissen. Keine einzige Zeile wird man von mir veröffentlichen. Alle meine Texte werden zurückgeschickt, zurückgegeben. Zurückgewichst von den berühmten Redakteuren. Nicht gut genug, brauchen wir nicht, schreib was anderes. Manchmal kommt man aber heimlich in mein Zimmer, um zu sehen, was ich so geschrieben habe. Notizen und Entwürfe obskuren Inhalts werden einfach mitgenommen. Und ich kann sie dann bis zum Wahnsinnig­werden suchen. Und nicht begreifen, wohin ich sie verlegt habe. Jetzt aber warte ich auf den Kollegen Graf Péter Esterházy von Fraknó und Galánta, der gemäss Gesetz römisch vier von 1947 weder seine Herkunfts­namen noch seine Titel und Würden je wieder führen darf. Er muss fiorituren­frei leben und sterben. Leibeigene hat er auch keine. Eine Frau geht allerdings bei ihnen waschen und bügeln. Er ist Mathematiker in einer Institution abenteuerlichen Namens, wo sie Luftballons schälen und Schäfchen­wolken tranchieren. Ich habe ihn einmal dort besucht, er zeigte mir, wie er in der Schublade seine Bücher schrieb. Und sich sagte, mich verarscht ihr nicht, ihr Kommunisten, an mich kommt ihr nicht ran.

Land will ich nicht wiederhaben.

Wenn jemand kommt, macht er die Schublade zu, scharfer Schnitt, schon ist er in der angewandten Mathematik versunken. Wenn die Mathematiker und die Kommunisten sein Zimmer verlassen, macht er die Schublade wieder auf.

Also, der eine Péter wartet, im achten Stock, in Eisenbeton eingeschlossen in seiner gemäss den Berechnungen der Moskauer Häuser­fabrik gebauten Wohnung, auf den acht Jahre jüngeren Péter, seinen frischgebackenen Freund. Und damit der Empfang herzlich sei und der Beton­plattenbau mit Klängen gezähmt werde, hat er Haydns 45. Sinfonie in fis-Moll aufgelegt. Als Esterházy endlich eintrifft, ist er von der Freude über sein eigenes Kommen so erfüllt, dass er Haydn nicht hört, der doch gerade ihm persönlich gälte.

Dieser Haydn muss überhaupt ein völlig unauffälliger Mensch gewesen sein, stelle ich mir aufgrund der vorhandenen Berichte vor. Eine freie Seele. So selbstverständlich frei, dass mich, nachdem ich ihn in- und auswendig gelernt hatte, der Mensch an sich gar nicht mehr beschäftigte. Er war in seinem Werk abgetaucht. Niemand schien dahinter zu stehen oder daraus herauszuragen. Ich sah einen höheren Musik­beamten in Reispuder-Perücke, dessen Körper keinen Schatten wirft, der aber alles lehrreich zu lückenlosen Formen ordnet. Und jetzt kann ich darüber nachgrübeln, warum ich ihn nicht doch bemerkt habe. Warum er so höflich ist. Warum so unauffällig. Warum so mit dem Hintergrund verschwimmend.

Dieser Haydn war eine eingefleischte Landratte. Weit und breit kein Meer. An seinem Horizont höchstens ein schilf- und seggen­bewachsener, seichter, zum Versumpfen neigender See. Obendrein mit Salzwasser, aus geologischen Gründen. Seine dominanten Kationen sind Natrium und Magnesium, während unter den Anionen die Hydrogen­karbonate, Sulfate und Chloride vorherrschen. Sein pH-Wert übersteigt 8. Mangels Chemie­kenntnissen haben die Leute in der Umgebung davon noch heute keine Ahnung, aber sie nennen ihn doch Sodasee. In harten Wintern mähen sie auf seinem Eis das Schilf. Wäre das lächerlich seichte Wasser nicht verschmutzt von Algen und den schmierig glitschigen Strünken des im Wind hin und her schlagenden Schilfs, könnte man es zum Waschen benutzen. Im Sommer in der Abend­dämmerung ist sein Pesthauch mit Mücken­wolken schwanger. Warum der Fürst Esterházy seine prachtvolle Sommer­residenz ausgerechnet auf dieses gottverlassene Gelände stellte, verstand damals niemand. Auch heute versteht man es nicht. Es ist natürlich nicht die Angelegenheit der Diener­schar, ihren Herrn zu verstehen. Im Schilf fanden arme Wanders­burschen Zuflucht, und Diebe, Räuber, für den Scheiter­haufen reife Hexen, religiös Verfolgte, denn hier holte sie kein Pandur.

Ich hoffe, dass man beachtet hat, wie ich das Haupt­thema à la Haydn durchs System der Neben­themen und freien Assoziationen führe. Aus meinem narrativen Dschungel sehen wir erst wieder hinaus, wenn der erlösende Schluss­akkord erklingt.

Von hier kommend muss es diesem armen jungen Mann nicht leichtgefallen sein, sich einen Meeres­sturm vorzustellen, als er in Wien sein erstes dramatisches Werk komponierte. Er hatte kein Muster. Wie sind wohl die sich aus Wellen­tälern erhebenden, zum Himmel stürmenden, dröhnenden, donnernden, schäumend und schwer in sich zusammen­fallenden Wellen­berge. Wer weiss. Wenn schon Element, dann für ihn eher die Erde, ihre Dichte, ihr Ernst, ihr Gewicht, oder das leise flackernde, vielleicht unerwartet hochschlagende und unbemerkt verlöschende Feuer. Kein Drama. Keine Vulkan­ausbrüche. Nach Jesu letzten Worten zerreisst auch der Vorhang im Tempel bei ihm sehr massvoll. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, dass dieser wackere Mann, der wohl mehr arbeitete als sonst jemand auf dem Kontinent, als Untertan ohne Freiheiten geboren war und dass das Untertanentum sein ganzes Leben lang treu neben seiner freien Seele herlief. Wenn auch nicht als Untertan der Esterházys geboren, sondern als der eines viel geringeren Magnaten, des Grafen Harrach, in einer todlangweiligen Ecke Europas, wo sogar der blaue Himmel Mühe hat, blau zu sein. Hier wird das Blau hundertmal in Soda gewaschen. Schon sein Vater, seine Mutter, seine beiden Grossväter, seine beiden Grossmütter lebten unter diesem ausgelaugten Burgen­länder Blau. Es gab zwar Orte in der Monarchie, sagen wir in den Tiroler Bergen oder im Vorarlberg, wo der blaue Himmel tatsächlich blau und es den Bauern gelungen war, ein paar Freiheits­rechte zu erkämpfen, wie es verantwortungslose Historiker nennen. Als wäre die Freiheit eine Teilmenge des Rechts, nach kaiserlicher Laune aufteilbar, einschränkbar, zusammen­setzbar, besteuerbar.

Es wäre ja nicht schlecht gewesen, sich von den Fürsten Esterházy zu befreien. Aber das konnte er nicht riskieren. Er musste mitsamt den Esterházys frei sein, das war sein gesetzlich vorgegebenes Los. Kaiserin Maria Theresia lockerte nichts. Die Gebräuche liessen allerdings einige Lockerheiten zu. Fürst Miklós tat jedenfalls alles dafür, dass der Untertan des Grafen Harrach bei ihm blieb, an diesem prächtig eingerichteten verpesteten Ort. Diese beiden, der Fürst und sein Untertan, hatten sich, aller Usanz zum Trotz, gefunden. Das müssen wir den Esterházys doch zugutehalten. Einen solchen Herrn, einen solchen Kapell­meister konnte der eine wie der andere nicht finden. Einmal vor langer Zeit, an einer ich weiss nicht mehr wann wo veranstalteten todlangweiligen Konferenz, wo wir vor zahlreichem Publikum um einen riesigen runden Tisch sassen und diskutierten, während wir im Sumpf der Gemein­plätze fast erstickten, stand Péter Esterházy langsam und würdevoll auf und ging mit rhythmischen Schritten um den Tisch herum, bis er bei mir anlangte. Er konnte so nachdrücklich gehen, dass er nicht nur Distanzen abzuschreiten, sondern auch zu sagen schien, sehet her, ich bin auch Herr über die Schwerkraft. Mein Leben ist so grossartig, dass mir alles leichtfällt. Er führte vor, wie ein grosser Herr geht, wie er die Gravitation der Masse niederringt. Was für ein Ausnahme­mensch. Eine Demonstration, ganz eindeutig. Er beugte dazu ein bisschen den Oberkörper vor, schön steif. So signalisierte er seine gründliche Kenntnis der höfischen Etikette, uns, dem Plebs. Er war einmal ganz erstaunt zu hören, dass ich jeden Morgen laufen ging, obwohl mich niemand verfolgte. Laufen, wozu denn. Er lief nur, wenn vor ihm ein Ball war. Die Aufmerksamkeit und Demut, die er allen bezeigte, waren aber so christlich wie nur möglich, fast schon mönchisch. Schliesslich war er der Patron seiner Kirche, auf seinem Gut das Kirchen­oberhaupt, und so konnte er uns ohne jeglichen finanziellen Verlust mit seiner mitmenschlichen Liebe und humanen Aufmerksamkeit beschenken. Wandelt er gar auf dem Wasser, mochte sich der Uneingeweihte fragen, wenn er ihn daherschreiten sah. Das Wandeln auf dem Wasser musste er mit grossem Wellen­werfen zelebrieren. So blieb er über mir stehen, mitsamt diesem ganzen nicht Wenigen, mit dessen Menge er mich stets einnahm, bewusst und reflektiert, wie sie war. Er umfasste zart meine Schulter, beugte sich zu meinem Ohr herab und flüsterte, was für ein toller Graf er doch hätte sein können. Was für ein toller Graf ich doch hätte sein können. Noch heute verstehe ich nicht, warum er das sagte und was er damit wollte. Vielleicht probierte er bloss einen halbfertigen Satz an mir aus. Mir blieb nur zu erwägen, ob er auf seinem Latifundium wirklich zurecht­gekommen wäre, denn er konnte Hafer nicht von Vergiss­meinnicht unterscheiden. Oder ob er sich auf die Art tröstete. Da er doch kein grosser Fussball­spieler geworden war. Auch kein Mathematiker. Da man ja nicht gleichzeitig alles sein kann. Da doch der Mensch durch den Mangel so verletzbar ist. Aber er wartete keine Antwort ab, sondern verliess, etwas schneller, als er gekommen war, den Raum. Grosse Herren müssen nicht gross sein, sie sind gross. Ich habe ihn nie gefragt, was er mit dieser Graf­angelegenheit wollte. Vielleicht nur, dass ich sein Vertrauen wonnig empfing und empfand.

Ich öffne dir mein Innerstes, und da liebst du mich noch immer nicht genügend.

Aber du machst ja alles umgekehrt, Péter.

Ein ganzes Leben opferte er dem Bemühen, kein Graf zu sein, auch uns nicht als Graf zu erscheinen, sondern eher als Fussball­spieler oder auch als leicht daneben­geratener Mathematiker, wenn ihm schon kein Stück Grundbesitz plus Dienst­personal geblieben waren. Ein wackerer, disziplinierter Bürger sein, der noch in der zivilen Renitenz Mass zu halten versteht. Sich nur bürgerliche Unzufriedenheiten gestatten, die den anderen von Nutzen sein können. Der geborene Demokrat. Eine Darbietung, die sonst niemand, wirklich niemand gab.

Würdest du dich zum Grafen zurück­mausern, würdest du natürlich sofort die Wieder­herstellung der ius primae noctis verlangen.

Wegen seiner Widersprüche ist das Leben so schön.

Davon sprichst du nur deshalb nicht, weil die anderen nicht sehen sollen, dass du ja doch der Magnat geblieben bist. Denn wie immer wir es drehen und wenden und, ja, auch lesen, Esterházys Werke sind nicht bürgerliche Werke.

Allein geblieben, kann ich nicht mehr enträtseln, warum ihm das in den Sinn gekommen war und warum er es mir ins Ohr flüsterte. Klar, dass ich nicht fragte, unsereins stellt Magnaten keine Fragen. Er schrieb einmal in einer Laudatio, ich sei Bürger in einem Land, in dem es kein Bürgertum gibt, nie gegeben hat. So freuen wir uns aneinander. Der eine sieht den anderen von seinem Ort aus. Du bist Graf geblieben, auch wenn du kein Stück Grund­besitz hast. Und ich habe keine Gesellschafts­klasse und auch keine Aktien. Hätte er gewollt, hätte Haydn die Esterházys bestimmt loswerden können. Mozart oder Beethoven hätten von denen nicht so viel geschluckt. Unsere Flanke durchschossen, aber wir sind frei. Es ist ein charakteristischer Zug seines Wesens, ja, seiner Musik, dass er nicht so ist, nein. Er braucht bis zum Ende eine sichere Anstellung bei Hof. Er steht mit beiden Füssen auf dem Boden. Die Esterházys sollen ihn auch bezahlen, wenn er in London zu tun hat. Man hielt ihn für einen einfachen Mann. In der Kunst gibt es natürlich nichts Komplizierteres als die Einfachheit, und also steht sie an der Spitze der Hierarchie. Niemand holt sie da herunter fürs Volk, und keine Demokratie hebt es dahin hoch. Jeder muss sich selbst zur eigenen Einfachheit erheben, dort in sauerstoff­armer Luft arbeiten und leben, und dazu braucht es Mumm. Wenn kein Mumm da ist, dann ist eben keiner da. In der Monarchie braucht es Mumm dazu, in der Diktatur braucht es Mumm dazu, in der verfluchten Scheiss­demokratie braucht es Mumm dazu, denn für die Kunst ist die Meinung der Mehrheit wertlos. Einfachheit bekommst du nicht gratis. Etwas davon klauen, um einen Teil nach Hause zu bringen, geht auch nicht. Man sagte, er sei aufmerksam, warmherzig. Treue galt als seine Grund­eigenschaft. Seine Religiosität entstammte auch nicht der Welt, in die er als Untertan hineingeboren worden war. Er war ja alles andere als ein Heide. Verherrlichen wollen wir ihn trotzdem nicht, wäre auch nicht möglich. Er muss ein bisschen unbeholfen gewesen sein, dieser unser verehrter, gefeierter Komponist. Ein echter Tollpatsch, wie Esterházy mit Ottlik sagen würde. Er hatte daneben reichlich Selbstironie. Das imponierte Fürst Miklós. Dafür durfte ihn auch Haydn mal auf die Schippe nehmen. Denn auch er hatte Humor. Ja, die beiden hatten gegen alle Regeln und Gebräuche zueinander gefunden. So wie Péter und ich, bis er eines schönen Tages tot war.

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.

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