Ohne Zeitmessung geht es nicht in La Chaux-de-Fonds: Sonnenuhr an der Rue du Locle im Südwesten der Stadt.

Das Paradox La Chaux-de-Fonds

Ein hochdynamischer Wirtschafts­standort und zugleich einer der ärmsten Orte der Schweiz – wie geht das zusammen? Besuch in einer Stadt zwischen Hoffnung und Krise.

Eine Reportage von Joel Bedetti (Text) und Andri Pol (Bilder), 25.03.2021

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1000 Meter über dem Meer, auf einem Jura­plateau zwischen Schweiz und Frankreich, liegt eine Stadt, die es gar nicht geben dürfte. Und doch – allen Widerständen zum Trotz – existiert sie: La Chaux-de-Fonds, 37’500 Einwohner, die fünftgrösste Stadt der Romandie.

Im Februar flimmerte sie prominent über die Deutsch­schweizer Bild­schirme. In der neuen Staffel der SRF-Erfolgsserie «Wilder» jagte das Ermittler­duo Rosa Wilder und Manfred Kägi Verdächtige durch La Chaux-de-Fonds, um die Morde an Polizisten aufzuklären. Die düstere Geschichte wird mit imposanten Bildern erzählt – Luftaufnahmen der Strassen im Schachbrett­muster, die französisch anmutende Avenue Léopold-Robert und die klotzigen Gebäude brennen sich in die Köpfe der Zuschauerinnen.

«Wilder» hat auch den diesjährigen Stadt­präsidenten von La Chaux-de-Fonds begeistert. «Die Serie zeigt unsere Stadt, wie sie ist: rau und urban, mit einer unverwechselbaren industriellen Ästhetik», sagt der Sozial­demokrat Théo Huguenin-Élie am Telefon. «Sie zeigt eine Stadt mit enormem Potenzial.»

Obwohl die Temperaturen in La Chaux-de-Fonds im Winter meist um den Gefrier­punkt liegen, ist Huguenin-Élie überzeugt: Die Stadt lässt niemanden kalt. Ihn selbst am allerwenigsten.

Kaum kommt die Sprache auf einen anderen TV-Auftritt von La Chaux-de-Fonds, einen Beitrag des welschen RTS mit dem Titel «Pourquoi la Chaux-de-Fonds se vide» (warum La Chaux-de-Fonds sich leert), gerät Huguenin-Élie in Rage. Minutenlang regt er sich über den Reporter auf, der vor zwei Jahren eine verlassene, windgepeitschte Stadt mit halb leeren Bars filmte. «Hätten sie eine Strasse weiter aufgenommen, wären die Bars voll gewesen», schimpft er.

Huguenin-Élie, in «La Tchaux» geboren, wie die Einheimischen La Chaux-de-Fonds nennen, verteidigt den angeschlagenen Ruf seiner Heimatstadt mit Zähnen und Klauen. 2012 gab der Vater von drei Töchtern seinen Posten als Französisch- und Geschichts­lehrer in einem jurassischen Gymnasium auf, um in den fünfköpfigen Stadtrat einzutreten. Seither präsentiert er La Chaux-de-Fonds als Verantwortlicher für Stadtplanung mit ansteckendem Optimismus und jugendlichem Lächeln unter der Kastenbrille.

Doch dass die Reportage aus dem welschen Fernsehen auch eine Wahrheit über La Chaux-de-Fonds erzählt, bestreitet der Stadtpräsident nicht. Die Stadt schrumpft, Jahr für Jahr ziehen einige hundert Menschen weg. 2019 musste La Chaux-de-Fonds den Rang als drittgrösste Stadt der Romandie an das prosperierende Fribourg abgeben.

In La Chaux-de-Fonds liegen Hoffnung und Krise immer dicht beieinander – es ist ein Ort, der es aushalten muss, mit einem Paradox leben zu müssen.

Denn einerseits ist La Chaux-de-Fonds ein hochdynamischer Wirtschafts­standort; Dutzende Uhren­fabriken besiedeln die Gewerbe­zonen am Stadtrand. TAG Heuer produziert hier genauso wie Breitling, Cartier, Patek Philippe sowie die Swatch-Töchter Tissot und Jaquet Droz. Vom Flugplatz Les Éplatures, dem höchstgelegenen internationalen Flugplatz Europas, fliegen die Manager direkt zu Besprechungen in die Hauptstädte Europas.

Die Uhrenunternehmen am Rand von La Chaux-de-Fonds …
… bringen regen Verkehr am Flughafen Les Éplatures.

Zugleich weist La Chaux-de-Fonds eine der höchsten Arbeitslosen­quoten der Schweiz auf: 6,1 Prozent waren es in diesem Januar – der nationale Schnitt lag bei 3,7 Prozent. Die Sozialhilfe­quote ist mit 11 Prozent fast viermal grösser als der Schweizer Durchschnitt. Und das Budget weist Jahr für Jahr Defizite aus. Für 2021 rechnet die Stadt mit einem Minus von 20 Millionen Franken.

Wie kann es sein, dass ein Ort so viel Reichtum produziert – und trotzdem so tief im Sumpf steckt?

Es lässt sich am besten erklären, wenn man am Anfang beginnt. Mit dem Unglück, welches das Experiment La Chaux-de-Fonds überhaupt erst ermöglichte.

Vom Bauernstädtchen zur Uhrenfabrik

Bis in die frühe Neuzeit war La Chaux-de-Fonds das, was angesichts seiner isolierten Lage im Niemandsland zwischen der Schweiz und Frankreich, fernab von grossen Gewässern und Haupt­verkehrs­achsen, nicht weiter erstaunlich war: ein Bauernstädtchen.

Kühe grasten auf den Juraweiden; einziges nennenswertes Gewerbe war die Spitzen­klöppelei. Im 17. Jahr­hundert hielt jedoch, von Genf und vom Nachbarort Le Locle kommend, die Uhrmacherei im Städtchen Einzug.

Viele der Uhrmacher waren Hugenotten – Protestanten, die vor der blutigen Gegenreformation der französischen Könige nach Genf oder ins Juragebirge geflohen waren. Den Bauern ermöglichte das neue Handwerk einen willkommeneren Nebenverdienst in den langen Wintern: In ihren Stuben setzten sie Uhrwerke zusammen.

Bald wurden die Zeitmesser vom Juraplateau in ganz Europa verkauft. Doch dass sich La Chaux-de-Fonds vom Uhrmacher­städtchen in eine einzige, riesige Uhren­manufaktur verwandelte, wie sie Karl Marx 1867 in «Das Kapital» beschrieb, wäre kaum möglich gewesen ohne die Katastrophe, die in der Nacht auf den 5. Mai 1794 über sie hereinbrach.

Eine Feuersbrunst zerstörte drei Viertel der Stadt, darunter den mittel­alterlichen Kern, von dem heute keine Spur mehr erhalten ist.

Das war der Zufall, der das Experiment La Chaux-de-Fonds in Gang setzte. Denn so tragisch der Brand war, so perfekt war sein Timing.

Gerade brach die Moderne an – auch in der Stadt­planung. Das neue La Chaux-de-Fonds wurde auf dem Reissbrett entworfen. Gerade Strassen im Schachbrett­muster sorgten für kürzere Transport­wege – und dafür, dass das wertvolle Tageslicht gleichmässig in die Uhren­ateliers fiel.

Dank dieser industriell gesteuerten Stadtplanung verdiente La Chaux-de-Fonds in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts so viel Geld wie kaum eine andere Uhrenstadt. Zwischen 1850 und 1917 stieg die Bevölkerung von etwas mehr als 12’000 auf über 40’000 Menschen. Nicht nur Arbeiterinnen, sondern auch Künstler liessen sich nieder – sie gestalteten die Uhren und die globalen Werbekampagnen.

Italiener wanderten ein, um Miets­kasernen für die Arbeiterinnen und Villen für die Uhrenpatrons zu bauen – darunter die extravagante Villa Turque, entworfen von einem aufstrebenden heimischen Architekten namens Charles-Édouard Jeanneret-Gris. Vermutlich ist es kein Zufall, dass in dieser Aufbruch­stimmung die drei bekanntesten Söhne der Stadt geboren wurden: Jeanneret-Gris, später weltberühmt unter dem Künstler­namen Le Corbusier. Louis Chevrolet, der spätere US-Autobauer, Sohn eines Uhrmachers. Und der Schriftsteller Blaise Cendrars.

Die klare Geometrie der Stadt lässt sich erahnen …
… mit ihren langen, schnurgeraden Strassen.

Nachdem La Chaux-de-Fonds – wie ganz Europa – durch den Ersten Weltkrieg, die Wirtschafts­krise und einen weiteren Weltkrieg getaucht war, begann im Wirtschafts­wunder der 1950er-Jahre die zweite Blüte der Uhren­stadt. Der weltweite Konsum explodierte, die Manufakturen lieferten ihre hochpräzisen Zeitmesser wieder in alle Welt. «Cricket», der Export­schlager der Firma Vulcain mit integriertem Wecker, wurde auch «Präsidenten­uhr» genannt: Truman, Eisenhower, Johnson und Nixon trugen sie am Handgelenk.

1970 zählte La Chaux-de-Fonds über 42’000 Einwohnerinnen – die Zukunft schien rosig.

Die Stadtplaner prognostizierten ein Wachstum auf 70’000 Einwohnerinnen. Sie bauten, was das Zeug hielt: einen Musiksaal mit solch exzellenter Akustik, dass noch heute Labels wie Sony und EMI hier aufnehmen; kleine Satelliten­siedlungen am Rand der Innenstadt; Stadien für den FC La Chaux-de-Fonds und den Hockey­club, der ab 1968 sechsmal in Folge Schweizer Meister wurde. Gesponsert wurden die Sportclubs und Kultur­vereine von den Uhren­patrons. Sie besuchten die Matchs und Vorführungen, sassen für den Freisinn im Stadt­parlament und debattierten dort mit den linken Vertretern der Uhrenarbeiterinnen.

1973 brach die Erfolgsserie des Eishockeyclubs ab.

Im Nachhinein lässt sich dies als Vorzeichen deuten für die zweite Katastrophe, die kurze Zeit später, fast zwei Jahrhunderte nach der Feuersbrunst, über die Uhrenstadt hereinbrach.

Ein Retter in der Not

Das Desaster trug einen Namen: Quarzuhr. Diese neuen Zeitmesser basierten auf Elektronik und konnten, anders als die mechanischen Uhren, von wenig qualifizierten Arbeitern in nur wenigen Schritten zusammen­gebaut werden. Obwohl die Quarzuhr in Europa entwickelt worden war, hatten Unternehmen in Japan deren günstige Fertigung perfektioniert – und überschwemmten den Weltmarkt.

Die Manufakturen in La Chaux-de-Fonds, bequem geworden vom eigenen Erfolg, hatten die Revolution verschlafen und zahlten einen horrenden Preis.

Die Reichen sollen für die Krise bezahlen …
… damit die Unterschiede wieder kleiner werden.

Fast im Wochentakt schlossen nun Uhren­fabriken ihre Pforten. Innert weniger Jahre gingen 2000 Arbeits­plätze verloren; Tausende Bewohnerinnen verliessen die Stadt. 1980 stiegen dann auch noch die einst übermächtigen Hockeyaner in die National­liga B ab. Ein trauriges Sinnbild für eine ganze Stadt, die im freien Fall schien.

La Chaux-de-Fonds drohte zu einem Mahnmal der Deindustrialisierung zu werden – zum nächsten Glasgow, der Schiffswerft des untergegangenen britischen Empire. Oder zur helvetischen Version von Detroit, der serbelnden Autometropole Amerikas. Städte, die sich in einem Abwärts­strudel aus Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität befanden.

Doch dieses Schicksal blieb La Chaux-de-Fonds erspart. Zu einem guten Teil dank eines Einwanderers, der praktisch im Alleingang die Schweizer Uhren­industrie rettete: Nicolas Hayek, gebürtiger Libanese und Zürcher Unternehmensberater.

Hayek lancierte eine Quarzuhr, die noch einfacher und günstiger zu produzieren war als jene der japanischen Konkurrenz, und verhalf der Swatch zum Durchbruch. Vor allem aber platzierte er mit geschicktem Marketing Edelmarken wie Tissot oder Omega am Weltmarkt. Die mechanische Uhr feierte ihre Wieder­auferstehung – als Luxusprodukt.

Im Windschatten von Hayek kamen auch angeschlagene Traditions­marken wieder auf die Beine. 1994 machte die Schweiz wieder 53 Prozent des weltweiten Umsatzes der Uhren­industrie – auch wenn sie anteilmässig weit weniger Uhren verkaufte als zuvor. Ein kleines Wunder.

La Chaux-de-Fonds war auf einmal wieder ein gefragter Produktions­standort. Das Netzwerk aus Zuliefer­betrieben und das Fachpersonal waren weitgehend intakt geblieben, auch wenn die meisten lokalen Manufakturen eingegangen waren.

Doch die Bewohnerinnen merkten schnell, dass sich etwas verändert hatte.

Die neuen Patrons wohnen nicht mehr in der Stadt. Swatch hatte seinen Hauptsitz in Biel, Breitling in Grenchen. Patek Philippe in Genf. TAG Heuer, Hublot und Zenith als Teil der französischen LVMH-Gruppe gar in Paris.

Die Kassen der Stadt blieben leer; die Spielregeln hatten sich geändert. Der Wert, den die Uhrenstadt produzierte, wurde nun andernorts versteuert.

La Chaux-de-Fonds teilte sich langsam, aber stetig in eine Stadt mit zwei Geschwindigkeiten. Während die Industrie – inzwischen nicht mehr in der Stadt, sondern in den Gewerbe­zonen angesiedelt – florierte, trat die Stadt auf der Stelle. Kein Wunder: La Chaux-de-Fonds musste seine Infrastruktur, die für 70’000 Menschen angelegt war, aus den bescheidenen Gehältern seiner weniger gewordenen Bewohner finanzieren.

Weil der Kitt, der die Uhren­industrie und die Stadt zusammen­gehalten hatte, bröckelte, versiegte auch das Sponsoring im Kultur- und Sportbereich.

Der Abstieg der Stadt ging einher mit dem Abstieg der Sportvereine.

Claude-André Moser, Arzt und FDP-Gemeinde­rat in La Chaux-de-Fonds, erzählt eine vielsagende Anekdote. Vor einigen Jahren musste das Fussball­stadion seine Stadion­uhr ersetzen. Der Uhren­hersteller Longines zahlte dafür, wollte aber sein Logo nicht darunter platziert haben. «Internationale Firmen haben Angst, sich lokal zu fest zu verwurzeln», sagt Moser. «Wenn sie also überhaupt etwas unterstützen, tun sie dies lieber anonym.»

Die industrielle Monokultur, der La Chaux-de-Fonds seinen Aufstieg verdankte, wandte sich nun gegen die Stadt. Sie hat nie eine ökonomische Alternative zugelassen – die Stadt ist der Uhren­industrie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. «La Chaux-de-Fonds zieht seine Dynamik aus der Industrie», sagt Claude Jeanrenaud, emeritierter Wirtschafts­professor der Uni Neuenburg. «Der Dienstleistungs­sektor ist schwach.»

Selbst die einzigartige Stadt­planung arbeitet inzwischen gegen La Chaux-de-Fonds. Weil es in der dichten Bebauung kaum Platz für Einfamilien­häuser gibt, ziehen Gutverdienende in benachbarte Gemeinden. Oder gleich in andere Kantone, in denen die Steuern bis zu einer Steuer­reform 2020 weniger hoch waren als in Neuenburg.

«Auf den Parkfeldern vor den Uhren­fabriken sehen Sie heute viele Auto­schilder von Bern oder der Waadt», sagt Ökonom Jeanrenaud. «Selbst Kader­leute der Stadt­verwaltung pendeln von ausserhalb zur Arbeit», ergänzt FDP-Lokal­politiker Moser.

Zurück in La Chaux-de-Fonds bleiben: Arbeiterinnen mit kleinen Salären; Arbeitslose, die nach der Krise nicht mehr in den Arbeits­markt zurück­gefunden haben; Sozialhilfe­bezüger, die in der Stadt Anonymität und billige Wohnungen finden. Und das Gefühl, irgendwie abgehängt worden zu sein.

Ein Kanton in der Krise

La Chaux-de-Fonds ist der Brennpunkt eines ganzen Kantons, der sich seit der Uhrenkrise der 1970er-Jahre nie mehr richtig erholt hat. Industrieller Niedergang, sinkende Steuer­einnahmen, Wegzug von Gut­verdienenden – diese Probleme betreffen ganz Neuenburg. Die Einwohner­zahl sank dermassen, dass der Kanton auf die Wahl 2015 einen von seinen fünf Sitzen im Nationalrat verlor.

Der Kanton musste in den vergangenen Jahren den Rotstift ansetzen. Und zentralisierte die Dienst­leistungen im verkehrs­mässig besser erschlossenen Hauptort am See. Erst zog die Ingenieur­schule aus Le Locle, der zweiten Uhren­stadt des Kantons, in den Süden. Dann folgte die Musik­hochschule aus La Chaux-de-Fonds. Und 2012 stimmte eine knappe Mehrheit, vor allem aus dem südlichen Kantons­teil, gegen eine S-Bahn, die das geografisch isolierte La Chaux-de-Fonds besser an die Stadt Neuenburg angebunden hätte.

Industrie im Grünen: Uhrenfirma an der Lasergasse.

In La Chaux-de-Fonds kochte die Wut über. Als 2015 der Neuenburger Staatsrat Laurent Kurth, ebenfalls ein Einheimischer, den Einwohnerinnen im Musiksaal auch noch erklärte, dass sich der Kanton das Spital in La Chaux-de-Fonds nicht mehr leisten könne, wurde er ausgebuht.

Ein paar Heisssporne, besonders aus dem Umfeld der Arbeiter­partei «Parti Ouvrier et Populaire» forderten gar eine Sezession des nördlichen Kantons­teils – mit La Chaux-de-Fonds als Hauptort natürlich.

Neustart als Kulturmetropole?

Auf eines kann sich die streit­lustige Bevölkerung von La Chaux-de-Fonds einigen: Ihre Stadt wird unterschätzt.

Deshalb macht sich das Neuenburger Sorgen­kind nun auf, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Es will sich als Kultur­stadt neu erfinden. Ein lobens­werter Versuch, findet der emeritierte Wirtschafts­professor Claude Jeanrenaud: «Nicht weil Kultur oder Tourismus viel Geld bringen werden. Sondern weil es die Stadt attraktiver machen und Zuzüger anziehen könnte.»

La Chaux-de-Fonds hat zweifellos etwas zu bieten. Da wäre seine Vergangenheit – das unverwechselbare Stadtbild und das industrielle Erbe. Seit 2009 steht La Chaux-de-Fonds – zusammen mit seiner Schwester­stadt Le Locle – unter dem Schutz des Unesco-Welt­kultur­erbes. Doch die Uhren­stadt ist mehr als ein Museum.

In La Chaux-de-Fonds tobt sich eine der lebendigsten Kultur­szenen der Romandie aus. Die Stadt bietet alles, was Kreative brauchen: viel Freiraum, günstige Mieten – es gibt viele Drei-Zimmer-Altbau­wohnungen für 1000 Franken pro Monat. «Man findet hier leicht günstige Gewerbe­räume, die man sich mit anderen Künstlern teilen kann», weiss Julie Chapuis, Musikerin und Veranstalterin des örtlichen Festivals «Les Amplitudes».

Um das kreative Gewerbe zu fördern, hat die Stadt in den vergangenen Jahren das alte Schlacht­haus, erbaut in den goldenen Jahren Anfang des Jahrhunderts, zum Kultur­zentrum umgebaut. Heute finden dort Ausstellungen statt; ein zugewanderter Zürcher produziert mit «La Comète» ein neues Lokalbier. Ausserdem hat die Stadt eine Initiative lanciert, um La Chaux-de-Fonds 2025 zur Kultur­hauptstadt der Schweiz ausrufen zu lassen.

Hoffnungsträger: Aus dem Schlacht­haus wird ein Kultur­zentrum.

Die Gutverdienenden werden wohl kaum in Scharen auf das Jura­plateau zurück­kehren. Und auch das La-Chaux-de-Fonds-Paradox – florierende Industrie bei leeren Steuer­kassen – wird sich nicht so schnell auflösen.

«Wir rechnen dieses Jahr mit 3,5 Millionen Franken Steuern von Unternehmen», rechnet Théo Huguenin-Élie vor: «Für eine Stadt mit 37’000 Einwohnern!» Das Geld, meint der Stadt­präsident resigniert, würde gerade mal reichen, um den öffentlichen Verkehr sowie den Winter­dienst in den Gewerbe­zonen zu finanzieren.

La Chaux-de-Fonds muss sich mit einem Platz in der zweiten Reihe begnügen – genau wie sein Hockey­team, das sich seit 20 Jahren in der zweithöchsten Liga herumschlägt. Immerhin plant die Stadt den National-League-tauglichen Ausbau des Hockey­stadions, aber ob der Aufstieg in die höchste Spielklasse sportlich zu schaffen ist, bleibt mehr als fraglich.

2019 beauftragten La Chaux-de-Fonds und der Kanton die Wirtschafts­hochschule «Haute école de gestion Arc», in einer Studie die Chancen zu erörtern, die sich mit einer Kandidatur für die Schweizer Kultur­hauptstadt 2025 ergeben könnten. Der Bericht stellte fest, dass sich die Einwohnerinnen missverstanden fühlen: Das schlechte Image, mit dem ihre Stadt kämpft, unterscheidet sich deutlich von ihrem Selbstbild.

«Für den Rest des Landes sind wir eine Krisenstadt», sagt Lokal­politiker Moser. «Die Bewohner hingegen mögen es hier.» Und auch die Musikerin Julie Chapuis sagt: «Wer ein gemütliches Leben sucht und Raum, um sich zu entfalten, ist hier am richtigen Ort.»

Sogar die RTS-Reportage über die sich leerende Stadt, die dem Stadt­präsidenten die Zornes­röte ins Gesicht treibt, endet mit einer versöhnlichen Szene: Der HC La Chaux-de-Fonds kämpft in seinem Stadion um den Sieg, Théo Huguenin-Élie sitzt inmitten der Fans auf den Rängen und schenkt der Kamera sein Lächeln. «Immer, wenn La Chaux-de-Fonds wieder auf die Beine kam, ging es auch unserem Hockeyclub gut», sagt er. «Im Moment läuft es eigentlich nicht schlecht. Sicher nicht exzellent. Aber auch nicht schlecht.»

Hinweis: In einer früheren Version haben wir La Chaux-de-Fonds als «viert­grösste Stadt» der Romandie bezeichnet. Nach einer Gemeinde­fusion in Neuenburg zu Beginn dieses Jahres ist La Chaux-de-Fonds auf Rang 5 zurück­gefallen. Auch heissen die Einwohnerinnen nicht «Tschauds», sondern die Stadt wird «La Tchaux» genannt. Nicolas Hayek hat die Swatch nicht entwickelt, erfunden haben sie die Ingenieure Elmar Mock und Jacques Muller, der Name stammt von Franz Sprecher. Ergänzt haben wir den Artikel mit Hinweisen auf die Steuer­reform 2020 im Kanton Neuenburg und den geplanten Ausbau des Eishockey­stadions. Wir danken allen Verlegerinnen und Verlegern für ihre kritischen Anmerkungen.

Zum Autor

Joel Bedetti arbeitet als Produzent bei Ringier und schreibt als freier Journalist regelmässig über Themen aus Politik und Gesellschaft unter anderem für die «NZZ am Sonntag».

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