Binswanger

Gefährliches Wettrennen

Die Zahl der täglich verabreichten Impfungen gegen Covid steigt an – und ebenso die Fallzahlen. Ein Dilemma, das ins Desaster führen kann.

Von Daniel Binswanger, 03.04.2021

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Inzwischen sind wir alle – ob versiert oder nicht – zu Teilzeit-Epidemiologen geworden. Eigentlich würden wir uns über die Festtage gerne mal wieder mit anderen Dingen beschäftigen, zum Beispiel mit bemalten Eiern. Oder wieder mal ein richtig gutes Buch lesen, vielleicht ja einen Klassiker. Hier nun aber macht uns die Welt­literatur einen dicken Strich durch die Rechnung. Verblüfft musste ich nämlich die Fest­stellung machen: Selbst Goethe ist ein Covid-Experte.

Im wohl unverwüstlichsten Evergreen der deutschen Dichtung, dem Oster­spazier­gang des «Faust», heisst es zwar alle Jahre passend zitierbar: «Im Tale grünet Hoffnungs­glück.» Doch erst dieses Jahr wird offensichtlich, dass Goethe in seinem berühmten Monolog die epidemiologische Lage erfasst:

Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn.

Ostern: das Fest des bunten Gewimmels, die Feier der Erlösung in Form des Sonnen­badens. Doch den intimen Nexus zwischen Freiluft­aktivität und Heils­erwartung erfasst Goethe auch bereits in all seinen fatalen Folgen:

Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel.
Hier ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

Das Volk will sich tummeln, sei es auf Berg­wanderungen (Graubünden), auf Schiffs­fahrten (Tessin), im himmlischen Bad in der Menge (Basler Rheinufer, Zürcher Letten). Hierin erblickt es sein Heils­versprechen, sein Menschen­recht. Besser hätte man das epidemiologische Dilemma der heutigen Fest­tage gar nicht auf den Begriff bringen können. Oder wie es der Schweizer Gesundheits­minister etwas weniger poetisch, aber doch mit demselben Respekt vor österlichen Gepflogenheiten und mit fast eben­solchem Pathos formuliert: «Wir alle haben wirklich Lust, uns sonnen zu können, rauszu­gehen. Wir alle haben Lust darauf, Sie, ich, jeder in diesem Saal und auch ausserhalb dieses Saals. Das ist normal, das ist selbst­verständlich. Also werde ich mich hüten, zu sagen, nein, geht nicht raus.»

Allerdings machte Alain Berset gegenüber dem Hier-darf-ich-Mensch-Sein des humanistischen Erlösungs­gedankens dann doch eine nicht unwichtige Einschränkung: «In dieser Situation lanciere ich einen Appell an die Personen, die besonders vulnerabel sind oder ein Gesundheits­problem haben: Seien Sie ganz besonders vorsichtig!» Was eigentlich nur heissen kann: Sie sollten bitte drinnen bleiben! Sie gehören nicht zu «uns allen».

Bisher hat die Schweizer Covid-Strategie explizit nicht darauf beruht, einerseits die Risiko­gruppen zu schützen und andererseits der Durch­seuchung freien Lauf zu lassen. Bis dato wurde ein solches Vorgehen als epidemiologisch fahrlässig zurück­gewiesen, jedenfalls von offizieller Regierungs­seite. Ein paar irrlichternde Schweden­fans haben uns zwar immer mal wieder mit Durch­seuchungs­fantasien traktiert, sind inzwischen aber auffällig still geworden. In der heutigen Situation jedoch, in der alle Bemühungen auf eine Durch­impfung ausgerichtet werden, das Ziel eines hinreichenden Schutzes der Bevölkerung aber bei weitem noch nicht erreicht ist, dürfte die Versuchung stark gestiegen sein, Teile der Bevölkerung ganz einfach der Ansteckung auszusetzen. Das machte auch Bersets Aussage klar, es sei das Ziel der Impfung, «die Hospitalisierungen von den steigenden Fallzahlen zu entkoppeln». Besteht überhaupt der Wille, die dritte Welle zu brechen? Oder soll lediglich dafür gesorgt werden, dass die schweren Fälle und die Todes­zahlen nicht allzu schnell nach oben gehen?

Trotz bereits sinkender Sterblichkeit in den ältesten Bevölkerungs­gruppen erscheint der Wettlauf zwischen forcierter Impfung und toleriertem Fall­zahlen­anstieg aus mehreren Gründen problematisch.

Erstens ist das Risiko gegeben, dass dieses Rennen trotz beschleunigtem Impfen schon bald aus dem Ruder läuft. In Frankreich und in Österreich drehen die Spitäler wieder im roten Bereich. Dort ist zwar auch die Inzidenz deutlich höher und die Durch­impfung etwas weniger weit fortgeschritten als bei uns, sollte aber die Reproduktions­zahl in der Schweiz in den nächsten Tagen nicht signifikant sinken – in den letzten Wochen ist sie kontinuierlich gestiegen –, werden wir bereits in drei Wochen Fallzahlen haben, die mit denen Frankreichs von heute vergleichbar sind.

Zugutehalten muss man dem Bundesrat, dass er sich mit seiner Strategie auf die differenzierte Auslege­ordnung des «Wissenschaftlichen Updates» der Taskforce vom 24. März zu stützen scheint. Das heisst: Er lockerte am 22. März nur minimal, widersteht bis anhin dem Druck, weitere Lockerungs­schritte einzuleiten, und beschleunigt mit allen Mitteln das Impfprogramm. Gemäss der Modellierung der Taskforce müssten auf dieser Basis die Hospitalisierungen und Todes­fälle niedrig bleiben. Es stellt sich allerdings schon heute die Frage, wie plausibel diese Szenarien sind: Bisher sind 6,2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, und bis das «israelische Wunder» sich auch bei uns bemerkbar machen wird und die Fallzahlen zu sinken beginnen, wird es noch etliche Wochen dauern. Auch wenn wir das Impf­tempo nach Ostern massiv erhöhen können, ist nicht ganz einsichtig, weshalb die Schweiz gegenüber ihren Nachbar­ländern eine wundersame Ausnahme bleiben soll.

Werden auch wir dann die Schulen schliessen und Ausgangs­sperren verhängen? Oder werden wir weiter «liberal» bleiben und erneut sehr viele Todes­opfer in Kauf nehmen? Ein erster Test wird voraussichtlich schon nächste Woche kommen, wenn die 14-Tages-Inzidenz 350 Fälle erreicht haben dürfte und der Bundesrat gemäss seinem eigenen Stufenplan wieder über Verschärfungen nachdenken muss. Voraussichtlich wird dann bei der Intensiv­betten­belegung immer noch etwas mehr Luft nach oben bestehen – und es wäre gut vorstellbar, dass man das zum Anlass nimmt, weiterhin den Dingen ihren Lauf zu lassen.

In der zweiten Welle haben irgendwann die Spital­direktoren auf den Tisch gehauen und unzwei­deutig klargemacht, dass sie an der Grenze ihrer Kapazitäten sind. Diesmal sollten sie den Protest einlegen, bevor es wieder so weit ist.

Eine zweite Unwägbarkeit ist Long Covid. Natürlich gibt es viele offene Fragen und ist es immer noch schwierig, gesicherte Aussagen über das Phänomen zu machen. Sollten sich jedoch die Ergebnisse einer ersten seriösen Studie der Universität Zürich bestätigen und tatsächlich 2 bis 3 Prozent der Covid-Fälle an schweren gesund­heitlichen Beeinträch­tigungen und ein Viertel längerfristig an Erschöpfungs­zuständen, Kurzatmigkeit und Depressionen leiden, dann hätte eine dritte Welle mit täglich mehreren tausend diagnostizierten Ansteckungen ganz unabhängig von den schweren Akutverläufen gravierende Konsequenzen. Wird Long Covid überhaupt mit aufgenommen in die strategische Abwägung? Gibt es wenigstens eine plausible Folgekosten­kalkulation? Die Rede von der «Entkopplung» erzeugt nicht diesen Eindruck.

Immerhin einen Trumpf hat der Bundesrat noch, und er scheint tatsächlich gewillt, ihn endlich auch zu spielen: die Massentests. Es ist absurd, dass erst jetzt, nach über dreimonatiger Verzögerung und nachdem man den Kanton Graubünden zum Pilotversuch in Endlos­schleife werden liess, die Massen­tests tatsächlich schweizweit kommen sollen. Im Kanton Zürich sind sie seit letztem Montag theoretisch möglich. Wie viele Wochen es wohl noch dauern wird, bis sie an Schulen tatsächlich stattfinden? Konsequente Massentests – wenn sie denn nun umgesetzt werden – verlangsamen das Infektions­geschehen, das hat Graubünden gezeigt. Allerdings: Auch in Graubünden liegt die Reproduktions­zahl über 1. Das Testen kann einen wichtigen Beitrag leisten. Die Welle brechen wird es nicht.

Sicher ist nur, dass wir auf extrem riskante Wochen zugehen, dass wir höchste Vorsicht walten lassen müssen und dass es noch einmal tragisch schiefgehen kann. Oder wie sagte es doch Goethe in seiner «Italienischen Reise»: «Die Natur hat immer recht, und gerade da am gründlichsten, wo wir sie am wenigsten begreifen.»

Illustration: Alex Solman

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