Strassberg

Wann wird Befreiung autoritär?

Die Geschichte zeigt, dass soziale Bewegungen und Revolutionen häufig selber totalitäre Tendenzen entwickeln. Wie umgehen mit dieser Enttäuschung?

Von Daniel Strassberg, 13.04.2021

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«Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.» Dieser fälschlicher­weise Winston Churchill zugeschriebene Ausspruch adelt das behagliche Sich-Einrichten in den eigenen Privilegien als Realismus, und er tut die Hoffnung auf eine bessere Welt als jugendlichen Übermut ab. Wer ausblende, dass «die Revolution ihre eigenen Kinder frisst», dass mit anderen Worten alle Revolutionen und alle sozialen Bewegungen scheitern müssen, sei hirnlos.

Diese Sätze sind unsäglich dumm, gerade weil sie ein Körnchen Wahrheit enthalten.

Es stimmt natürlich nicht, dass alle sozialen Bewegungen und Revolutionen gescheitert sind. Immerhin beseitigte die Französische Revolution die absolute Herrschaft des Königs, die das Land ausgeblutet hatte, und ebnete letztlich den Weg für die Demokratie. Trotz Robespierre und der Restauration der Bourbonen. Die Russische Revolution schuf die Leib­eigenschaft der Bäuerinnen ab, die auch das ius primae noctis einschloss, also das Recht des Grundherrn, bei der Heirat eines seiner Bauern die erste Nacht mit der Braut zu verbringen. Und ermöglichte im 20. Jahr­hundert, als Drohung im Hinter­grund, die ungeheuren Erfolge der Sozial­demokratie. Trotz Stalin und des Gulags. Und wegen der 1968er-Bewegung können heute die unter­schiedlichsten Lebens­entwürfe mehr oder weniger friedlich koexistieren. Trotz der RAF.

Nein, die seriellen Enttäuschungen, mit denen sich eine Linke auseinander­setzen muss, die gerade in die Ziel­gerade einzubiegen glaubt, rühren in der Regel nicht daher, dass das Ziel nicht erreicht wurde, sondern daher, dass die sozialen Bewegungen, zu denen sie sich einst bekannt hatte, im Laufe der Zeit einen fatalen Hang zu autoritären Strukturen entwickelten. Wer sich von Utopien nicht gänzlich verabschieden möchte und dennoch nicht, wie ein Aktiv­dienstler am Lager­feuer, die alten Zeiten abfeiern möchte, muss sich trotz der Gefahr, Applaus von der falschen Seite einzuheimsen, auch den Enttäuschungen stellen und die Bedingungen zu identifizieren versuchen, unter denen sich autoritäre Tendenzen innerhalb sozialer Bewegungen entwickeln. Allein schon um den Punkt nicht zu verpassen, an welchem sie sich in heutigen Bewegungen zeigen.

Was verstehe ich unter «autoritären Tendenzen»? Nun, die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, aber das Graffito, das in der Zeit nach 1968 gelegentlich auf Zürichs Mauern zu lesen war, bringt es auf den Punkt: Fighting for peace is like fucking for virginal purity. Autoritär oder gar totalitär werden Bewegungen, wenn ihre Praxis ihre Ziele pervertiert und ins pure Gegenteil verkehrt. Freiheits­bewegungen, die Unter­drückung praktizieren, Friedens­bewegungen, die Krieg führen, oder Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, die Ungerechtigkeit produzieren, sind an ihren eigenen Zielen gemessen gescheitert.

Robespierre beschwor nach der Französischen Revolution den Despotismus der Freiheit, Lenin die Diktatur des Proletariats. Diese begrifflichen Monstrositäten sollten das Verfehlen der Ziele zugleich verschleiern und rechtfertigen. Seit der Französischen Revolution sind die Argumente dafür dieselben geblieben. Bis in unsere Tage.

  1. Das Pendel­argument: Natürlich gibt es absurde Auswüchse, aber mit der Zeit wird es sich wieder einpendeln.

  2. Das Ressentiment-Argument: Jahrhunderte­lang wurden wir unter­drückt. Jetzt sind wir an der Reihe.

  3. Das Konsolidierungs­argument: Das Erreichte muss erst einmal gegen die Feinde der Revolution abgesichert werden.

Besonders das letzte Argument ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Es wurde bereits während der Russischen Revolution von den Kommunisten gegen die Anarchistinnen ins Feld geführt, die den revolutionären Kampf bereits nach jenen freiheitlichen Prinzipien führen wollten, deren Geltung sie als utopischen Endzustand anstrebten. Die Bolschewiken unter Lenin hingegen vertraten die Ansicht, dass eine straff hierarchisch organisierte Kader­partei den Übergang zum Kommunismus organisieren muss.

Natürlich führte Lenins Diktatur des Proletariats direkt in den stalinistischen Terror, aber es bleibt wohl dennoch richtig, dass man die Verwirklichung der Utopie nicht einfach beschliessen kann, wie das die Anarchistinnen wollten. Hautnah erlebte ich in den 1980er-Jahren, im Autonomen Jugend­zentrum Zürich (AJZ), wie mafiös organisierte Banden die Macht übernahmen, weil die Vollversammlung beschlossen hatte, den eigenen Zielen treu zu bleiben und niemanden wegzuweisen.

Bleibt also nur die Alternative zwischen dem Verrat an den eigenen Idealen und der Selbstauflösung?

Hannah Arendt, eine der wichtigsten Analytikerinnen totalitärer Strukturen, vergleicht in ihrem Buch «Über die Revolution» die Französische mit der Amerikanischen Revolution, um den Bedingungen auf die Spur zu kommen, die soziale Bewegungen in Autoritarismus, Totalitarismus und Gewalt abrutschen lassen. Die Analyse bleibt hilfreich, auch wenn Arendt – sei es aus Naivität oder aus politischem Kalkül – die Französische Revolution einseitig als gescheitert und die Amerikanische als gelungen darstellt und dabei sowohl die Errungenschaften der Jakobiner wie auch die Gewalt der amerikanischen Gründer­väter gegen Sklavinnen und Ureinwohner unterschlägt.

Dass Befreiung und Freiheit nicht dasselbe sind, dass Freiheit zwar ohne Befreitsein nicht möglich, aber niemals das selbst­verständliche Resultat der Befreiung ist, dass der Freiheits­begriff, der der Befreiung eigen ist, notwendiger­weise nur negativ ist, und dass also die Sehnsucht nach Befreiung keineswegs identisch ist mit dem Willen zur Freiheit – all das sind natürlich Binsen­wahrheiten. Und wenn solche Selbst­verständlichkeiten so leicht übersehen werden, so deshalb, weil es in der Geschichte viele Befreiungs­kämpfe gibt, über die wir sehr gut unterrichtet sind, und sehr wenig wirkliche Versuche, die Freiheit zu gründen, von denen wir zudem meist nur in Form von Legenden überhaupt etwas wissen.

Aus: Hannah Arendt, «Über die Revolution».

Arendt sieht den Haupt­grund für die totalitären und gewalt­tätigen Abwege von sozialen Bewegungen und Revolutionen in der Verwechslung von Befreiung und Freiheit.

Befreiung ist ein historischer Akt, der politische Institutionen umkrempelt oder neu erschafft. Sie kann die Monarchie beenden, die Loslösung von Kolonial­mächten in die Wege leiten, Sklaverei abschaffen oder der Ungleich­behandlung aufgrund von Rasse, Religion oder Geschlecht ein Ende setzen. Es spielt keine Rolle, ob dieser Akt gewaltsam oder friedlich erfolgt, wichtig ist allein, ob es gelingt, die Bedingungen einer Gesellschaft zu verändern und neue Gesetze, Institutionen, Behörden, verbindliche Kodizes etc. zu etablieren.

AHV, obligatorische Kranken­versicherung, Arbeitslosen­versicherung, Gleich­stellungs­artikel, Anti­rassismus-Strafnorm sind im Sinne Arendts Akte der Befreiung, weil sie einer immer grösseren Zahl von Menschen ermöglichen, ohne Angst zu leben. Dass wir vieles davon letztlich der Russischen Revolution verdanken, geht oft vergessen: Das 3-Säulen-Modell der Vorsorge zum Beispiel wurde in der schweizerischen Verfassung verankert, um die Volks­pension der PdA zu verhindern.

Auch Freiheit ist ein gesellschaftlicher Zustand, aber er gründet nicht in bestimmten gesellschaftlichen Institutionen, sondern im Geistes- und Gemüts­zustand der einzelnen Menschen. Wer für die Freiheit kämpft, kämpft für eine grosse Idee – und für den Neuen Menschen.

Soziale Bewegungen, die «nur» für neue Gesetze eintreten, sich also mit Befreiung begnügen, geraten nie in Gefahr, totalitär abzurutschen. Offenbar vertrauen sie darauf, dass veränderte soziale Bedingungen auf die Dauer auch die Menschen verändern, die unter ihnen leben. Für jene aber, die Freiheit und Befreiung verwechseln und einen bestimmten Geistes­zustand erkämpfen wollen, ist die Gefahr der autoritären Entgleisung gross.

Die grossen Ziele Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden benötigen nämlich im Gegensatz zu den kleinen Zielen Befreiung, Fairness, Gewalt­verzicht den Neuen Menschen. Also beginnt man, sobald die kleinen Ziele erreicht oder teilweise erreicht sind, den Alten Menschen für die ideale Gesellschaft fit zu kriegen und ihn zur Freiheit zu erziehen. Notfalls mit Gewalt.

Die Mittel, die revolutionäre Bewegungen in der post­revolutionären Phase einsetzten, um vom Akt der Befreiung in den Zustand der Freiheit über­zugehen, sind überall und immer verblüffend ähnlich. Grosse Revolutionen und kleine soziale Bewegungen unterscheiden sich zwar im Mass der ausgeübten Gewalt, nicht aber in der Wahl der Mittel.

Sechs solcher Mittel können als mögliche Anzeichen für autoritäre Entwicklungen gedeutet werden:

  1. Interne Differenzierung: Ehemalige Mitstreiterinnen werden ausgeschlossen, weil sie das grosse Ziel zu radikal oder zu wenig radikal verfolgen (Realos und Fundis). Es entstehen unzählige Splitter­gruppen.

  2. Aufspaltung in diejenigen, die das Ziel schon erreicht haben, und diejenigen, die noch erzogen werden müssen.

  3. Identitäre Aufladung: Die Gesinnung reicht für die Zugehörigkeit zur Bewegung mit einem Mal nicht mehr aus. Es werden zusätzliche Merkmale verlangt (Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, Lebensstil).

  4. Sprach­regelungen: Der Neue Mensch braucht eine neue Sprache. Erziehung beginnt immer mit Sprachregelungen.

  5. Unterwerfungs­rituale: Die Bewegten müssen sich durch Sprache, Kleidung und Lebens­stil öffentlich zum grossen Ziel bekennen.

  6. Die Trennung von Mittel und Zweck: Aus taktischen Gründen werden Positionen vertreten, die im Grunde dem grossen Ziel widersprechen.

Hannah Arendt beschreibt die Mechanismen der autoritären Entgleisung recht genau, aber sie bietet keine Erklärung an, wie es überhaupt zu diesen Fehl­entwicklungen kommen kann. Hier könnte die deutsche Autorin Bini Adamczak mit ihrem Buch «Beziehungs­weise Revolution» in die Bresche springen.

Ihr Ansatz: Der Grund für die traurige Tatsache, dass Revolutionen und soziale Bewegungen häufig die falsche Abzweigung nehmen, heisst PRD, post­revolutionäre Depression. Der Kampf für die gute Sache euphorisiert, er schweisst die Menschen zusammen und vermittelt ihnen das Gefühl, an der Welt­geschichte teilzunehmen. Doch ist das Ziel erst erreicht, schlägt die Euphorie schnell in Depression um, in ein Leiden am Gewöhnlichen, in ein Gefühl, das Entscheidende verpasst oder bereits hinter sich zu haben. Die depressive Wut wendet sich dann gegen die Bewegung selbst: Ihr habt uns intensive Gefühle versprochen, und nun das! Das kann es doch nicht gewesen sein!

Um an der Macht zu bleiben, müssen die Revolutionäre dann unter allen Umständen die Bewegung und ihre intensiven Gefühle aufrecht­zuerhalten versuchen. Und greifen häufig zu den eben beschriebenen Mitteln.

Illustration: Alex Solman

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